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Herrschende Eliten in unbeobachteten Augenblicken

Erich Salomon gilt als Erfinder der modernen Pressefotografie: In den 20er-Jahren zeigte er die Großen aus Politik, Wirtschaft und Kultur nicht mehr in ernsten, repräsentativen Posen, sondern in scheinbar unbeobachteten Augenblicken. Am 28. April 1886 wurde er geboren.

Von Anette Schneider | 28.04.2011
    "Das ist unmöglich! Das hat noch nie jemand gemacht!"

    "Dies ist der Satz, der mir fast jedesmal entgegengeschleudert wurde, als ich im Frühjahr 1929 in England Anstalten machte, das für die Bildberichterstattung bis dahin noch unerschlossene Gebiet des englischen Klub- und Gesellschaftslebens zu durchleuchten",

    schreibt Erich Salomon in seinem Buch "Berühmte Zeitgenossen in unbewachten Augenblicken", das 1931 erschien. Abwimmeln ließ er sich dennoch nicht: Ob in britischen Clubs, im Gebäude des Völkerbundes in Genf, oder bei internen diplomatischen Gesprächen - vor seiner Kamera war niemand sicher. Der Fotohistoriker Ulrich Rüter:

    "Das Neue ist vor allen Dingen, dass er eigentlich den Beruf des Bildjournalisten mit erfunden hat. Man muss sich vorstellen, dass in den 20er-Jahren die Massenmedien einen unglaublichen Bildhunger hatten und Bilder gebraucht wurden, und Salomon einer der Gründerväter des modernen Bildjournalismus ist."

    Erich Salomon wurde am 28. April 1886 als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Bankiersfamilie in Berlin geboren und studierte später Jura. Nach dem Ersten Weltkrieg, der das Familienvermögen reduziert hatte, arbeitete er als Börsenmakler, Fuhrunternehmer und in der Werbeabteilung von Ullstein. 1926 entdeckte er seine Leidenschaft für die Pressefotografie. Er kaufte sich eine Kamera – und wenig später rissen sich die Zeitungen um seine Bilder.

    "Gustav Stresemann, Zigarre rauchend im Reichstagsrestaurant, 1929. / Nachtsitzung der Haager Konferenz mit schlafenden Ministern, 1930. / Generalversammlung der Reichsbank, 1930. / Richard Strauss mit einer Sängerin auf einem Festbankett."

    Ulrich Rüter: "Sicherlich kann man ihn als ersten Paparazzo bezeichnen. Es gab eben dem Publikum ein Gefühl, dabei zu sein. Mitten im Geschehen zu sein. Nicht ein gestelltes Politikerporträt zu bekommen, sondern in einer Atmosphäre die Politiker oder auch die Gesellschaftsdamen und -herren zu erleben, die man so sonst eben nicht sah."

    Zwischen 1928 und 1933 entstanden etwa 350 Reportagen, in denen Erich Salomon der Öffentlichkeit eine bis dahin verschlossene Welt vorführte: die der herrschenden Elite, ihrer internationalen Kongresse, Diners und Feste. Möglich wurde dies, so Ulrich Rüter, weil sich Salomon als Teil dieser Welt fühlte:

    "Er konnte sich gewandt in der Gesellschaft bewegen, konnte mehrere Sprachen. Er fiel auf den politischen Empfängen überhaupt nicht auf. Und als die Kollegen dann aus den Räumen herausgebeten wurden, blieb er einfach diskret zurück und zückte dann seine relativ kleine unauffällige Ermanox-Kamera."

    Er zeigt Politiker, Wirtschaftsbosse und Künstler nicht in repräsentativen Gesten, sondern in unbeobachteten Augenblicken: Wie sie sich leger über Tische beugen, plaudern, lachen, gähnen - oder schlafen. Und er erklärt:

    "Die Tätigkeit des Bildberichterstatters, der darauf ausgeht, Situationsbilder und interessante Gesichtsausdrücke auf die Platte zu bringen, besteht in einem unaufhörlichen, raubtierartigen Lauern. Wie ein Jäger auf dem Anstand wartet er geduldig, um zum Schuss zu kommen."

    Ulrich Rüter: "Es gibt die Anekdote, dass er 1928 aus einem Berliner Gericht berichtet hat und Bilder gezeigt hat, die man so noch nie gesehen hat, weil Bildjournalisten im Gerichtssaal verboten waren. Er aber durch seine versteckten Kameras in der Melone oder in einem Buch oder in einem getarnten, angeblich gebrochenen Arm hat es immer wieder geschafft, seine kleine Kamera zu verstecken und damit hat er natürlich ein Tabu verletzt. Aber es gab eben diesen Bildhunger nach spektakulären, ungewöhnlichen Bildern - ganz genauso wie heute."

    Der "erste Paparazzo" wollte seine Zeit festhalten, ohne sein Gegenüber zu kritisieren. Entlarvend waren seine Fotos oft dennoch. So schrieb die "Frankfurter Zeitung" angesichts der ausgestellten Selbstzufriedenheit der Herrschenden inmitten der Weltwirtschaftskrise:

    "Die unbewachten Augenblicke dieser Leute sind abstoßender als jene, die ein Photograph alten Stils (machte). Salomons Buch löst eine heftige Wallung gegen viele jener Zeitgenossen aus, die uns in den letzten zehn Jahren mit ihrer Berühmtheit beschäftigt haben."

    1933 musste Erich Salomon in die Niederlande fliehen. 1940 wurden er, seine Frau und sein jüngster Sohn dort von deutschen Faschisten verhaftet und 1944 in Auschwitz ermordet.