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"Herzchen" auf Neutrinojagd

Physik. - Das Neutrino ist das wohl merkwürdigste Teilchen der Physik. Es ist kaum nachzuweisen, trägt keine elektrische Ladung und hat nur eine verschwindend kleine Masse. Obwohl es das häufigste Teilchen im Universum ist, rankt sich um das Neutrino noch so manches Geheimnis. Eines dieser Geheimnisse möchte ein internationales Forscherteam nun lüften: sein Gewicht. Die Forscher stellen ihr Projekt in dieser Woche auf einer internationalen Fachkonferenz im italienischen Como vor.

Von Frank Grotelüschen | 19.10.2005
    Italienisch für Anfänger. Cuore: das Herz. Cuoricino: das Herzchen. Das sind die Vokabeln, mit denen sich Marisa Pedretti vom Italienischen Institut für Kernphysik herumschlägt. Denn Cuore und Cuoricino heißen die Experimente, mit denen Pedretti und ihre Kollegen herausfinden wollen, wie schwer das Geisterteilchen Neutrino eigentlich ist:

    " Erst seit etwa fünf Jahren wissen wir, dass Neutrinos überhaupt Masse besitzen. Das haben extrem große und aufwändige Experimente gezeigt. Aber diese Experimente haben nicht gezeigt, wie groß die Neutrinomasse ist. Sie muss extrem klein sein, das ist klar. Aber wie viel denn nun das Neutrino genau wiegt, das wissen wir noch nicht."

    Neutrinos entstehen bei radioaktiven Prozessen - etwa bei der Spaltung von Uran in einem Kernkraftwerk. Wenn ein Atomkern zerfällt, werden immer Neutrinos ausgesandt. Doch von dieser Regel könnte es eine Ausnahme geben, spekulieren die Forscher - eine besondere Art von radioaktivem Zerfall. Marisa Pedretti:

    " Der doppelte Betazerfall ist eine sehr seltene Art von radioaktivem Zerfall. Er könnte bei nur bei wenigen Sorten von Atomkernen passieren. Das Besondere dabei: Bei diesem Zerfall werden keine Neutrinos ausgesandt. Theoretisch gesehen ist das ein Unding, denn normalerweise entstehen bei radioaktiven Zerfällen immer Neutrinos."

    Aber würde man diesen doppelten Betazerfall dennoch beobachten, könnte man aus den Messdaten die Neutrinomasse direkt errechnen. Und dann könnte man herausfinden, welche Rolle das Neutrino in der Entwicklung des Universums gespielt hat - eine bislang ungelöste Frage. Doch um den exotischen Zerfall aufzuspüren, brauchen die Physiker vor allem eines - viel Geduld, so Pedretti:

    " Wir schätzen, dass es 10 hoch 24 Jahre dauert, bis ein einzelner Kern zerfällt. Das sind tausend Trilliarden Jahre. Man muss also extrem viele Kerne nehmen, um überhaupt eine Chance zu haben, diesen Zerfall zu beobachten."

    Der Versuchsaufbau, der das bewerkstelligen soll, heißt Cuoricino, auf deutsch: Herzchen. Eingebaut ist er in eine Höhle im italienischen Gran-Sasso-Massiv. Die Höhle tief im Berg schirmt die störende kosmische Strahlung ab. Kern des Experiments ist eine chemische Verbindung des Metalls Tellur - 62 Kristalle aus Telluroxid angeordnet zu einem Turm. Die Messung läuft mit enormer Präzision. Pedretti:

    " Wir halten das Tellur bei einer extrem tiefen Temperatur, bei einem hundertstel Grad über dem absoluten Temperaturnullpunkt. Zerfällt einer der Tellurkerne, setzt er Energie frei, und die Apparatur erwärmt sich ein wenig. Und diesen winzigen Temperaturanstieg wollen wir messen."

    Start Anfang 2003 nimmt Cuoricino Daten. Doch dass er fündig wird, gilt als eher unwahrscheinlich. Denn mit seinen 41 Kilogramm Tellur ist Cuoricino wohl zu klein - wie übrigens alle bisherigen Versuche, die zwar vage Hinweise auf die Existenz des doppelten Betazerfalls lieferten, aber noch keine schlagkräftigen Beweise. Deshalb basteln die Forscher bereits an der nächsten Stufe, Cuore genannt, bestückt mit einer Tonne Tellur. Das Kalkül: Je mehr Tellur da ist, desto mehr Zerfälle finden statt und desto größer ist die Chance, den doppelten Betazerfall zu beobachten. Anfang 2010 soll das 15-Millionen-Euro-Experiment losgehen. Damit wäre Cuore das erste wirklich große Doppelbeta-Experiment. Und hat es Erfolg, ist mit etwas Glück sogar ein Physiknobelpreis drin.