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Heroisch und erotisch

Es ist fast so eine interessante Begegnung wie die eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch, ein russischer und ein amerikanischer Fotokünstler zu Gast im Berliner Walter-Gropius-Bau. Die Doppelausstellung zeigt Werke des Konstruktivisten Alexander Rodtschenko und des Surrealisten Man Ray.

Von Carsten Probst |
    Viel Neues gibt es derzeit nicht zu sehen im Berlin Martin-Gropius-Bau - sollte man meinen. Rodtschenko und Man Ray haben sich als Portalsfiguren der modernen Fotografie schon längst ins - wie man so sagt - kollektive Gedächtnis eingebrannt. Dem Martin-Gropius-Bau, sozusagen dem Operettenhaus innerhalb der heutigen Berliner Ausstellungshallen-Hackordnung, wiederum gefällt es schon seit Jahren, auf Volkshochschulniveau den Kanon der klassischen Fotografiegeschichte durchzudeklinieren, wie man ihn mittlerweile als festen Bestandteil jeder Ikeaküche und Badezimmerausstattung bewundern kann. Doch im Fall dieser Doppelausstellung von Alexander Rodtschenko und Man Ray gibt einige historische, aber auch künstlerische Details, die sie aus dem Einerlei heraushebt.

    Die erste Besonderheit liegt in der Geschichte des Hauses selbst begründet. Rodtschenko und Man Ray haben, noch bevor sie zu Weltruhm gelangten, bereits 1928 gemeinsam im gewaltigen Lichthof des Martin-Gropius-Baus, damals noch Kunstgewerbemuseum, ausgestellt, und zwar im Rahmen der großen Wanderausstellung "Film und Foto", die durch etliche Städte in Europa und schließlich bis nach Japan reiste.

    Begegnet sind sich die beiden persönlich wohl nie, doch es gibt einzelne lose biografische Verbindungslinien. Etwa die russische Abstammung Man Rays oder beider Freundschaft mit Wladimir Majakowski, dem sowjetischen Revolutionspoeten, die bei Rodtschenko freilich ausgeprägter gewesen sein dürfte als bei Man Ray.

    Die schiere Anzahl an Fotografien der beiden, die heute auf den Wänden der riesigen ersten Etage des Martin-Gropius-Baus ausgebreitet sind, ist schon erstaunlich. Rund 350 Arbeiten von Rodtschenko und noch einmal 300 von Man Ray, das ist eine Bilderflut, die man wachen Sinnes kaum bei einem Besuch vollständig aufnehmen kann. Die Rodtschenko-Ausstellung geht dabei auf die wissenschaftliche Sammlung des neuen Moscow House of Photography zurück und kann sich an Umfang durchaus mit der ersten großen Rodtschenko-Retrospektive im New Yorker MoMA vor zehn Jahren messen.

    Die Man Ray-Schau geht vollständig auf die Sammlung des Man Ray Trust zurück, der den Nachlass verwaltet und mit dieser Ausstellung erstmals einen umfassenden Einblick in die Sammlung ermöglicht. Trotz ihres Umfangs sind damit zwei durchaus unterhaltsame und eben doch entdeckungsreiche Ausstellungen gelungen, die natürlich vor allem immer wieder zum Vergleich zwischen den beiden Oeuvres herausfordern, der ja auch immer der Vergleich zwischen einer vermeintlichen Ost- und einer West-Moderne zu sein verspricht.

    Auf den ersten Blick sind die historischen Ähnlichkeiten sogar erstaunlich. Rodtschenko ist wie Man Ray ein grandioser Portraitfotograf. Beider Werke ziehen ihre Energie aus der gezielten Grenzüberschreitung des fotografischen Sujets hin zu dem, was man heute Foto-Design nennt: zur Collage, zu Typografie und Werbung. Beide arbeiten auf ihre Weise an einer Idee des kollektiven Bildes in der Fotografie, sei es wie Man Ray auf den Spuren des Unbewussten und der Zufallsmontagen, sei es wie Rodtschenko mit den "Urelementen" von Bildern der russischen Konstruktivisten.

    Beide erscheinen in ihrer Zeit als radikale Individualisten mit höchst unterschiedlichen Karriereverläufen: Rodtschenko erlitt das Schicksal aller großen Künstler der frühen Sowjetzeit unter Stalins Regime und musste von Glück reden, dass er überlebte. Aus dem revolutionären Elan der 10er und 20er Jahre wird in den 30er Jahren eine betont unpolitische Auftragsfotografie im Dienst des Sozialistischen Realismus. Es sind immer noch großartige Bilder: Landschaften, und Landleben, Portraits, Industriearbeit oder die Dokumentation eines Kanalbaus - aber nicht mehr das große, dynamische Experiment, nicht mehr der Künstler als Anführer der Revolution. Der Individualist Rodtschenko ist am Ende seines Werkes ein gebrochener Künstler.

    Der ein Jahr ältere Man Ray, der ja eigentlich Emmanuel Radnitzky hieß, ehe seine in die USA immigrierten Eltern ihre Nachnamen in Ray verkürzten, wandelte dagegen immer auf einem schmalen Grat zwischen Experiment und Kommerz. Auch Man Ray hatte seine Großkrise, als er von seinem ersten Paris-Aufenthalt vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht zurück in die USA fliehen und sein gesamten Werk zurücklassen musste. Er fiel daraufhin in eine Depression und konnte sich erst in Los Angeles nach und nach wieder hervorarbeiten.

    Halb widerwillig, wie es scheint, hat Man Ray immer kommerziell gearbeitet, vor allem als Portraitfotograf, um seine dadaistischen und surrealistischen Bildexperimente in Paris weitertreiben zu können. Am Ende hat er immer wieder mehr oder weniger gelungene Reproduktionen früherer eigener Werke hergestellt, um sie zu verkaufen, was in den 70er Jahren allerdings schon wieder als Man Rays Beitrag zur Pop Art gewertet wurde. Im Kontext der Ausstellung ist dieses Spätwerk aber von deutlichem Abfall an Ideen und Schaffenskraft gezeichnet.

    Gleichwohl, und ganz im Gegensatz zu Alexander Rodtschenko, starb Man Ray als berühmte Ikone der westlichen Fotografiemoderne. Rodtschenko konnte erst nach der Auflösung der Sowjetunion wiederentdeckt werden, wobei sein Werk nach seinem Tod 1956 in der westlichen Forschung fast besser bekannt gewesen zu sein scheint als in der russischen, wo es immer noch unter dem Verdacht des Formalismus stand.

    Man Rays Fotografie erscheint im Vergleich mit Rodtschenko als frei von politischen Implikationen. Eher setzt er im Stil der Pariser Surrrealisten auf eine Aushebelung der bürgerlichen Moral in der Kunst, dabei aber begabt mit einem hohen Maß an künstlerischen Formbewusstsein. Hier kann man Bilder sehen, die auch heute noch durchaus als pornografisch gelten dürfen, wenn er sich beim Liebesakt mit seiner Freundin selbst ablichtet. Seine Grabinschrift auf dem Pariser Friedhof Montparnasse: "Unbekümmert, aber nicht gleichgültig" trifft insofern den durchweg spielerischen Charakter seines Werkes, während bei Rodtschenko alles Spielerische immer zweckgebunden, vielleicht sollte man besser sagen: teleologisch, wirkt.

    Man Ray ist kein Revolutionär, auch wenn er großen Einfluss hat. Kollagierte Fotos in der jungen Sowjetunion sind das künstlerische Medium par excellence, um die kommende Realität einer besseren Welt bereits jetzt als Bild zu visionieren, sie haben durchaus Totalitätsanspruch - auch bei Rodtschenko.

    In den USA und Europa sind Kollagen eher ein Werbemittel, ausgerichtet auf eine beiläufige Wahrnehmung, nicht auf Einschwörung. In seiner besten Zeit hat Alexander Rodtschenko feurige und wortgewaltige Manifeste einer kommenden Kunst verfasst. Man Ray war dagegen immer ein Bildwissenschaftler, nie wäre ihm in den Sinn gekommen, mit Kunst die Massen zu lenken. Aus diesem Grund mag Man Rays Werk dem ersten Anblick nach heute möglicherweise aktueller erscheinen.