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Heuschober bis zum Horizont

Das bayerische Mittenwald ist bekannt - das nur wenige Kilometer entfernte Leutaschtal in Österreich hingegen ist wirklich noch ein Geheimtipp. Dabei war es einst ein beliebter Künstlertreffpunkt: Ludwig Ganghofer hatte im 19.Jahrhundert mehr als zwei Jahrzehnte lang dort eine Jagdhütte - Rainer Maria Rilke, Hugo von Hoffmannstal oder Richard Strauß waren seine Gäste.

Von Marion Neiteler-Vogt | 12.10.2008
    Von Deutschland aus erreicht man das langgestreckte Tal mit seinen insgesamt 24 Weilern am Besten, wenn man kurz hinter Mittenwald eine schmale Serpentinenstraße Richtung Telfs hinauffährt. Die enge Straße ist von hohen Tannen gesäumt, die ab und zu den Blick freigeben auf die 2000er ringsum - im Hintergrund liegt die Karwendelspitze, rechter Hand das Wettersteingebirge.

    Nach einigen hundert Metern dann erstreckt sich das dem Anschein nach unendliche Leutaschtal vor den Ankömmlingen. Ein kleines Schild signalisiert dem Gast, dass er die Landesgrenze zu Österreich passiert.

    Im Sommer führt die Straße hinauf zum ersten Ort vorbei an sattgrünen Wiesen, auf denen kaum zählbare Heuschober stehen - hinein in eine sanft blühende Landschaft, die für viele ein noch streng gehütetes Geheimnis ist. Im Winter ist die Idylle in eine weiße Winterwunderwelt verzaubert.

    Zwei Dutzend Ortsteile hat die Gemeinde Leutasch. Sie erstrecken sich über ein 16 km weites Hochplateau.

    Bäuerliches Brauchtum, dörfliche Kultur, authentisches Tiroler Dorfleben - eingebettet in den Lauf der Jahreszeiten - so ursprünglich erlebt der Gast das Leutaschtal - beim Kirchenwirt im Leutascher Ortsteil Platzl zum Beispiel.

    Hier spielt nicht selten der Bantel-Hansi auf, der Hans Neuner. Gemeinsam mit seiner Frau sorgt er mit der traditionellen Stubenmusik für das musikalische Ambiente zur Leutascher Veranstaltungsreihe "Kultur im Wirtshaus", eine Idee der Leutascher Gastronomen. Während es beim Kirchenwirt "Gustieren nach Rezepten der Pfarrersköchin" heißt, stehen im Gasthof zur Mühle am Eingang des Tales Schmugglerbraten und Wildererpfanne auf der Speisenkarte und im Restaurant "Alpenhotel zum See" Kräutergerichte aus Wald und Flur, inspiriert von der mittelalterlichen Äbtissin Hildegard von Bingen.

    Der Bantel Hans ist ein echtes Leutascher Urgestein - Wanderführer, Skilehrer und Volksmusiker in einem und er erzählt gerne und begeistert von seinem Tal:
    "Das Leutasch-Tal ist eine richtige Streusiedlung, mit 24 Ortsteilen, die sich über eine Länge von zirka 15 Kilometern verteilen. Das ganze Gemeindegebiet erstreckt sich über 103 Quadratkilometer, also eine relativ große Gemeinde und die hat eigentlich "nur" 200 Einwohner. Es ist ein naturbelassenes Tal, doch mit einer sehr guten Infrastruktur, aber das ist eigentlich die Besonderheit, dass wir großen Wert darauf legen, den Gästen Ruhe und Ursprünglichkeit zu bieten. "

    Ursprünglich, das ist es wirklich, dieses Tal, das nach Norden hin umgeben ist vom Wettersteinmassiv und dem Karwendelgebirge und dadurch geschützt vor rauen Winden. Und hoch liegt es - auf einer Seehöhe von 1130 Metern. Das ist auch für Allergiker gut: Hier im Hochgebirge gibt es weniger allergieauslösende Blütenpollen und Schadstoffe - die reine Bergluft ist außerdem entzündungslindernd. Und auch Menschen mit Herz-Kreislaufproblemen müssen sich hier nicht überfordern: Das Hochplateau bietet eine Fülle von Wanderwegen ohne große Steigungen. Die Höhe mobilisiert die Körperreserven und allein der Aufenthalt in den Bergen bedeutet ja schon einen Trainingseffekt.

    5000 Gästebetten gibt es im Leutasch-Tal - und viele Stammgäste, wie Ulrike Beinert aus dem weit entfernten Kiel:

    "Also, was uns hier besonders gut gefallen hat ist, dass wir hier für die ganze Familie Möglichkeiten gefunden haben. Unser kleiner Sohn kann noch nicht so weit wandern und dennoch konnten wir ihn motivieren, durch die Waldwege zu gehen und Stöcke zu schneiden und es wahr immer ein Argument, wir konnten mit dem Bus zurück, unser Auto konnten wir stehen lassen, das fand ich ganz klasse und sogar eine Alm haben wir geschafft. Es gibt nämlich Almen mit sehr unterschiedlich langen Aufgängen, da braucht man keinen Lift."

    Lifte und Gondeln sucht der Gast im Leutasch-Tal sowieso vergebens: Es geht nur für diejenigen hoch hinaus, die auch ihre Muskelkraft einsetzen: Einst fehlte das Geld für solche Investitionen, heute sind wie Bürgermeister Thomas Mößner die meisten im Tal froh, dass es so ist:

    "Es hat einmal einen Slogan gegeben: "Natürlich Leutasch" - den kann man zweifach deuten, also: natürlich, dass man das Leutaschtal besucht, dass natürlich Leutasch das Urlaubsziel sein sollte, aber auch die Natürlichkeit im Umfeld von Leutasch: Die herrliche Landschaft, die schönen Almen, die hochgebirgigen Täler, das Almenparadies Gaistal, oder jetzt die Leutaschklamm. Also, die Natürlichkeit mit Blumenwiesen, wie es ursprünglich immer so war. Idylle pur."

    Familie Beinert wohnt wie in jedem Jahr auf dem Tschaper-Hof, dem ältesten Haus im oberen Leutaschtal. Paul Wackerle, der gemeinsam mit Frau und Sohn den Hof als Reiterhof führt, erinnert sich noch, wie es war, als seine Eltern vor vier Jahrzehnten die ersten Gäste auf ihrem Bauernhof begrüßten:

    "Wir als Kinder haben müssen die Gäste immer mit so einem kleinen Handkarren an den bestimmten Gasthöfen abholen. Die sind mit der Reisegruppe mit dem Bus gekommen. Die Eltern haben uns dort hin geschickt, den Namen haben sie uns aufgeschrieben, dann ham mir auf den Bus gewartet, die Gäste empfangen, die Koffer aufgeladen, sind mit denen auf´n Bauernhof zurückgefahren. Es war so der Anfang des Tourismus für unsern Hof, so 1960. Da hat es früher nur ein Etagenklo gegeben und dann später eine Etagendusche, das war dann scho was ganz Feines."

    Mittlerweile bietet der Tschaper-Hof seinen Gästen gemütliche Appartements mit zwei Bädern und großem Balkon. Wer mag, bekommt ein reichhaltiges Frühstück serviert.

    Einmal in der Woche, an jedem Freitagnachmittag, öffnen die Leutascher Landwirte im nahegelegenen Kirchplatzl ihren kleinen Bauernladen. Johanna Krug ist von Anfang an dabei:

    "In Leutasch selber werden Milchprodukte angeboten, also Joghurt, Butter, Topfen und dann machmer auch Knödel und Kuchen. Mir ham a Wurst, was angeboten wird aus Leutasch, Kartoffel und eben meine Produkte, wo Kräuter, Marmeladen und Sirup. Zukaufen müssmer die Hauptkäsesachen, Bergkäse wird in Leutasch nicht produziert, Speck kaufmer zu, weil bei uns in Leutasch das Schweinefutter net wächst, weil wir nur Grünland haben, da liegen wir zu hoch dazu, dann Schnaps wird auch zugekauft, weil Obst wächst auch net heroben, Honig müssmer zukaufen von Bauern, wos im Inntal seien, das sind aber alles Tiroler Produkte. Schafwollprodukte bieten wir an, weil Schafe ham wer im Leutasch reichlich."

    Gerne führt Johanna Krug die Urlauber durch ihren großen, herrlichen Bauerngarten und erklärt ihnen, was dort alles wächst:
    "Also, ich hab da jetzt Zitronenmelisse, Pfefferminze, Apfelminze, alte Sachen, zum Beispiel hier oan Baumspinat, und a Luftradieschen, was keiner mehr kennt. Das gibt's den guten Heinrich zum Beispiel, das ist der Urspinat, der wachst wirklich hinter jedem Stadel bei uns, nur kennt ihn keiner mehr, weil man ihn vergessen hat durch das, das man heut alles zum kaufen kriegt. Dann der Frauenmantel, heißt eigentlich im Volksmund aller Frauen heil und ist wirklich für alle Frauenkrankheiten gedacht und ma brauchet eigentlich, wenn's wo zwickt, nur mal hinters Haus gehen und a Tee machen damit."

    Das Leutaschtal ist ein Wanderdorado mit fantastischen Fernsichten: wer etwa auf die Hohe Munde steigt, einem Ausläufer des Mieminger Gebirges, der erhascht einen Blick auf den höchsten Berg Deutschlands. Über den breiten Wanderweg dauert der Aufstieg bis zum "Zugspitzblick" etwa zwei Stunden. Von der Rauthhütte aus führt ein kleiner Pfad, der gesäumt ist von zahllosen Blaubeersträuchern, bis zum Aussichtspunkt.

    Das Leutaschtal ist eines der besten Klettergebiete der Alpen - hier kann man sogar im Winter klettern: Man glaubt es kaum, aber selbst wenn anderthalb Meter Schnee liegen, auf dem Hochplateau hangeln sich die Kletterer auf über 200 verschiedenen Routen die sonnenbeschienenen Felswände hinauf.

    Neben Mittenwald haben die Leutascher noch eine berühmte Nachbarin: Die Stadt Seefeld. Die Orte Seefeld, Leutasch, Reith, Mösern und Scharnitz haben sich zum Tourismusverband "Olympia-Region Seefelder Plateau" zusammengeschlossen, auch, um durch gemeinsame Werbeaktionen den Sommertourismus anzukurbeln.

    Im Winter hat man sich in Leutasch auf den Ski-Langlauf spezialisiert und ist nun größtes Langlaufzentrum der Alpen mit über 260 km gespurten Langlaufloipen von klassisch bis Scating. Auch in wärmeren
    Wintern liegt hier oben auf 1200 Metern Seehöhe noch genügend Schnee - mehr als ein Drittel des Jahres übrigens.

    Wer auch im Winter lieber wandert, als sich die Skier anzuschnallen, dem bieten sich 80 km geräumte Winterwanderwege für ausgedehnte Spaziergänge in verschneiter Umgebung an. Einige Almen und Hütten sind auch im Winter geöffnet und laden zum Aufwärmen bei einem heißen Tee oder Glühwein ein. Durch die idyllische Winterlandschaft kann man sich auch mit einem Pferdeschlitten kutschieren lassen.

    Während die Eltern Eisstockschießen, können die Kinder eine paar Runden auf dem Natureislaufplatz drehen.

    Fünf Rodelbahnen und ein Kinderrodelhügel liefern Rodelspaß pur.

    Von Skipisten vernarbte Berghänge gibt es im Leutaschtal keine. Auf mehr als der Hälfte des gesamten Areals der Gemeinde Leutasch wachsen darum Fichten- und Lärchenwälder - die auch heute noch passionierte Jäger ins Tal locken. Die Bedeutung des Weidwerkes drückt sich in einer Reihe großer Namen von Jagdherren aus, wie Herzog von Altenburg, Fürst Fürstenberg, Baron von Neurath und natürlich Ludwig Ganghofer. Ende des 19. Jahrhunderts pachtete er eine Jagdhütte und behielt sie mehr als 20 Jahre lang.

    Das Ganghofer-Museum in Kirchplatzl dokumentiert Leben und Werk des Schriftstellers, der 1855 geboren wurde und 1920 starb. Ganghofer war der meistgelesenste Autor seiner Zeit. Professor Emil Braito, Autor einer umfassenden Ganghofer-Monographie, lebt im Leutaschtal. Er betreut den Ganghofer-Nachlass und führt die Besucher durch das von ihm initiierte Museum, in dem sich ein besonderer Schatz befindet:

    "Das ist seine Autobiographie. Die heißt "Lebenslauf eine Optimisten", das ist sehr gut zu lesen und bringt sehr gut Kolorit der Zeit zum Ausdruck, man könnte auch sagen, den Alltag, aber nicht nur den Alltag, sondern auch die politischen Umstände damals. Es war ja zwar kein Krieg, Ganghofer war noch zu jung für den deutsch-französischen Krieg, was er sehr bedauert hat, dass er nicht konnte für das Vaterland kämpfen und diese Zeit also kann man hier wirklich nacherleben, auch die Schulverhältnisse und - na ja, soll' mer das auch noch sagen: das Verhältnis zur Kirche: Ganghofer war eindeutig anti-klerikal, das kann man nicht verschweigen, aber er war nicht antichristlich, das kann man nicht sagen. Von der Kirche hielt er schon nichts und das war halt in dieser Zeit eben auch das Unfehlbarkeitsdogma herausgekommen. Dann hat er größte Schwierigkeiten gehabt mit der Ehelosigkeit der Priester und derartige Dinge, die haben ihm einfach nicht gepasst also. "

    Emil Braito ist erster Repräsentant der Deutschen Ganghofer-Gesellschaft in Österreich. Wer ihm lauscht, der sieht den oft unterschätzten Ganghofer in einem ganz anderen Licht.

    Seinen Jagdsitz hatte Ganghofer im Gaistal, das die Leutascher ihr Almenparadies nennen. Der Bergwanderer beobachtet Gemsen und Murmeltiere, deren durchdringendes Pfeifen die anderen Tiere am Berg warnen soll.

    Nach einer ausgedehnten Wanderung, Berg- oder Klettertour ist das Alpenbad Leutasch mit seiner Wasserrutsche und Erlebnissauna mit Dampfbad, Felsengrotte, Wasserfall und Sauna-Bungalow der richtige Ort, um sich zu entspannen und seine Muskeln zu lockern.

    Ein weitläufiges Radwegenetz lädt gemütliche Fahrradfahrer und sportliche Mountainbiker zu abwechslungsreichen Touren ein.

    Sommerrodelbahn, Reiten, Minigolf, Bogenschießen, eine Wasserspiel- und Kneippanlage an der Leutascher Ache, Angeln für Jedermann, Tennis und Squasch - das breite Freizeitangebot zeugt davon, dass Leutasch zwar noch ursprünglich, aber keineswegs verschlafen ist.

    Besonders erwähnt sei noch die Leutaschklamm: Die bis zu 70 Meter tiefe Klamm soll das Reich des Klammgeistes sein, der weit unten in seinem tosenden Schloss aus sprudelnden Strudeln und Wirbeln, aus rauschenden Kaskaden und bizarren Felswänden sein Unwesen treibt. Ein kühner Steig lässt atemberaubende Einblicke in die Behausung des Klammgeistes zu - in die geheimnisvolle Erlebniswelt aus Wasser und Stein. Am Klammausgang bei Mittenwald führt der 200 m lange Wasserfallsteig tief in die Leutaschklamm hinein und endet beim 23 Meter hohen Wasserfall.

    Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass der gestresste Zeitgenosse im Leutaschtal mit seinen vielen Naturerlebnissen und seiner Ursprünglichkeit Balsam für die Seele ist. Und man fühlt sich als Tourist willkommen, wie Sönke Beinert erfahren hat:

    " Wenn ich das versuche zusammenzufassen ist es eigentlich, dass ich das Gefühl habe, dass man noch als Mensch aufgenommen wird, dass man nicht eine Nummer ist, und sagt: Mensch, der ist jetzt zwei Wochen mehr, den kassieren wir ab, sondern alle denen man begegnet, sind noch herzlich, man wird als Gast, als Freund aufgenommen."