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Hervé Morin: Europäische Verteidigung und Nato schließen sich nicht aus

Frankreich will nach der vollständigen Rückkehr in die Nato den Aufbau einer europäischen Verteidigung vorantreiben. Damit könnten die Europäer ihr Gewicht in dem atlantischen Bündnis verstärken, sagte der französische Verteidigungsminister Hervé Morin. Allerdings müsse sich Europa besser organisieren, um sich künftig mit einer Stimme zu den großen Fragen der Welt äußern zu können.

Hervé Morin im Gespräch mit Christoph Heinemann | 20.03.2009
    Christoph Heinemann: Der Nato-Jubiläumsgipfel in Straßburg und Baden-Baden wirft seine Schatten voraus - zunächst für die Sicherheitskräfte. Frankreich führt Grenzkontrollen wieder ein. Vom 20. März bis zum 5. April wird das Schengener Abkommen außer Kraft gesetzt, um offiziell insbesondere terroristischen Bedrohungen zu begegnen. Nato-Gegner planen zahlreiche Protestaktionen sowie eine Großdemonstration am 4. April in Straßburg.

    Begleitmusik auch auf der internationalen politischen Bühne. Russlands Präsident Medwedew hat mit Verweis auf die Erweiterungspläne der Nato eine Modernisierung der Atomwaffen ab 2011 angekündigt. Ob das mehr ist als eine Drohung, steht noch nicht fest, denn wegen der Finanzkrise wurde auch der russische Militärhaushalt zusammengestrichen.

    Das eigentliche Ereignis des bevorstehenden Nato-Hochamtes, an dem erstmals auch US-Präsident Obama teilnehmen wird, ist die Rückkehr Frankreichs in die integrierte Kommandostruktur der Allianz. 1966 hatte Präsident Charles de Gaulle den geordneten Rückzug aus dem Gremium folgendermaßen begründet:

    "Wir haben gute Gründe, uns mit anderen zu assoziieren, aber wir wollen unsere Handlungsfreiheit behalten. Solange wir die Solidarität der westlichen Völker für notwendig halten, um Europa gegen mögliche Angriffe zu verteidigen, bleiben wir die Verbündeten unserer Verbündeten. Aber wenn die Verpflichtungen auslaufen, die wir eingegangen sind, spätestens also 1969, wird die von der Nato vorgeschriebene Unterordnung für uns ein Ende haben. Sie liefert uns fremdem Einfluss aus."

    Heinemann: Nun also Kommando zurück: In dieser Woche hat die französische Nationalversammlung den Weg frei gemacht. Verkehrte Welt! Die Linke hält de Gaulles Argumente auch 40 Jahre danach für stichhaltig. Die politischen Erben des Generals, sofern man den amtierenden Präsidenten Sarkozy als Gaullisten bezeichnen kann, haben für die Rückkehr in das Nato-Gremium gestimmt.

    Vor der Sendung habe ich den französischen Verteidigungsminister Hervé Morin gefragt, welches politische Ziel damit verfolgt werde.

    Hervé Morin: Frankreichs Ziel ist ganz einfach: Wir möchten, wie auch Deutschland, nach und nach am Aufbau einer europäischen Verteidigung mitwirken. Dieser französische Wille wurde seit langem dadurch eingeschränkt, dass viele Europäer hinter diesem französischen Wunsch nach einer europäischen Verteidigung die Absicht einer Schwächung der Atlantischen Allianz vermuteten, da wir dem integrierten Kommando nicht vollständig angehörten. Wir möchten zeigen, dass eine europäische Verteidigung und eine volle Mitwirkung innerhalb der Nato nicht unvereinbar, sondern im Gegenteil komplementär sind. Mit der autonomen militärischen Kapazität der Europäer verstärkt sich auch ihr Gewicht innerhalb der Atlantischen Allianz, und dies führt zu einem ausgeglicheneren Verhältnis zwischen beiden Ufern des Atlantiks.

    Heinemann: Passt sich Frankreich damit der amerikanischen Politik an?

    Morin: Für Sie als Deutscher: Bedeutet die Mitgliedschaft in der Allianz, dass Sie sich ständig den Amerikanern anpassen? Hat man in Deutschland den Eindruck, dass die Mitgliedschaft in der integrierten Kommandostruktur die eigene Unabhängigkeit einschränkt? Welcher Franzose wagte, Angela Merkel, José Luis Zapatero oder Gordon Brown zu sagen, sie seien nicht unabhängig, weil ihre Staaten im integrierten Kommando vertreten sind? Das ist doch unsinnig. Die Unabhängigkeit der französischen Außenpolitik hängt von deren Aussagen, ihrer Struktur und ihrer "Wirbelsäule" ab.

    Heinemann: Von welchen Aussagen?

    Morin: Frankreichs Botschaft ist die einer multipolaren Welt, es ist die eines Landes, das den Amerikanern sagen kann, dass es befreundet, aber deshalb nicht in allem der gleichen Meinung ist. So haben wir etwa entschieden, einen Dialog mit dem syrischen Präsidenten Baschar el Assad wieder aufzunehmen, da wir der Auffassung sind, dass man die Probleme im Nahen Osten nicht ohne Syrien regeln kann.

    Heinemann: Herr Minister, es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die neue US-Regierung auf ihre Führungsrolle in der Nato verzichten möchte ...

    Morin: Es geht nicht darum, dass die Vereinigten Staaten verzichten; es geht darum, dass die Europäer sich organisieren. Die amerikanische Macht stellt kein Problem dar, das ist eine Tatsache. Ein Problem ist das Unvermögen und die Unzulänglichkeit der Europäer. Deshalb benötigen wir eine europäische Verteidigung und europäische Institutionen, die Europa in die Lage versetzen, sich mit einer Stimme zu den großen Fragen der Welt zu äußern, vor allem auch zu Fragen der Sicherheit. Dabei wäre es allerdings nötig, dass die Europäer bei den entsprechenden Budgets zusätzliche Anstrengungen unternähmen; damit erhöhte sich unsere Glaubwürdigkeit.

    Heinemann: "Informationen am Morgen" im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit Hervé Morin, dem französischen Verteidigungsminister. - Sie haben Präsident Assad erwähnt. Frankreichs bisheriger besonderer Status in der Nato wurde vor allem in arabischen Ländern als Symbol einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten gesehen. Wird Frankreichs Ansehen geschwächt, wenn dies nun verloren zu gehen droht?

    Morin: Glauben Sie auch nur einen Moment, dass Frankreich in den arabischen Staaten nicht als Teil der Familie der westlichen Demokratien gesehen würde? Für die ganze Welt gehören wir zu dieser Familie. Und unsere außenpolitische Botschaft hängt nicht davon ab, ob wir Offiziere in Planungsstäbe entsenden. Diese Botschaft vertreten wir unabhängig von der militärischen Integration in der Atlantischen Allianz. Außerdem erinnere ich daran, dass Frankreich seit etwa 15 Jahren an allen Operationen der Nato teilgenommen hat. Wir sind der viertgrößte Truppensteller. Wir gehören der strategischen Reserve und der schnellen Eingreiftruppe an. Völlig unabhängig davon wird unsere Außenpolitik von den Werten bestimmt, für die Frankreich steht.

    Heinemann: Präsident Medwedew hat eine Aufrüstung vor allem der strategischen Nuklearwaffen angekündigt. Der russische Präsident bezeichnet die Erweiterungspläne der Nato in Osteuropa als Gefahr für sein Land. Wie bewerten Sie diese Ankündigung?

    Morin: Darin steckt eine Botschaft an die Europäer: Es muss eine Partnerschaft des Vertrauens mit Russland geschaffen werden. Russland hat Vorschläge unterbreitet, etwa den eines Dialoges über eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa. Diese muss zusammen mit Russland aufgebaut werden. Dies geschieht über ein vertrauensvolles Verhältnis und den Dialog. Man kann nicht bestimmte Dinge beschließen, ohne dies gegenüber Russland anzusprechen. Da müssen Anstrengungen unternommen werden.

    Heinemann: Herr Morin, passen die Pläne der Nato für Osteuropa zu dem Vertrauensverhältnis, das Sie gerade erwähnt haben?

    Morin: Das gehört zu den Themen, die mit den Russen besprochen werden müssen. Russland hat immer schon Einkreisungsängste gehegt. Das muss man berücksichtigen. Vor allem bei der Frage einer Erweiterung muss die Atlantische Allianz mit einbeziehen, dass dies ohne einen Dialog mit Russland nicht machbar ist.

    Heinemann: Sie sehen keine neue Eiszeit?

    Morin: Nein, im Gegenteil: die ersten Schritte des Dialogs zwischen Russland und der Regierung Obama sind sehr ermutigend.