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Heuschrecken

Sie hat schon eindringlichere Bücher geschrieben, Baroness Rendell, wie sie von sich heranrobbenden Kollegen gern angesprochen wird. Vor fünf Jahren wurde die in East London geborene Kriminalschriftstellerin von Tony Blair in den Adelsstand erhoben. In Deutschland wäre so etwas nicht passiert. Beklemmende Szenarien hat sie ausgemalt, die härteste Darstellung von Psychoterror zwischen Frauen stammen von ihr und atemberaubendere Plots als in Grashoppers - Heuschrecken heißt ihr neuer Roman. Doch wer will klagen, wenn ein Chateau Neuf du Pape mal nicht so munden will,er bleibt ein Wein von hohem Rang und so ist auch der neue Vine ein prickelnder, genußssoll zu durchschmökender, der unterhalten will und allen wohl, niemandem gar weh und keinen gar erschrecken. Barbara Vine:

Jochanan Shelliem |
    Auch die Atmosphäre in Schwefelhochzeit habe ich nicht grausam schildern wollen. Als "dunkel" würde ich sie charakterisieren, grausam wäre nicht das rechte Adjektiv, doch auch, wenn mein neuer Roman sehr heiter ist, wirken einige Szenen eher schockierend, vor allem die, in der sich der Junge auf dem Hochspannungsmast am Stromkabel seine Zigarrette anzünden will. Im Grunde aber ist es eine Liebesgeschichte, die ich hier erzähle.

    Eine Liebesgeschichte mit Suspense, die mit den folgenden Worten beginnt:

    Sie haben mich hierhergeschickt, weil das mit dem Mast passiert ist. Oder vielleicht, damit ich nicht jedesmal, wenn ich aus dem Haus gehe oder auch nur aus dem Fenster gucke, den Mast sehe.

    Clodagh ist siebzehn, als sie den Hochspannungsmast hinter dem Haus der Eltern besteigt. Spiderwoman nennt sie ihr Freund, der den Geruch von Freiheit und Gefahr mit ihr genießen will, im Abendrot über dem Feld, hinter dem Haus der Eltern. Und dann der Spaß, als Daniel sich die Zigarette am Stromkabel anzünden will.

    Er tat etwas, was ich wohl nicht gewagt hätte. Er stieg über die Streben, zog sich hch und stellte sich auf den untersten Arm, den waagerechten Träger, an dem zwei Leitungen hängen, eine auf jeder Seite. Mit der linken Hand hielt er sich an der Senkrechtstrebe fest, mit der rechten Hand, die Zigarette zwischen den Fingern, langte er nach oben. "Na los!" sagte er. "Na los!", vielleicht auch: "Famos!" - ich habe nie erfahren, was es war. Aber ich sah ihn deutlich und werde ihn immer so sehen wie in diesem Augenblick, im Zwielicht vor dem dämmerroten Himmel, einen großen mageren Jungen in Bluejeans, der breitbeinig, mit windgezaustem dunklen Haar, auf dem Querträger des Mastes stand. Er lachte, wie berauscht von der Höhe, der Himmelsnähe, war im wahrsten Sinne des Wortes obenauf. Dann langte er zu dem zweiten Arm hoch, dem baumelnden Isolator und dem Stromleiter. Barbara Vine:

    Lange bevor ich zu schreiben angefangen habe, entscheide ich, ob es ein Vine wird. In diesem Fall habe ich über Menschen schreiben wollen, die auf Hochspannungsmaste steigen und als mir dies klar geworden ist, wußte ich: das wird ein Vine.

    Fünfzig Romane hat Ruth Rendell bis heute geschrieben, davon mehr als ein Dutzend unter ihrem zweiten Vornahmen Barbara, sowie dem Mädchennamen ihrer Großmutter, Vine. Und wenn es also ein Vine geworden ist, dann wissen alle Kritiker, es gibt keinen Kommissar und die Menschen sind getriebene oder zumindest in ihren Verhältnissen verfangene. Wie es sogar die junge Heldin des Romans in ihrem Tagebuch notiert, die nach dem Tod ihres jungen Geliebten nach London verfrachtet wird, in ein Verließ, doch davon später mehr:

    Mit vierzehn hatte ich allerdings ein Buch über die Ausbildung von Elektrikern für die Arbeit an stromführenden Drähten gelesen. Es schien nicht weiter schwierig zu sein, man mußte sich nur ein bißchen vorsehen. In dem Buch stand eine Geschichte über einen Mann, der ein Wegbereiter für die Arbeit an stromführenden Übertragungsleitungen war und sich in einem Stahlgitterkäfig zu der Leitung hatte hochziehen lassen. Dieser Käfig ist der springende Punkt, wie man noch sehen wird. Er hatte sich aus dem Käfig gelehnt und sich an dem Strom seine Zigarette angezündet. Was er gekonnt hat, sagte ich mir, kann ich auch, dumm nur, daß ich nicht rauchte. Im Jahr darauf fing ich mit Rauchen an.

    Clodagh also hätt' es besser wissen müssen. Hätte sie ein anderes Buch gelesen, wäre Daniel nicht verglüht. Was als Prolog erscheint, das konjugiert die Kriminalautorin mit spitzer Feder und Sarkasmus en detail. Die Klaustrophobin Clodagh kommt nach London, bezieht Quartier im Souterrain bei ekelhaften Freunden ihrer Eltern, die froh sind die Kindmörderin im Dorf nicht mehr zu sehen. Und dann trifft sie auf Silver und seinen Freundeskreis. Aus wechselnder Perspektive, mal als knapp zwanzigjähriges Greenhorn, mal abgeklärt als glückliche Elektrikermeisterin erzählt Clodagh von ihrer gang. Die Lebensläufe der fünf Freunde auf dem Dach, verweben sich zu einer klaustrophobischen Szenario, jeder flieht vor dem eigenen Trauma, mit jedem Schritt wird das Blickfeld verengt. Banal und voller Platitüden erscheint der Weg des Einzelnen im Blick zurück. Da ist Liv aus Schweden, die als Au Pair Mädchen drei Kinder aufgebürdet sich im Luxus wiederfindet und nach einem Autounfall in Silvers Mansarde flieht, Liv fühlt sich verfolgt, weil sie das Wechselgeld der Arbeitgeber behalten hat, zweitausend Pfund schleppt sie mit sich herum. Liv sucht einen Beschützer und der Kleinkriminelle Johnny:

    Seine Mutter war an einer Überdosis Heroin gestorben, als er zwei war. Sein Vater hatte schon den Vierjährigen mißbraucht und reichte ihn später unter seinen Bekannten herum.

    Johnny nimmt sich ihrer an. Doch nicht die Vogelperspektive beleuchtet Barbara Vines' Suspense, es ist der hüpfende Blick mit dem die sich Erinnernde von den wilden Tagen auf den Dächern in der Russia Road erzählt. Die Russia Road, es gibt sie nicht, wie Vine erklärt, aber die Blicke der Dachsteiger schwingen über reale Szenerien.

    Dort oben gab es nichts zu kaufen oder zu verkaufen, gab es keine Werbung, keine Gebots- oder Verbotsschilder, keine schrillenden Telefone, keine Fernsehschirme - nur Antennen, die das Fernsehen speisten - , keine Musikberieselung, keine Vorschriften und auf seltsame Weise auch keine Zeit. Silver nahm, ehe er auf die Dächer stieg, seine Uhr ab, und ich machte es ihm nach. Einmal, Anfang Juli, schliefen wir dort oben, Silver und ich. Wir hatten uns das Flachdach eines der Reihenhäuser in Torrington Gardens ausgesucht und Schlafsäcke und einen Futon, zwei Polster des Ledersofas und eine Decke aus dem Fisherton-Verlies mitgenommen. Es war ein dunkler Abend, nur ein zitronenschnitzschmaler Mond stand am Himmel, und über den Peitschenmasten hing dieser rötlich-rauchige Schleier, der so typisch für Londoner Nächte ist. Wir sahen den Tag kommen, sahen eine runde rote Sonne über der City aufsteigen, die den gläsernen Türmen einen phosphorfarbenen Anstrich verlieh und dann, heller und formloser geworden, rosa- und fliederfarbene Federn über den Himmel streute. Es war kalt so früh am Morgen, frostig wie im Dezember. Wir kuschelten uns in die Schalfsäcke und tranken den heißen Milchkaffee aus unserer Thermosflasche. Die Sonne stieg höher und strahlte wärmer, unten auf den Straßen setzte der Verkehr ein, und die Menschen eilten zur U-Bahn-Station Warwick Avenue. In Torrington Gardens tauchte ein Hund auf, blieb auf dem Gehsteig stehen und bellte etwas hinter einer Fensterscheibe an, was wir nicht erkennen konnten. Barbara Vine

    Ich habe die beiden Generationen nicht miteinander vergleichen wollen. Auch wenn Clodaghs Eltern in den Roaring Sixties aufgewachsen und zu recht verknöcherten Figuren geworden sind, so habe ich doch allein von jungen Leuten erzählen wollen, die gefährliche Dinge tun. Nicht weil sie gegen ihre Eltern rebellieren wollten, sondern nur, weil sie ihre Grenzen austesten wollten. Das hatten auch ihre Eltern zu ihrer Zeit getan. Und beim Beschreiben ihrer Kletterpartien auf dem Dächern dachte ich an ihre Lust so hoch über der Welt zu stehen. An das Gefühl von Freiheit und Flucht in diesen Höhen, fern aller Menschenmassen, fern all der Niederungen des Lebens, fern aller Depressionen. Frei sein und fern aller Verbote, die einem irgendetwas untersagen wollen. Und vor allem Clodagh findet sich in meinem Roman stets von diesen Erwachsenen eingekreist, die ihr alles verbieten wollen. Sie findet aus diesem Belagerungszustand einen überraschenden Ausweg, sie flieht auf die Dächer, wo ihr keiner etwas sagen kann.

    Die Erwachsenen in diesem Roman kommen nicht gut weg. Bis auf die toleranten Eltern Silvers und die von Schlagzeilen observierten ominösen Nachbarn, die mit ihrem Adoptivsohn vor dem Jugendamt fliehenden, die meisten grau gewordenen Blumenkinder in der Russia Road sind schreckliche Spießer. Insofern erscheint der neue sanfte Thriller von Barbara Vine trotz aller Dementis auch als Studie der Generationen, aber als eine Studie, die kaum verschreckt und anders als in den bedrückenden Szenario früherer Vine Romane, wie Salomons Tepppich, kaum zu neuen Erkenntnissen führt, trotz aller Einsamkeiten, trotz aller Abstürze auf dem Aussichtsplatz über den Dächern Londons.