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Herr der Farben

Im Alter von 20 Jahren gelang es Otto Unverdorben, erstmals kleine Mengen von Anilin herzustellen. Er wurde damit zu einem Wegbereiter der modernen Farben- und Kunststoffindustrie. Vor 200 Jahren wurde der Chemiker und Apotheker geboren.

Von Irene Meichsner | 13.10.2006
    "Otto Unverdorben - Erfinder des Anilins im Jahre 1826."

    So steht es auf seinem Grabstein in der kleinen Stadt Dahme in der Mark Brandenburg. Und noch vor drei Jahren, als die örtliche Gesamtschule nach ihm benannt wurde, hieß es zur Begründung:

    "Den Grundbestandteil der Farben, das Anilin, erfand 1826 Otto Unverdorben, ein Bürger unserer Stadt Dahme."

    Eine chemische Verbindung wie Anilin kann man eigentlich gar nicht "erfinden". Allenfalls "finden" oder noch besser: "entdecken" kann man sie - aber in Dahme nimmt man das nicht so genau.

    Am 13. Oktober 1806 wurde Otto Unverdorben dort als drittes Kind einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Der Vater starb früh, Unverdorben ging aufs Gymnasium in Dresden, studierte in Leipzig, Halle, Erfurt und Berlin Chemie. In seinem Elternhaus richtete er sich ein Laboratorium ein. Mit allen möglichen Substanzen experimentierte er dort - fasziniert davon, einfach zuzugucken, was passierte, wenn er sie zum Beispiel trocken erhitzte. Der Chemiker spricht von "trockener Destillation".

    "Organische Stoffe geben bei trockener Destillation außer den bekannten Säuren und Oelen andere noch unbekannte, die ganz neue Klassen organischer Verbindungen bilden","

    schrieb Unverdorben über seinen berühmtesten Versuch mit dem blauen Pflanzenfarbstoff Indigo. Durch das trockene Erhitzen erhielt er kleine Mengen eines farblosen, an der Luft vergilbenden Öls.

    ""Es verbindet sich mit Säuren und giebt mit ihnen krystallisirbare Salze, weshalb ich es 'Crystallin' nennen werde."

    Unverdorben hatte keine Ahnung, welches Potenzial darin steckte. Noch drei weitere Chemiker sollten, unabhängig voneinander, dieselbe Substanz isolieren - jeder auf andere Weise. Friedlieb Ferdinand Runge war der erste. Nicht weit von Dahme entfernt, in Oranienburg, stieß er 1834 bei Versuchen mit Steinkohlenteer auf eine leuchtend blaue Flüssigkeit, die er Blauöl nannte.

    "Dass Unverdorben bereits acht Jahre zuvor die gleiche Verbindung in der gleichen Zeitschrift beschrieben hat, war ihm genau so wenig bewusst wie seinen Zeitgenossen","

    schreibt der Berliner Chemiker Herbert Teichmann, der die verzwickte Entdeckungsgeschichte des Anilins rekonstruierte. Den Begriff Anilin, das portugiesische Wort für Indigo, prägte nicht Otto Unverdorben, wie es in vielen Lehrbüchern heißt, sondern 1840 der deutsche, in St. Petersburg tätige Chemiker Carl Fritzsche nach der Destillation von Indigo mit Kalilauge. Zwei Jahre später stieß der Russe Nikolai Zinin beim Hantieren mit Benzol auf ein basisches Öl, das er Benzidam taufte.

    Crystallin, Blauöl, Anilin und Benzidam: Den aufkeimenden Verdacht, sie könnten identisch sein, klärte 1843 August Wilhelm Hofmann in Gießen, ein Assistent des legendären Chemikers Justus von Liebig. Er wiederholte alle vier Versuche, empfahl sogar noch, es möge vorerst

    ""der alte, von einer sehr charakteristischen Eigenschaft dieses Körpers abgeleitete Name Krystallin beibehalten werden."

    Doch es blieb beim Anilin. Der Engländer William Perkin, einer von Hofmanns Schülern, gewann daraus 1865 den ersten praktisch genutzten synthetischen Textilfarbstoff - der Anfang der modernen Farbenindustrie.

    Und Otto Unverdorben? Er hatte den Beruf des Chemikers längst an den Nagel gehängt, übernahm das elterliche Geschäft, begründete in Dahme eine florierende Tabak- und Zigarrenindustrie - offenbar penibel darauf bedacht, dass ihm kein Gewinn entging, wie es sein Biograf Max Wald 1926 schilderte.

    "Otto Unverdorben litt es nicht, dass nach dem Verarbeiten in der Fabrik nur ein Blättchen Tabak auf dem Fußboden liegen blieb. Er hob es auf und meinte: 'Lieber auf ein Seidenkleid treten als auf ein Blatt Tabak."

    Unverdorben erwarb ein altes Rittergut am Rande des heutigen Naturparks Fläming, war Ratsherr, Stadtverordneter und Schützenkönig, führte in Dahme die ersten Goldfische und das erste Gewächshaus ein, in dem zum allgemeinen Erstaunen sogar die Ananas gedieh. Im Dezember 1873 starb er in seiner Heimatstadt, die ihm vieles verdankt, sich allerdings, was das Anilin angeht, auch ein wenig mit fremden Federn schmückt. Aber das hat schon Tradition. Anlässlich der Tauffeierlichkeiten für die Gesamtschule "Otto Unverdorben" zitierte eine Festschrift einen Vers, der 1874 in der Zeitung stand.

    "Bei Männern ist gar sehr beliebt das Rauchen,
    die Frauen freudig bunte Farben brauchen,
    solange beide Bräuche übern Fläming gehen,
    wird Unverdorbens Name fortbestehen!"