Mittwoch, 01. Mai 2024

Archiv


Herr des Vatikans

Unter dem Titel Der Fels - Johannes Paul II hat der Journalist und Historiker Martin Posselt aus Anlass des 25. Jahrestages der Wahl von Karol Kardinal Wojtyla zum 264. Pontifex der katholischen Kirche eine weitere Papst-Biografie vorgelegt. Für den Bayerischen Rundfunk beobachtet Posselt seit Jahren die Aktivitäten des Papstes. Gleichwohl wäre es unfair, wollte man Posselts Buch mit dem des US-amerikanischen Theologen und Publizisten George Weigel vergleichen. Denn für ‚Zeuge der Hoffnung’, das über tausend Seiten umfasst, konnte Weigel zwischen 1996 und 1998 nicht nur zahlreiche längere Gespräche mit dem Papst führen. Johannes Paul II. sorgte auch dafür, dass Weigel bei seinen Recherchen von der Kurie unterstützt wurde. Auf all das musste Posselt für sein bei Langen Müller erschienenes Werk verzichten.

Stefan Rehder | 10.11.2003
    So bleibt es nicht aus, dass man Vieles von dem, was Posselt auf 220 Seiten darstellt, schon einmal andernorts zur Kenntnis genommen hat: Beim Papst selbst, so etwa in ‚Geschenk und Geheimnis’ oder in den Interviewbänden ‚Die Schwelle der Hoffnung überschreiten’ mit Vittorio Messori und ‚Fürchtet euch nicht!’ mit André Frossard, aber eben auch bei Weigel oder bei dem Protestanten Jan Roß, Edelfeder der Wochenzeitung ‚DIE ZEIT’, dessen im Jahr 2ooo erschienener Essay Der Papst Johannes Paul II. - Drama und Geheimnis jetzt als Paperback mit einem neuen Nachwort aufgelegt wurde.

    Als TV-Journalist besitzt Posselt eine besondere Vorliebe für das, was er die ‚magischen Momente’ im Pontifikat Johannes Paul II. nennt. Der Papst, der die Regeln des Zeremoniells bricht, etwa als er sich einfach unter die Presseleute mischt und Auge in Auge Fragen in fünf Sprachen beantwortet. Oder der Papst, der sich bei seiner Inthronisation mit dem polnischen Primas Stefan Kardinal Wyszynski einen ‚heiligen Ringskampf der Demut und Ehrerbietung’ liefert, als dieser ihm Treue gelobt:

    In straffer, militärischer Haltung und mit unbewegtem Gesicht, das seine innere Aufwühlung verbarg, kniete er vor dem Papst nieder. Dieser fing ihn auf, suchte den Kniefall zu verhindern, der Primas wehrte sich, beide sanken nieder und küssten sich gegenseitig den Siegelring. Der polnischen Nation, die zur ersten Gottesdienstübertragung in der Geschichte des sozialistischen Staatsfernsehens vor dem Bildschirm versammelt war, ging kollektiv das Herz auf.

    Den kritischen Leser mag es mit Befremden erfüllen, dass der Biograf - wie hier, so auch an anderen Stellen - die Rolle eines allwissenden Erzählers einnimmt. Sympathisch macht Posselts Darstellung, dass er um die Echtheit solcher Szenen weiß und sie nicht zur bloßen Inszenierung degradiert, zur telegenen Geste, mit der der Menschenfischer aus Polen im TV-Zeitalter seine Netze auswirft.

    Auch andere Zerrbilder rückt Posselt zurecht. So würdigt er etwa das Einschreiten Johannes Paul II. gegen die Vereinahmung des Evangeliums durch die Befreiungstheologie und die Ablehnung einer behaupteten Vereinbarkeit von Marxismus und Christentum. Auch das Festhalten des Papstes an der Morallehre bemängelt Posselt ebenso wenig, wie das Aufzeigen jener Hürden - zuletzt in der Enzyklika 'Ecclesia de Eucharistia’ - die einer Einheit von Katholiken und Protestanten noch im Wege stehen.

    Kritik am Pontifikat Johannes Paul II. äußert Posselt kaum. Die Besetzung der Bischofsstühle von Wien und Chur, mit Hans Hermann Groer und Wolfgang Haas, hält er für Entscheidungen, die sich als falsch erwiesen hätten. Dort, wo der Papst in Deutschland intervenierte, kann sich Posselt allerdings nicht zu einem eindeutigen Urteil durchringen:

    Musste beispielsweise die loyale deutsche Bischofskonferenz in einer pastoralen Frage wie der Schwangerschaftskonfliktberatung gegen ihren erklärten Willen zum Ausstieg aus dem staatlichen Beratungssystem gezwungen werden?

    ...fragt Posselt - und bleibt die Antwort schuldig. Das liest sich wie Feigheit vor dem Leser, wobei man sich nur schwer des Eindrucks erwehren kann, diese Unentschiedenheit sei wohl dem Verlag anzulasten. Der nämlich wirbt auf dem Umschlag in großen Lettern mit: "Der ‚Papst der widersprüche’ und seine Wirkung" und verkehrt so den Buchinhalt ins Gegenteil. Denn Posselt vertritt die Ansicht, dass dieser Papst schon immer der war, als der er sich heute für alle sichtbar erweist: Der Fels, auf den Christus seine Kirche im letzten Vierteljahrhundert gebaut hat.

    Wer sich noch nicht näher mit dem Leben und Wirken des jetzigen Papstes beschäftigt hat, der findet in Der Fels - Johannes Paul II. einen brauchbaren Einstieg. Wer mehr wissen will, der kommt an Zeuge der Hoffnung von George Weigel nicht vorbei. Denn das Buch, das inzwischen in über 2o Sprachen übersetzt wurde, gilt zu Recht als die Biografie über Johannes Paul II. Doch damit "Witness of Hope", wie der Originaltitel lautet, auch im Heimatland Luthers erscheinen konnte, bedurfte es des Einsatzes eines deutschen Professors. Der renommierte Sozialethiker Manfred Spieker, der an der Universität Osnabrück christliche Sozialwissenschaften lehrt, konnte den Schöningh-Verlag für das Projekt begeistern. Zu dessen Vorteil: Bereits sechs Monate nach Erscheinen erfuhr "Zeuge der Hoffnung" eine zweite Auflage.

    In Zeuge der Hoffnung erfährt der Leser nicht nur, dass Sacharow sein Parlamentsmandat erst nach einer streng geheimen Unterredung mit Johannes Paul II. aufgenommen hat oder wie die spektakuläre Reise des Papstes nach Kuba eingefädelt wurde. Hier stößt der Leser auch erstmals auf den Brief, den Johannes Paul II. im Dezember 198o an Breschnew schrieb. Darin warnt der junge Papst den alten Sowjetführer unmissverständlich, dass er die damals unmittelbar bevorstehende Invasion Polens vor der Weltöffentlichkeit mit dem Überfall auf das Land durch die Nazis 1939 vergleichen werde.

    Das Ergebnis ist bekannt. Breschnew blies die Invasion in letzter Sekunde ab. Dennoch ist die Darstellung vom Kampf des Papstes gegen den Kommunismus und seines Beitrags zum Fall des Eisernen Vorhangs nicht das eigentlich Besondere an Zeuge der Hoffnung .

    Weigel unternimmt auch den Versuch, das Innerste des Menschen zu ergründen, der diesen enormen Einfluss besitzt. Zu diesem Zweck hat sich Weigel nicht nur in die polnische Staats- und Geistesgeschichte vertieft, die philosophischen Werke Wojtylas, seine Dramen, Gedichte und seine Essays studiert, sondern auch unzählige Gespräche mit Freunden und Beratern des Papstes geführt.

    Das Ergebnis ist ein wissenschaftlich ergiebiges Werk, das sich so spannend wie ein Krimi
    liest. Das Bild, das Weigel darin von Johannes Paul II. zeichnet, ist das eines durch und durch modernen Menschen. Im Hexenkessel des Zweiten Weltkriegs schnell erwachsen geworden, sei Wojtyla früh zu der Überzeugung gelangt, die Krise der modernen Welt sei vor allem eine Krise der Ideen und besonders eine des Menschenbildes.

    Was auch immer Karol Wojtyla - als Professor für Philosophie an der Universität zu Lublin, als Teilnehmer während des II. Vatikanischen Konzils, als Erzbischof von Krakau und später als Bischof von Rom - tat, hat, laut Weigel, stets eine pastorale Ursache und lasse sich schon deswegen nicht in Kategorien wie ‚links’ und ‚rechts’, ‚progressiv’ oder ‚reaktionär’ pressen:

    Johannes Paul II. ist in keiner Weise an der Restauration einer vormodernen Kirche interessiert. Er engagiert sich leidenschaftlich für das Verkünden eines ganz modernen christlichen Humanismus, indem die Kirche sich der Kulturkrise der Gegenwart zuwendet.

    Die Verteidigung des christlichen Humanismus als Antwort auf die bisweilen verlockenden, aber an der Wahrheit über den Menschen vorbeigehenden Humanismen, das ist nach Weigel das eigentliche Programm des Mannes, dem Gott seit 25 Jahren das Steuer der Kirche anvertraut. Und er weist dies überzeugend nach. Sei es, wenn er Wojtylas Anteil an dem II. Vatikanischen Konzil herausarbeitet, sei es, wenn es um die Umsetzung der Konzilsbeschlüsse als Erzbischof von Krakau oder als Bischof von Rom geht, sei es, wenn Weigel dem Leser die Sozialenzykliken Johannes Paul II. erschließt.

    Selbsthingabe statt Selbstbehauptung: Jenes Vermögen ist es, das nach Ansicht des Papstes die Freiheit des Menschen in ihrer ganzen Radikalität zeigt, ihn adelt, seine einmalige Würde mit begründet und ihn in die Nähe Gottes rückt. In der getreuen Nachfolge Jesu Christi immer mehr ser Mensch zu werden, der man sein soll, und Abschied zu nehmen von dem Menschen, der man ist, das ist das Angebot, das der Papst der Welt macht.

    Dabei handelt es sich, wie Weigel zeigt, nicht um ein theoretisches, sondern ein ganz und gar praktisches Angebot, bezeugt vom ‚Diener der Diener Gottes’, selbst - und zwar bis in die letzte Faser seines eigenen Lebens.

    Martin Posselt: Der Fels - Johannes Paul II
    Langen Müller, 224 S., EUR 19,90


    George Weigel: Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II.
    Schöningh, 1.088 S., EUR 49, 90