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"Herrlich ist des Einsamen Freiheit"

Am Weihnachtstag 1956 liegt ein Toter im Schnee, zwei Meter oberhalb sein Hut. Zunächst wittert ein Hund Robert Walser, später finden ihn Kinder. Als sei der Schweizer Schriftsteller selbst eines seiner Gedichte, verschwindet er aus der Welt: einsam, ohne Weggefährten, auf einem Spaziergang in der Winterlandschaft. Das Schneefeld, ein Blatt weißes Papier, auf dem er vor Jahren dieses Gedicht niederschrieb?

Von Arnold Thünker | 25.12.2006
    Schnee

    Es schneit, es schneit, bedeckt die Erde
    Mit weißer Beschwerde, so weit, so weit.

    Es taumelt so weh, hinunter vom Himmel,
    das Flockengewimmel, der Schnee, der Schnee.

    Das gibt dir, ach, eine Ruh, eine Weite,
    die weißverschneite Welt macht mich schwach.

    So daß erst klein, dann groß mein Sehnen
    sich drängt zu Tränen, in mich hinein.


    Das friedliche, geradezu poetische Bild seines Todes passt zum Streuner, Spaziergänger und Beobachter Robert Walser, der einen Lebensweg voller Entbehrung, Unruhe und von allem Einsamkeit gegangen war.

    Robert Walser wurde in Biel am Bielersee, im Nordwesten der Schweiz, am 15. April 1878 als siebtes Kind von insgesamt acht Kindern geboren. Sein Vater ist Buchbinder und Spielzeughändler. Der Mutter, Elisa Walser-Marti, ist Robert besonders verbunden. Jörg Amann, dessen wunderbares Buch Robert Walser, eine literarische Biographie in Texten und Bildern jetzt im Diogenes Verlag wieder neu aufgelegt wurde, schildert das Verhältnis von Mutter und Sohn in seinen poetischen Begleittexten so:

    "Das macht ihn ruhig. Das alles kündigt das Erscheinen der Mutter an. Er wird sie nicht hören. So still und schmal wird sie durch die halboffene Tür treten, daß diese gar nicht bewegt werden muß. Und sie ist so leicht und leise, daß sie schon neben ihm stehen wird, während er ihr im Traum noch das lange, einfache Kleid auf dem Fußboden nachrauschen hört. Er ist verzaubert. Sie hat ihm die schöne, feine Hand auf die Stirn gelegt, die doch eben geglüht hat und jetzt ganz kühl ist. Er blinzelt. Er schlägt die Augen auf. Das Licht um die dunkle Frau, die jetzt über ihm steht, ist ihm nun fast zu hell. Sie beugt sich zu ihm herunter, schiebt ihr Gesicht wie einen milden Mond vor die Lampensonne, so daß das Licht ein wenig gedämpft wird. Er faßt sie in einen Blick, der ihm dann aber verschwimmt. Er weint. Mutter, hört er sich sagen, ich liebe dich. Lange, lange wartet er nun auf die Antwort."

    In solchen Schilderungen liegt die Stärke dieser literarischen Biographie, die mit über 90 Fotos und Bilddokumenten, Zitaten und einer Chronologie eine gute Einführung in das Leben und die Werke Robert Walsers bietet.

    Die zuletzt schwermütige Mutter stirbt als Robert 16 ist. Der Vater fordert eine Banklehre. Robert geht von der Schule ab und macht eine dreijährige Ausbildung in einer Filiale der Berner Kantonalbank zum Kommis. Doch er will Schauspieler werden. Er ist begeistert von Schillers "Räubern". In Stuttgart, wo sein Bruder Karl sich zum Maler ausbilden lässt, scheitert sein Versuch Schauspieler zu werden. Statt dessen arbeitet er ein Jahr bei der Deutschen Verlagsanstalt als Kommis. An seine Schwester schreibt er:

    "Mit dem Schauspielerberuf ist es nichts, doch, so Gott will, werde ich ein großer Dichter werden."
    Robert Walser wechselt ständig die Anstellungen, kündigt selbst oder wird gekündigt.. In seiner Züricher Zeit kommt er auf siebzehn, in Bern auf fünfzehn verschiedene Adressen. In all den schmucklosen Mansarden und engen Dachkammern schreibt er kurze Prosa und Gedichte, die zum Teil in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht werden.

    Als sein erstes Buch Fritz Kochers Aufsätze im Insel Verlag, Leipzig, 1904 erscheint, gibt er seine Doppelexistenz als Schriftsteller und Kommis auf. Von den 1300 gedruckten Exemplaren werden nur 47 Stück verkauft. Auch wenn er bei der Kritik und in der Öffentlichkeit fast gar nicht wahrgenommen wird, sind es doch bekannte Zeitgenossen, die sich für seinen literarischen Auftritt begeistern. Einen Fürsprecher findet er im älteren Hermann Hesse. Später werden Franz Kafka, Max Brod, Robert Musil, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky und Christian Morgenstern als namhafte Bewunderer seine klare und transparente Sprache, die verzaubert und enthüllt, hervorheben.

    1905 geht Robert Walser nach Berlin. Sein Bruder, mittlerweile ein erfolgreicher Bühnenbildner und Maler, nimmt ihn auf, protegiert ihn, führt ihn in die Gesellschaft ein, in der sich Robert ungehobelt benimmt. Bei einem seiner Ausfälle soll er Teile der Schallplattensammlung des Verlegers Samuel Fischer zertrümmert haben. Entweder nimmt man ihn kaum wahr, oder er benimmt sich daneben. Robert besucht eine Dienerschule und verdingt sich hiernach auf Schloss Dambrau in Oberschlesien. Wenige Monate später kehrt er nach Berlin zurück. Innerhalb der folgenden drei Jahre schreibt er drei Romane. In seinem ersten Roman Geschwister Tanner schildert er seine ruhelose Züricher Zeit. Es ist die Geschichte des jungen Simon Tanner, der keine Erfahrung auslassen und sich nicht im Leben festlegen mag.

    Ein Jahr später bezieht Robert Walser eine eigene Wohnung, hier schreibt er seinen zweiten Roman Der Gehülfe . Darin schildert er die Treue eines Hilfsangestellten zu einem ruinierten und verrückten Erfinder. Die heitere Umständlichkeit der Schilderung, das Sinnieren als Rede im Text, die detaillierten Naturbeschreibungen und das Spintisieren sind zum unverkennbaren Stil Robert Walsers heran gereift.

    Nur ein Jahr später beendet er seinen dritten Roman Jakob von Gunten. Seine Erlebnisse in der Berliner Dienerschule stehen im Mittelpunkt. Ein verdrehter Zöglingsroman, in dem die Erzieher von den Zöglingen abhängig sind. Bruno Cassirer, der Verleger und Kunsthändler, verlegt Walsers Romane, Bruder Karl liefert die Buchumschläge, damit sich die Bücher seines Bruders gut verkaufen.

    Berlin hat Robert Walser zum Dichter gemacht. Ohne diese tosende, schlaflose Kulisse wären seine abgeschlossenen Romane wohl nie entstanden. Erst in Berlin war es ihm nicht mehr möglich, sich "jenem Hang zur schönen edlen Faulpelzerei" zu ergeben wie daheim in der Schweiz. Aber Berlin wurde auch zu einem Ort der "Einsamkeiten schauervoller Art". Seine Bücher verkaufen sich nicht, das gesellschaftliche Tingeltangel macht ihn müde, schließlich kehrt er 1913 in die Schweiz zurück. Man empfängt ihn nicht wie den verlorenen Sohn, man bemerkt ihn kaum. Der Vater stirbt, wenig später zwei seiner Brüder, der eine in einer Heilanstalt an Umnachtung, der andere begeht Selbstmord.

    "Er weiß, wer er ist. Nur sonst weiß es keiner." ist die bittersüße Erkenntnis. Robert Walser spaziert und schreibt, schreibt und spaziert. Er hat gelernt, was ihm fehlt zu erfinden.

    Nur noch zu wenigen Menschen unterhält er Kontakt. Als er zu einer Lesung im Leszirkel Hottingen in Zürich eingeladen wird, ist sein Werk mittlerweile auf fünfzehn Bücher angewachsen. Doch kein Verleger kann einen kommerziellen Erfolg melden. Walser ist froh wahrgenommen zu werden und nimmt die Einladung an. Er macht sich zu Fuß auf den Weg. Zwei Tage. Der Präsident des Leszirkels entscheidet nach einer Probelesung in seinem Büro, Robert Walser soll nicht selbst vortragen, ein anderer soll aus seinem Werk vorlesen. Aus Existenzangst gibt Walser im Streit nach, er braucht das Geld. Dem Publikum wird der Dichter krank gemeldet. Er aber sitzt in der ersten Reihe und hört zu, keiner hat ihn erkannt.

    Robert Walser zieht sich auf sein Bleistiftgebiet zurück. Die Mikrogramme entstehen, jenes einzigartige Dokument dichterischen Schaffens, abgefasst in extrem verkleinerten Sütterlinschrift. Notizen, dramatische Szenen, Gedichte, kleinere Prosaarbeiten und sogar der Roman Der Räuber hat sich auf den 526 Blättern gefunden. In Aus dem Bleistiftgebiet, erschienen als vierbändige Kassette im Suhrkamp Verlag, kann sich jeder Leser auf die Suche nach "Perlen" Walserschen Schaffens machen; zu entdecken sind zauberhaft-schwebende Szenen, in denen sich der unverwechselbare Walser-Ton mit seinen noch nie dagewesenen Verkleinerungsformen ins Unendliche verläuft.

    Diese Veröffentlichung nach einer 20-jähriger Entzifferungsarbeit zeigt deutlich, dass Robert Walser bis zu seiner Überführung in die Psychiatrie auf der Höhe seiner Möglichkeiten geschrieben hat. Robert Walser hat Papierschnipsel, Honorarquittungen, Absageformulare oder Randspalten von Zeitschriften mit seine Miniaturschrift überzogen. Er hat sich klein gemacht. Mit 50 hat er sich entschlossen mit dem Schreiben aufzuhören. 25 Jahre verbrachte der Dichter in Heilanstalten.

    Eines, was Robert Walser sein Leben lang gerne getan hat, war spazieren gehen, ob als Schriftsteller oder vermeintlich Wahnsinniger. Das war seine Welt, das Gehen, die Einkehr, das Weiterziehen und die Faszination der alltäglichen Dinge. Carl Seelig, Schriftsteller und Mäzen, war lange Zeit Walsers Vormund. In seinem einzigartigen Buch Wanderungen mit Robert Walser findet der Leser viele Antworten auf die Frage, warum Robert Walser aus dem Leben ausgestiegen ist. Die Erzählung Der Spaziergang, die Robert Walser in seiner mittleren Schaffensperiode schrieb und die 1917 veröffentlicht wurde, liegt als Hörbuch vor, erschienen bei Hörbuch Hamburg. Mit unverkennbarer Stimme und großem Einfühlungsvermögen für die verschiedenen Stimmungen hat Fritz Lichterhahn den Text eingelesen.

    Die Erzählung ist ein typisches Stück lichter Walser-Prosa.

    Robert Walser: Der Spaziergang. Der Anfang dieser Erzählung, gelesen von Fritz Lichtenhahn.
    Wer das umfangreiche Werk Robert Walsers kennen lernen möchte, dem sei auch das Suhrkamp-Taschenbuch 1102 empfohlen. Hierin finden Sie Kleist in Thun, einer der großartigen kurzen Texte Walsers aus dessen Frühzeit als Dichter.

    Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Jochen Greven, umfasst sämtliche publizierte und fertige Manuskripte, die der Autor hinterließ.

    Die Romane Geschwister Tanner, Jakob von Gunten, Der Ghülfe und Der Räuber sind als Einzelausgaben verfügbar.

    Robert Walser, Aus dem Bleistiftgebiet. Mikrogramme, sechs Bände in einer Kassette, gewähren einen einzigartigen Blick in die Werkstatt des Schriftstellers: Prosastücke, dramatische Szenen, Gedichte und der Roman Der Räuber finden sich im Werkstattbuch des modernen Dichters Robert Walser.

    Drei biographische Arbeiten zu Robert Walser öffnen sein Werk auf solide und eindrucksvolle Art und Weise.

    Jörg Ammann: Robert Walser, Eine literarische Biographie erschienen bei Diogenes.
    Carl Seelig: Wanderungen mit Robert Walser in der Bibliothek Suhrkamp.
    Catherine Sauvat: Vergessene Weiten im Suhrkamp Taschenbuch.