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Heute Kant

Haben wir etwas nicht mitbekommen? und – haben wir uns denn alle geirrt? War uns nicht von Heine gesagt worden, dieser Kant habe weder ein Leben, noch eine Geschichte gehabt. Und haben wir nicht Heideggers Diktum zu Aristoteles: "Erwurde geboren, er dachte und er ist gestorben. Alles andere sind reine Anekdoten!" längst auf Kant übertragen? Und weil Kant philosophiert, ganz sicher aber nicht gelebt (gelebt!) hat, konnte Nietzsche seinen ungebrochenen Vitalismus dem Königsberger Chinesentum entgegensetzen. Bei Kant ist kein geheimes Tagebuch zu finden wie bei Wittgenstein. Die Textsorte der "Confessiones" mag für Augustinus und Rousseau gelten, für Kant nicht. Und auch die Treppe hat er – anders als Schopenhauer- keinen heruntergeworfen. Und hätte es nicht Diener Lampe gegeben, wir hätten bis vor kurzem kein Licht in Kants Gemächer werfen können.

Von Matthias Sträßner |
    Wenn wir aus den Biographien, aus den Interviews und den Beiträgen des Jahres 2004 irgend etwas neues erfahren, dann das: ja, er hat gelebt, und er muss – eine weitere Silbe ist nötig- sich aus-gelebt haben! Und wie! Königsberg war nicht dieses langweilige Nest, als das wir es in Erinnerung hatten, sondern war vergleichbar mit Neapel, Venedig oder Lissabon, weswegen das Erdbeben von Lissabon den Hanseaten auch so betroffen haben muss! Kant war, das sagen uns die neuen Biographen, kein Griesgram, sondern eher ein Beau, voll von Esprit, der in seinen frühen Zeiten bei Buchhändler Cantzen schmunzelnd über einem Bordell zu wohnen kam. Und plötzlich verwandelt sich der Begriff des "Tischgesprächs" in das Wort "Salon", knisternd wie roter Samt , und weil der Philosoph auch noch 60000 Taler hinterlässt, fraglos ein großes Vermögen, stellen wir fest: so haben wir uns den Königsberger Philosophen-Tycoon bisher nicht vorgestellt!

    Das gilt auch für seine Beziehung zu Frauen. Wenn von Kant keine Frauen-Beziehung bekannt geworden ist, dann eben nicht, weil er ein Hagestolz, sondern weil er ein Hedonist gewesen ist! Und wer seit gestern seinen Ehevertrag neu verhandeln muss, kann ja bei Kant nachlesen, dass : (Zitat) "der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des anderen macht, ein Genuß ist, zu dem sich ein Teil dem anderen hingibt. In diesem Act macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Recht der Menschheit an seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, dass, indem die eine Person von der anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe."
    Das soll ein Hagestolz gesagt haben? Kant war ein Lebemann, und es fehlt nicht viel, da würden wir ihn mit Oscar Wilde verwechseln.

    So schießt unsere Memorialkultur ihr Routine-Feuerwerk ab: das tägliche Kant-Zitat, Kant auf Seite 3, und im Lokalteil bleibt keine Apotheke, kein Friseur und keine Curry-Wurst in den Kantstraßen der Republik unbefragt.

    Dabei zeigt dies doch nur eines:
    Die bislang fehlende "Privatheit" bei Kant war genau so Fiktion und Teil einer "preußisch" zu nennenden Rezeption, die auf Kants Verträglichkeit mit Pflicht und Kasernentauglichkeit aus war, wie die jetzige Entdeckung des privaten Kant ein Teil unseres täglichen hedonistischen Pflichtprogramms ist. Früher lasen wir die Schriften des Philosophen und lachten über die Skurrilitäten des Menschen Kant. Heute muss er mit uns an den Tresen des Zeitgeistes sitzen und mitlachen, sonst bleibt er uns unvorstellbar.

    Ob dabei unser neuer Zugang das Wörtchen "kritisch" in dem Sinne verdient hat, wie Kant das Wort wohl verstanden hätte, kann dahingestellt bleiben. Aber da der 12.Februar im Jahr 2004 zufällig in die Zeit des Karnevals fällt, liegt uns zumindest ein "Kant! Helau" auf der Zunge.