Archiv


Herr der Peinlichkeiten

Im Januar luden sich täglich etwa 1000 Italiener die "iMussolini"-App auf ihr iPhone – die Anwendung zeigt Dokumente und Reden des "Duce": Symptomatisch für den veränderten Umgang mit der faschistischen Vergangenheit. Um den zu untersuchen, hat sich der Schweizer Historiker Aram Mattioli durch viele italienische Bücher und noch mehr Zeitungsartikel gelesen.

Von Kirsten Hausen |
    Silvio Berlusconi lässt sich gerne von seinen Anhängern bejubeln. Und wenn sich während einer Parteiveranstaltung die Arme – wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen - zum "saluto romano", dem römischen Gruß oder "Hitler"-Gruß heben, hat er keine Einwände. Trotzdem ist Silvio Berlusconi, so stellt der Schweizer Historiker Aram Mattioli klar, kein Faschist im ursprünglichen Sinne.

    Wenn man Berlusconis politischer Verantwortung auf dem Feld der Erinnerungspolitik wissenschaftlich gerecht werden will, muss man nicht nur analysieren, was er über die faschistische Diktatur öffentlich verbreitet hat. Weit entscheidender ist, dass er als mächtigster Mann Italiens nie Berührungsängste gegenüber Mussolinis Erben an den Tag legte und diese regelrecht hofierte. Stets vermittelte er den Eindruck, dass es sich bei diesen um ganz normale Politiker mit vernünftigen Ansichten handle, auch und gerade, was ihre Deutung des Faschismus betrifft.

    Der Faschismus als Meinung, die respektiert werden muss, statt als schreckliche historische Tatsache – das ist ein Wertewandel und eine Banalisierung des Bösen, die dem rechten Regierungsbündnis von Silvio Berlusconi in den vergangenen Jahren gelungen ist. Während Alt- und Neofaschisten bis zum Kollaps des italienischen Parteiensystems 1994 politisch isoliert waren, tragen sie heute Regierungsverantwortung. Verteidigungsminister Ignazio La Russa begann seine Karriere als rechter Straßenschläger und sagte noch vor wenigen Tagen über einen Störenfried bei einer Pressekonferenz, dass "solche Leute zu seiner Zeit nicht überlebt hätten". Dass Aussagen von dieser Tragweite keine skandalösen Ausnahmen sind, sondern fast schon Alltag im italienischen Politikbetrieb, belegt Aram Mattioli eindrucksvoll.

    Dann habe ich auch gefunden, dass gerade bei diesem Thema der Einbezug von Filmen wichtig ist, weil Berlusconi natürlich den Mediensektor ganz stark kontrolliert.

    Das Ergebnis hat ihn selbst erschüttert. Aram Mattiolis Großeltern stammen väterlicherseits aus Italien. Die "Resistenza", also der Befreiungskampf, den die italienischen Partisanen ab 1943 gegen die deutschen Besatzer führten, war in seiner Familie Teil der eigenen Identität, so wie für Millionen Italiener. Doch die Werte des Antifaschismus fand Aram Mattioli in vielen TV-Produktionen der vergangenen Jahre nicht wieder. Stattdessen: die Figur des "guten Faschisten".

    "Mit Herz für Kinder, der eben Kinder rettet und das natürlich eine weitergehende Erscheinung ist, die man auch in Kinofilmen findet, zum Beispiel in einem Film von Pupi Avati, von dem man weiß, dass er Berlusconi ganz nahe steht."

    Mattioli liefert in seinem Buch auch die grundsätzlichen Fakten zum italienischen Faschismus, der circa einer Million Menschen das Leben gekostet hat. Das ist hilfreich, wenn man sich mit dem Thema noch nicht eingehend befasst hat, doch sein Hauptaugenmerk liegt auf dem Paradigmenwechsel in der politischen Kultur, der im Italien Berlusconis stattgefunden hat. Seine Analyse ist gut gegliedert und detailliert. Kapitel für Kapitel legt Mattioli die Mechanismen frei, die einen so tief greifenden Wandel möglich machten.

    "Es beginnt mit der alten Behauptung, dass der Faschismus eine milde Diktatur gewesen sei, die überhaupt nicht zu vergleichen sei mit dem nationalsozialistischen Deutschland und schon gar nicht mit der stalinistischen Sowjetunion. Dann wird auf die angeblichen Leistungen des Regimes verwiesen, zum Beispiel eben auf die Infrastruktur-Politik, auf die Postämter, die gebaut wurden, dann wird hingewiesen, eben damals hätte es Ordnung gegeben, da hätte es Disziplin gegeben, also nicht so wie heute, da gibt es sehr viele Dinge, die im Rückblick positiv beurteilt werden und es wird dann eben diese ausgesprochen gewalttätige Seite ausgeblendet, was sehr, sehr irritierend ist für einen Historiker."

    Auch auf den Personenkult um den Diktator Benito Mussolini, der in einigen Gemeinden Italiens nach wie vor Ehrenbürger ist, geht Aram Mattioli in seinem Buch ein.

    Mussolinis irritierende Gegenwärtigkeit erklärt sich damit, dass im heutigen Italien ein gar nicht so kleiner Teil der Öffentlichkeit ein nachsichtiges, von heimlicher Faszination geprägtes "Duce"- Bild pflegt, das sich als weitgehend immun gegen die von der historischen Forschung erarbeiteten Erkenntnisse zeigt. Zum eisernen Bestand verharmlosender "Duce"-Bilder gehört, dass der Mann aus Predappio ein "guter Mensch" war, ja ein "Erzitaliener", mit allen typischen, aber verzeihlichen Schwächen.

    Unweigerlich kommt die Frage auf, wie die politischen Nachkommen der Antifaschisten von 1943 auf die Verharmlosung der faschistischen Diktatur reagieren.

    "Zunächst natürlich schlicht mit Unverständnis und in zunehmender Weise, indem protestiert wurde. Das Problem ist, dass es zunehmend schwierig ist, sich in einer Gesellschaft Gehör zu verschaffen, in der das Medienwesen ganz stark von Berlusconi kontrolliert wird. Es geht da ja nicht nur um die richtige Deutung der Vergangenheit, sondern es geht um Werte, es geht um eine neue politische Kultur. Das ist quasi der Kitt, um eine doch recht heterogene Rechtskoalition zusammenzuhalten, um auch Stimmen am äußersten rechten Rand des politischen Spektrums zu machen."

    Im fünften und letzten Kapitel seines Buches geht der Schweizer Historiker der Frage nach, ob Italiens Erinnerungskultur ein westeuropäischer Sonderfall ist. Er vergleicht die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung des Faschismus in Italien unter anderem mit der Entwicklung in Spanien.

    Gemessen an dem, was in Westeuropa an historischer Aufarbeitung geleistet wurde, entwickelten sich die Dinge im Italien der Zweiten Republik gegenläufig. Von den "Rassengesetzen" abgesehen, deren Schändlichkeit mittlerweile auch die Rechte nicht mehr bestreitet, entfernte die revisionistische Generalüberholung der Geschichte die Italiener vom neusten Stand des historischen Wissens. Anders als in Spanien verfolgte diese zu keinem Zeitpunkt das Ziel, den Opfern von Mussolinis Gewaltherrschaft Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

    Zum Schluss fordert Aram Mattioli die Europäer auf, genauer hinzuschauen und ihre Ansichten über Italien zu überdenken. "Auch wenn es schmerzt" wie er schreibt. Dass ihn selbst die politische und kulturelle Entwicklung Italiens schmerzt, ist nicht nur zwischen den Zeilen herauszulesen. Wenn er Berlusconi den "Herr der Peinlichkeiten" nennt, mag das in einem wissenschaftlichen Buch etwas befremden, wahr ist es aber allemal.

    Aram Mattioli: "Viva Mussolini!" - Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis. Ferdinand Schöningh Verlag, 201 Seiten, 19,90 Euro, ISBN: 978-3-506-76912-1