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Hermann Scheer: Die Politiker

Das Ansehen von Politikern ist in der öffentlichen Meinung nahezu auf den Nullpunkt gesunken. Parteienfilz, verlogene Versprechungen und Eigennutz mögen einiges dazu beigetragen haben, ebenso wie die auflagensteigernde Hatz der Boulevard-Medien, denen sich die Gescholtenen doch selbst so gerne andienen, wenn es ihre Wahlerfolge befördern soll. Doch so einfach ist die Schelte am politischen Personal repräsentativer Demokratien auch wieder nicht, jedenfalls, wenn man genau hinsieht. Hermann Scheer, SPD-Bundestagsabgeordneter und Träger des alternativen Nobelpreises, von Beruf Sozialwissenschaftler, hat sich und seine Mitstreiter und deren Arbeitsbedingungen einmal einer genaueren Analyse unterzogen. 'Die Politiker’ heißt schlicht sein Buch. Nicola Balkenhol hat es für uns gelesen:

Von Nicola Balkenhol |
    Seit dem Untergang ihres kommunistischen Widerparts 1990 ist die liberale politische Philosophie, was den demokratischen Verfassungsstaat angeht, politisch am Ziel. Eigentlich. Tatsächlich aber sind die real existierenden demokratischen Verfassungsstaaten nach Einschätzung von Hermann Scheer "einem Verfall näher als allgemein angenommen wird".

    Eine Erscheinungsform dieses Niedergangs ist für den Sozialwissenschaftler und SPD-Bundestagsabgeordneten das "Politiker-Bashing", das Eindreschen auf Politiker. Bespiele finden sich täglich in den Medien. Wie kommen die Politiker bloß zu ihrem verheerend schlechten Ansehen, fragt sich der Autor und macht sich auf die Suche nach den Gründen.

    Im Inneren des Staates konstatiert Scheer einen Zerfall demokratischer Strukturen und Institutionen: Die Parteien vermittelten nicht mehr in ausreichendem Maße gesellschaftliche Interessen in staatliche Institutionen oder politische Herrschaft zurück in die Gesellschaft. Innerparteiliche Demokratie existiere oft nur pro forma. Die parlamentarische Arbeit sei gekennzeichnet durch Spezialisierung und Hierarchisierung, der Fraktionszwang erhebe den Konsens zum Politikziel, und das alles gehe auf Kosten von Inhalten.

    Einen wichtigen Grund für diesen Mangel an Demokratie im Inneren macht Scheer in der internationalen Politik aus: Der Funktionsverlust vor allem des Parlaments gehe in der Konsequenz auf den Zerfall der Sowjetunion zurück, genauer auf den Eindruck, der Kapitalismus und mit ihm die Politik der Stärke hätten den ideologischen Wettstreit mit dem Kommunismus gewonnen. In der Folge dieser Wahrnehmung konnte sich durchsetzen, was Scheer mit dem Stichwort "Washington-Konsens" beschreibt, nämlich die Vorstellung, dass es zum Kapitalismus keine Alternative gebe und dem Markt weltweit eine unbedingte Vorrangstellung gebühre. Den politischen Institutionen kommt nach diesem Verständnis nur noch die Funktion zu, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Niederschlag finde das Prinzip der Vormachtstellung des freien Marktes in internationalen Verträgen wie der Welthandelsordnung oder dem Maastricht-Abkommen. Scheer argumentiert, sobald Deutschland solchen Verträgen beitrete, erhalte die neoliberale Doktrin durch die Hintertür Einlass in bundesdeutsches Recht - ohne das darüber eine öffentliche Diskussion stattgefunden hätte.

    Übrigens wirft Scheer seiner SPD ebenso wie den Grünen vor zu ignorieren, wie sehr diese Entwicklung ihren eigenen politischen Grundsätzen widerspreche. Auf nationaler Ebene wehrten sie sich vehement gegen die Forderung, die wirtschaftliche Liberalisierung zum Hauptgrundsatz der Verfassung zu machen. Auf internationaler Ebene stimmten sie dann aber Verträgen zu, die diesem Prinzip zuhause hinterrücks Geltung verschaffe.

    Zurück zu den Politikern. Sie werden in Haftung genommen für Entscheidungen, die sie kaum beeinflussen können. WTO- oder EU-Beamte arbeiten Verträge aus, die Minister auf Gipfeltreffen beschließen und die durch die nationalen Parlamente dann nur noch abgenickt werden. Sachzwänge beherrschen das Politikerleben, Gestaltungsspielräume sind kaum erkennbar.

    Halt! ruft da der Politiker Scheer, das kann es doch nicht sein! Politisches Handeln ist gefragt! Aber wie, mögen seine Kolleginnen und Kollegen fragen, allein gegen das System?! Scheers Antwort: die Politiker müssen sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen.

    Dazu müsse zunächst das Politische wieder belebt werden. Politisches Handeln müsse sich für gesellschaftliche relevante Lösungen einsetzen, die grundsätzlich umkehrbar sein sollten und im kontroversen Meinungsaustausch zustande gekommen seien. Führt Grundsatzdebatten, fordert er. Besinnt Euch auf die demokratischen Werte! Stoppt die unreflektierte neoliberale Ökonomisierung des Politischen! Mischt Euch ein! Überhaupt brauche die Demokratie wieder Ideale als Maßstab für Politik und Politiker.

    Konkreter: Politisches Handeln auf globaler Ebene sollte sich laut Scheer an einer ökologischen Wirtschaftsperspektive orientieren, die Steigerung der Staatsprodukti- vität als Gegenkonzept zur Privatisierung öffentlicher Ausgaben zum Ziel haben und neue Verteilungsformen anstreben. Übrigens dürfen internationale Verträge nach Scheers Überzeugung durchaus gebrochen werden, wenn sich so politischer Handlungsspielraum auf nationaler Ebene zurück gewinnen lässt. In diesem Sinne ist die Missachtung des Drei-Prozent-Defizit-Kriteriums durch die Euro-Länder Frankreich und Deutschland ein Wiedererlangen von Autonomie.

    Innerstaatlich plädiert Scheer für eine Reform des Föderalismus im Sinne einer klareren Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern mit dem Ziel der Stärkung von Länderparlamenten und Bundestag. Vor allem müsse die Gestaltungshoheit über die wirtschaftliche Strukturpolitik zurück gewonnen werden. In den Parteien könnte die Einführung der Direktwahl von Landes- und Bundesvorsitzenden sowie von Spitzenkandidaten belebend wirken.
    Und die Politiker? Wie gesagt, ihnen bleibt nur das Zerren am eigenen Schopf. Oder wie Scheer als Frage formuliert: "Wie haltet ihr das aus, untätig zu bleiben und die Politik anderen zu überlassen, von denen ihr den Eindruck habt, dass sie nicht das Notwendige und Richtige tun?"

    Angesichts der Schwärze seiner Analyse bleiben Scheers Ideen zur Bekämpfung des demokratischen Verfalls erstaunlich konturlos. Aber was soll er auch machen: als Oppositioneller im parlamentarischen System kann er nur auf die Kraft des besseren Arguments hoffen und an seiner Verbreitung arbeiten, damit Mehrheiten entstehen, denen die Wiederbelebung der Demokratie ebenfalls wichtig sind.

    Das Buch ist auch für Leser interessant, die sich nicht als Parteigänger Scheers verstehen. Es gewährt Einblicke in den praktizierten Parlamentarismus, in Lobby-Arbeit und Freundeskreise. Etwas Mühe macht es allerdings, den Aufbau des Buchs zu durchschauen. Da wird Verwirrung stiftend vor- und zurückgegriffen, die Kapitelfolge erschließt sich nicht restlos. Wenig lesefreundlich sind auch die immer wieder auftauchenden Schlangensätze mit Einschüben und geteilten Prädikaten. Da hätte das Lektorat ruhig mehr eingreifen können.

    Nicola Balkenhol besprach: Hermann Scheer: Die Politiker, erschienen im Verlag Antje Kunstmann. Es hat 285 Seiten und kostet 19.90 Euro.