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Herr des Lichts

In seinem Roman "Die Entdeckung des Lichts" schildert Schriftsteller Ralf Bönt den Weg des jungen Michael Faraday hin zu der Erkenntnis, dass Licht als elektromagnetische Welle beschrieben werden kann. Beide, Autor und realhistorischen Protagonist, eint eine giftige Gemeinsamkeit.

Von Claudia Kramatschek | 06.01.2010
    England im 19. Jahrhundert: Lord Nelson macht die Weltmeere unsicher, während Napoleon die Herrschaft über weite Teile Kontinentaleuropas erringt – und in London erregen wissenschaftliche Vorlesungen über Batterien, Elektrizität und Magnetismus die Neugierde eines gewissen Michael Faraday. Der ist – wir sind im Jahr 1812 – gerade 21 Jahre alt, der Sohn eines einfachen Schmiedes, nun aber Lehrling bei einem Buchbinder, wo er täglich die Nachrichten aus aller Welt verfolgt.

    Begeistert vom Ruf des Neuen, träumt auch er jedoch immer mehr davon, selbst teilzuhaben an den revolutionären Erkenntnissen seiner Zeit, die das Denken von Ursache und Wirkung, von Anfang und Ende, von Gott und der Welt für immer verändern. Ahnt er, dass sich auch sein Leben grundsätzlich ändern wird, als er zum ersten Mal dem Vortrag eines gewissen Davy Humphrey lauscht? Denn einige Zeit später, 1813, wird er selbst Laborhelfer in der ehrwürdigen Royal Institution, gegründet zur Verbesserung der Situation der Armen.

    "Am ersten März betrat er morgens das Labor im Keller der Institution. Vorsichtig ging er zwischen den Tischen umher, auf denen Schalen, Gläser und Tröge standen. Hier glänzte silbrig eine Pfütze Quecksilber, dort wuchsen Kristalle aus einer Säure die Wände ihres Behältnisses empor. Eine Art Pfeife befand sich auf einem der Tische, Nebel stand in ihrem senkrechten gläsernen, nach oben offenen Rohr. Nichts fasste er an. Es roch nach Wissen und nach Wollen und nach Können. Die Luft schmeckte gut auf der Zunge, vielfältig, und würde jeden Tag Neues bringen. Er würde sich in diesem Keller nicht enttäuschen."

    Sich enttäuschen – das wird er nicht. Denn Faraday wird von diesem Keller aus Geschichte schreiben, indem er fortan bis zu seinem Lebensende so langsam wie zielstrebig, so spielerisch wie beharrlich das Wesen des Lichts erforscht – und letztlich Newtons Teilchen-Theorie mit einer radikal neuen Formel widerlegt: dass Licht aus Wellen besteht. Aber er wird sich selbst zerstören. Denn ebenso langsam wie ebenso unaufhaltsam richtet Faraday sich mit einer Quecksilbervergiftung zugrunde, die erst seinen Geist vernichtet, dann seinen Körper, dann das Wissen, wer er ist.

    "Oft fasste er sich auf Höhe des Atlas an den Hinterkopf, auch da in den Nervenbahnen, zwischen Bandscheiben und Halswirbeln, in den Arterien und Venen: Sand. In den Hirnhäuten hatte Unkraut Wurzeln geschlagen, er bemerkte es nicht. Die Gedanken verloren an Tiefe, brachen gerne ab, setzten woanders neu an, sprangen wieder zurück. Er bemerkte es nicht."

    Es ist eine unsichtbare, noch heute nicht greifbare, da nur schwer nachweisbare Erkrankung. Was sie für den Betroffenen bedeutet, wie sie sich anfühlt, weiß niemand besser als Ralf Bönt persönlich, der selbst vor einigen Jahren an dieser Vergiftung erkrankt gewesen ist.

    "Nachdem ich sie überwunden hatte, nach langer Zeit, war für mich klar, dass ich darüber schreiben will – und gleichzeitig war für mich klar, dass ich nicht über mich schreiben möchte. Und als ich auf Michael Faraday stieß in der klassischen Quecksilbervergiftungsliteratur – nämlich einem Text von einem Berliner Chemiker, Alfred Stock, aus den 1920er-Jahren, der bemerkt hat, dass Faraday in seinen Tagebüchern beschrieben hat, wie seine Persönlichkeit zerfallen ist, und er, Stock, wüsste, woran es liegt – war ich wie elektrifiziert und habe dann angefangen zu recherchieren. Das war für mich ein großer Glücksfall, dass ich eine historisch interessante Figur fand, um meine Erfahrung mit der Krankheit mitteilen zu können."

    Im Roman bildet das Moment der Krankheit eine mal retardierende, mal aber auch beschleunigende Gegenbewegung zur unbedingten Wissbegier des jungen Faraday. Denn der lässt sich nicht aufhalten in seinem Forscherdrang, das Unsichtbare sichtbar zu machen. Nicht zuletzt ist er dabei geleitet vom Glauben seines Zeitalters, dass den Menschen auf der Grundlage der Forschung ein besseres Leben in Aussicht steht: weniger Krankheit, weniger Armut, mehr Gerechtigkeit, mehr Gesundheit.

    "Er wollte permanenten Strom aus einem permanenten Magnetfeld herausholen. Permanent wollte er damit Geräte antreiben, Maschinen, die sich ausdauernd abplacken würden, weil Ausdauer nicht ihr Problem war. Die ohne zu murren arbeiteten, ohne krank zu werden, garstig und alt, ohne Gicht und Rheuma zu kriegen und Hirnschläge und den Wunsch, dass alles vorbei war. Sie würden nichts als Leistung bringen und den Mangel abschaffen. Sie würden nicht länger Leben verplempern."

    In der Tat ist es vor allem dieses Moment der Leidenschaft – die Leidenschaft einer Epoche, aber auch eines die Epoche prägenden Individuums – das Bönt in diesem Roman mit literarischer Raffinesse, nämlich stets aus der tastend-suchenden Augenhöhe seiner Figuren heraus, und mit psychologischem Feingefühl extrahiert und uns als Lesern zugänglich macht: Nicht das Wissen, sondern das Wissen wollen; nicht die physikalische Formel, sondern das spielerische Denken, das die Formel erst hervor bringen kann, beflügeln diesen Roman und machen seine Lektüre daher auch für all jene zu einem Vergnügen, die vom wissenschaftlichen Gegenstand nicht wirklich Ahnung haben. Zugleich aber entwirft Bönt anhand der Person Michael Faradays das Porträt einer Zeit, die am Übergang steht zu unserer eigenen Epoche. Sprich: Dieser historisch anmutende Roman hat sehr wohl mit unserer Gegenwart zu tun.

    "Der historische Roman ist genau wie jeder andere Roman interessant und bereichernd, wenn man etwas über sich lernt. Und ich finde es schon spannend zu sehen, dass im 19. Jahrhundert, vor 150 Jahren, auch 100 Jahren, ähnliche Fragestellungen, wie wir sie heute haben, sehr wichtig waren. Da wird diese schöne Geschichte erzählt von den bayrischen Bürgern, die die Blitzableiter von den Kirchen gerissen haben, weil sie glaubten, das ist schädlich für sie, wenn der Blitz abgeleitet wird. Und heute haben wir eine Debatte über genveränderte Lebensmittel und Transplantationstechniken und vieles andere mehr. Und wenn man die Fragestellungen verpflanzt sieht in eine andere Zeit, dann ist das eine Abstraktion, an der man selber fragen kann, was man wirklich denkt, über Fortschritt beispielsweise."

    Faraday selbst muss – wie alle seine Kollegen – die Wissbegier noch verteidigen gegen die Bastionen des Glaubens. Daher spielen die Religion und das Verhältnis zu Gott nicht nur in seinem Leben, wie wir erfahren, eine immense Rolle. Gott höchstpersönlich wird daher zum Ende des Romans hin einen unerwarteten und literarisch auch gewagten Auftritt haben. Doch die Klammer hin zu unserer Gegenwart ist nicht zu verstehen ohne einen gewissen Albert Einstein, den Bönt parallel zur Schilderung von Faradays Lebensabend als unerwartete Gegenfigur einführt.

    "Faraday ist quasi so etwas wie die letzte vormoderne Figur, hatte ich den Eindruck, der mehr als andere tatsächlich ins Unsichtbare gegangen ist und immer Methoden gesucht hat, um Neues sichtbar zu machen. Aber gleichzeitig war Faraday ja sehr gläubig. Und aus der Angst der Vormoderne – es gab ja eine Angst vor Gott, die glaube ich sehr vieles aus der Zeit erklären kann – aus dieser Angst wollte er heraus. Er hat auch heraus geführt mit seinen Erfindungen, die das Leben leichter gemacht haben, die einem Arbeit abgenommen haben. Und Einstein ist eigentlich der Erste, der nicht mehr in der Angst groß wird, und anfängt, Gedankenspiele auf noch ganz anderem Niveau zu treiben, die uns in das 20.und jetzt das 21.Jahrhundert geführt haben, das ja ohne die ganzen technischen Erfindungen gar nicht zu denken wäre, die ja sehr wohl mit Relativitätstheorie und Quantentheorie zu tun haben."

    Auch Einstein, zu dieser Zeit ein neunjähriger neugieriger Junge, den das Unsichtbare mehr fasziniert als das Sichtbare, wird sich fragen: Was ist das Licht? Und am Ende schließen sich die Kreise: Gott schaltet dem gealterten Faraday, der gerade erst bewiesen hat, dass Licht als elektromagnetische Welle beschrieben werden kann, das Lebenslicht aus. Nur 40 Jahre später, 1889, wird Schwabing von Einsteins Vater als erste Stadt der Welt elektrisch beleuchtet und vollendet so die Löschung des Himmels, aus dem Gott von der Moderne für immer vertrieben sein wird. Und bald schon wird der erste Mensch auf dem Elektrischen Stuhl hingerichtet werden, den man noch als saubere Form des Tötens preist. Ein neues Zeitalter hat begonnen. Jemand wie Faraday, der die Wahrhaftigkeit der Fakten mit der Demut des Glaubens mühelos noch vereinen kann, ist Geschichte.

    Dass wir teilhaben an ihr und dass sie uns berührt, in jedem Sinn des Wortes, hat mit der erzählerischen Kraft des Romans zu tun, der klug gemacht ist, aber nicht gelehrig daher kommt, der selbst voller Wissen steckt, aber jeder enzyklopädischen Besserwisserei entsagt. Nicht zuletzt beleuchtet er, was uns Heutigen allzu selbstverständlich und daher in Vergessenheit geraten scheint: dass Wissen Wagnis – und die Arbeit der Liebe verlangt. Von dieser Arbeit der Liebe aber handelt "Die Entdeckung des Lichts" – und insofern ist dieser Roman, wie jeder gute Roman, auch selbst als Liebesbrief zu verstehen: verfasst vom Autor Ralf Bönt an zwei Physiker, die unser Leben grundlegend verändert haben.

    Ralf Bönt: Die Entdeckung des Lichts. Dumont Buchverlag, Köln 2009,
    352 Seiten, 19,95 Euro