Autobiographisch sei Herta Müllers Prosa, so heißt es oft. Autobiographisch, weil die Autorin offenkundig und nachhaltig an einem Thema, ihrem Lebensthema, festhält: an den Jahren, die sie bis 1987 in Rumänien Ceausescus, genauer: im Banat, verbrachte. Von „Niederungen“, dem Erzähldebüt aus dem Jahre 1982, bis zu den zuletzt erschienenen großen Romanen „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ und „Herztier“ reichen diese Erinnerungsexkursionen in die Zeit einer unerbittlichen Diktatur, und auch Herta Müllers neuer Roman "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" greift zurück auf diese Erfahrungen. Dennoch sind ihre Texte alles andere als ungefilterte Umsetzungen des persönlich Erlebten. Sie habe, notierte Herta Müller vor ein paar Jahren in einem poetologischen Text, "nie unmittelbar das aufgeschrieben, was sie erlebt habe". Selbst wenn sie in der Ich-Form spreche, müsse "diese sich so weit von sich selbst entfernen, daß sie sich erfinde".
Das gilt auch für Herta Müllers neues Buch. Schon nach wenigen Seiten erübrigt sich die Frage, ob und inwieweit das Erzählte auf autobiographischem Material fußt. Die eine oder andere Episode läßt sich in älteren Arbeiten, etwa in dem Essayband „Hunger und Seide“ von 1995, aufspüren, doch solche Funde erklären wenig. Denn es geht in "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" um die allgemeine Lebensatmosphäre in entwürdigenden Umständen; es geht um den Alltag in einer rumänischen Kleinstadt, um die Qualen einer jungen, selbstbewußten Frau, die unverdrossen nach Glück sucht, was immer ihr die Welt auch an Widrigkeiten entgegensetzt.
Herta Müllers Ich-Erzählerin spannt in lockerer Chronologie einen Bogen, der von den achtziger Jahren, als sie mit Paul, einem Techniker, in einem stadtbekannten Turm wohnt, reicht bis in das ländliche Zuhause ihrer Vorfahren. Momente des hoffnungslos scheinenden Alltagsgeschehens durchdringen ihre Erinnerungen; sie erzählen vom Schlangestehen um die wenigen Lebensmittel, von der Schwarzarbeit, von der Sehnsucht, "Exportkleider" zu tragen oder gar ins westliche Ausland, nach Italien zum Beispiel, zu gelangen, und von der tagtäglichen Flucht in den betäubenden Alkohol:
"Kurz nach vier sind auf der Ladenstraße unten die Lieferwagen angekommen. Sie zerreißen die Stille, brummen viel und liefern wenig, einige Kisten mit Brot, Milch und Gemüse und viele mit Schnaps. Wenn da unten das Essen ausgeht, finden Frauen und Kinder sich damit ab, die Schlangen gehen auseinander, die Wege führen nach Haus. Aber wenn die Flaschen ausgehen, verfluchen die Männer ihr Leben und ziehen das Messer. Die Verkäufer reden ihnen zu, aber das hält nur, bis sie wieder draußen sind. Sie gehen auf die Suche, streichen in der Stadt herum. Die ersten Schlägereien gibt es, weil sie keinen Schnaps finden, die nächsten, weil sie vollgesoffen sind.
Der Schnaps wächst zwischen den Karpaten und der dürren Ebene im Hügelland. Da stehen Pflaumenbäume, daß man die winzigkleinen Dörfer dazwischen kaum sieht. Ganze Wälder, im Spätsommer blau angeregnet, die Äste tragen sich krumm. Der Schnaps heißt wie das Hügelland, doch niemand benutzt den Namen auf dem Etikett. Namen bräuchte er keinen, es gibt nur einen Schnaps im Land, und die Leute nennen ihn nach dem Bild des Etiketts: 'Zwei Pflaumen'. Die beiden Pflaumen mit aneinander gelehnten Wangen sind den Männern so vertraut wie den Frauen die Heilige Maria mit dem Kind. Es heißt, die Pflaumen zeigen die Liebe zwischen dem Trinker und der Flasche."
Herta Müller erzählt von blanker Verzweiflung, und dennoch gibt ihre Hauptfigur nicht auf, die unauffälligen Augenblicke des Glücks aufzuspüren. "Über das Leben gibt es viel zu sagen. Über das Glück nichts, sonst ist es keines mehr", heißt es an einer Stelle lapidar. Sie sind flüchtig, die kleinen hellen Momentaufnahmen des Lebens. Glück, das ist beispielsweise zu spüren bei der Motorradfahrt mit Paul durch die Bohnenfelder, Glück, das ist zu ahnen beim Tanzen, beim gemeinsamen Lachen über dies und das. Bewunderswert ist die Fähigkeit der Erzählerin, auch in den Augenblicken größter Erniedrigung nach dem Überraschenden und Schönen Ausschau zu halten. Herta Müller selbst hat dies einmal sehr konkret festgehalten: "Wo ich mit den Füßen stehe, stehe ich nicht immer mit dem Kopf." Der Diktatur darf, mit anderen Worten, keine Allmacht über die eigene Existenz eingeräumt werden, was immer auch passieren mag. Es gilt, sich seine lebensnotwendigen Nischen zu schaffen und freizuhalten, und warum sollen diese nicht eine Spur von Glückseligkeit verheißen?
"Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" konnte freilich kein Roman übers Glück werden. Denn zu stark dominiert ein Gefühl der Furcht, das sich bereits im allerersten Satz niederschlägt: "Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn." Herta Müllers Protagonistin ist in die Fänge der Sicherheitspolizei geraten. Eine Denunziation macht sie zum Stammgast im Büro des Major Albu. Die Arbeit in der Kleiderfabrik hat sie verloren: Ihr Vorgesetzter Nelu, der auf einer Geschäftsreise eine kurze Affäre mit ihr hatte, kann nicht verstehen, daß nach der Rückkehr alles vorbei sein soll. Die unerschrockene Standfestigkeit der Frau quält seine gekränkte Männlichkeit, und er geht zur Geheimpolizei, mit Beweismitteln, die er selbst angefertigt hat. Seitdem weicht die Angst nicht mehr vor der Erzählerin: die Angst vor willkürlichen, nutzlosen Verhören, die Angst vor der Verhaftung, und selbst wenn die kleinen Dinge des Alltags - eine Nuß, eine Bluse -, denen in beschwörender Geste magische Kräfte zugewiesen werden, helfen auf Dauer nicht weiter. Sie suggerieren Unverwundbarkeit, doch die Angst kehrt zurück.
Herta Müllers Erzählkunst besteht darin, nicht den Befragungsterror selbst, sondern die vorangehende Beklemmung des Opfers ins Zentrum zu rücken und die Versuche, in Gedanken die Methoden des Terrors immer wieder ad absurdum zu führen. Ein Beispiel: Als ihr Hausverwalter einräumt, sie seit längerem zu bespitzeln, hilft sie dem überforderten Untertan weiter. Von ihrem knappen Geld kauft sie ihm ein Rechenheft, auf daß er die Zeiten des Gehens und Kommens bequem notieren kann. Das Geschenk erweist sich zwar leider als ungeeignet - es ist zu groß und auffällig -, doch zwischen Täter und Opfer entsteht eine unheimliche Allianz.
Dennoch ändern diese verzweifelt-koketten Spiele nichts daran, daß die Staatsmacht am längeren Hebel sitzt. Sosehr sich der einzelne ein paar Augenblicke lang über sein Leid erheben mag, so unzweifelhaft bleibt, welch ungleicher Kampf hier abläuft. "Weil ich nichts bin, außer bestellt", muß sich die Hauptfigur deshalb mit verzweifeltem Trotz eingestehen. Der Gewalt der diktatorischen Maßnahme gelingt es, die Lebensbezüge des einzelnen zu kappen. Alles, die Tage, die Nächte, alles läßt sich nur noch in Verbindung zum Vorladungstermin denken. Das Individuum wird ausgelöscht, das Regime vereinnahmt sämtliche Gedanken und macht Menschen zu Marionetten. Der Inhalt des angekündigten Verhörs bleibt folglich in Herta Müllers Szenarium belanglos: Eine von Erinnerungen und Assoziationen begleitete Straßenbahnfahrt zu Major Albus Amtssitz bildet den Rahmen, doch der Roman endet, bevor die Ich-Erzählerin an ihr verhaßtes Ziel gelangt, ja, er endet, so scheint es, mit dem Entschluß, der Vorladung zum erstenmal nicht Folge zu leisten - welche Konsequenzen dies auch hervorrufen wird.
Ein Leben unter solchen Vorzeichen ist ein Leben, das allein widersinnige Alternativen läßt. Der stille Terror der Diktatur gibt die Gesetze vor:
"Ich wollte wissen, wie das Leben spielt, und ging auf dem Heimweg vom Schuster alle Möglichkeiten vom Sattwerden der Welt durch. Die erste und beste: Nie bestellt und nie irr werden, wie die meisten. Nie bestellt, aber irr werden, wie die Frau des Schusters und Frau Micu neben dem Eingang unten, ist die zweite. Die dritte: Bestellt und irr werden, wie die zwei um den Verstand gebrachten Frauen in der Anstalt. Bestellt und nie irr werden, wie Paul und ich, das ist die vierte. Nicht besonders gut, aber in unserem Fall die beste Möglichkeit. Auf dem Gehsteig lag eine zerquetschte Pflaume, Wespen fraßen sich satt, neugeschlüpfte und alte. Wenn eine ganze Familie Platz hat auf einer Pflaume, wie muß das sein. Die Sonne zog es aus der Stadt in die Felder. Auf den ersten Blick war sie grell geschminkt für den Abend, auf den zweiten war sie angeschossen - rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn, hatte Lillis Offizier gesagt. Ja, das ist die fünfte Möglichkeit: Sehr jung sein, schön bis zum Gehtnichtmehr, nicht irr im Kopf, aber tot. Um tot zu sein, muß man nicht Lilli heißen."
Lilli ist eine Arbeitskollegin der Erzählerin, die mit ihrem Liebhaber, einem ältlichen Offizier, nach Ungarn zu flüchten versucht und dabei erschossen wird. Ihre Geschichte ist nur eine von vielen, die in Herta Müllers Roman aufgeblendet werden. Zusammen bilden sie ein Mosaik von Episoden, die selten fröhlich und meist traurig enden. Da ist die Affäre des Vaters mit einem Mädchen vom Gemüsemarkt; da ist Pauls Entlassung, weil er in Schwarzarbeit Antennen bastelt, mit denen sich dem Bukarester Fernsehprogramm zumindest die dürftigen Gegenbilder aus Budapest oder Belgrad entgegenhalten lassen, und da ist der Ex-Schwiegervater der Erzählerin, der als Parteiaktivist einst die Enteignungspolitik vorantrieb und Jahre später versucht, unter falschem Namen an die Stätten seiner Untaten zurückzukehren. Und da sind, nicht zuletzt, die fremden Personen, die auf der Straßenbahnfahrt zum Verhör begegnen: die alte Frau, die nicht weiß, wohin, die junge Frau, die gierig eine Portion Kirschen vertilgt, oder der gelangweilte Fahrer, der nach Belieben festlegt, wann sich sein schrottreifes Vehikel in Bewegung setzt.
"Die Straßenbahn hat keine festen Fahrtzeiten. Mir scheint sie rauscht, wenn es nicht die hartblättrigen Pappeln sind. Sie kommt schon angefahren, heute will sie mich gleich mitnehmen. Ich hab mir vorgenommen, den alten Mann mit dem Strohhut beim Einsteigen vorzulassen. Als ich kam, stand er schon an der Haltestelle, wer weiß wielange. Gebrechlich ist er zwar nicht, aber dünn wie sein Schatten, bucklig und matt. In der Hose ist kein Hintern, keine Hüften, nur die Knie sind ausgebeult. Aber wenn er nun ausgerechnet jetzt, wenn die Wagentür aufgeht, auf den Boden spucken muß, steig ich doch vor ihm ein. Es sind fast alle Sitze frei, und er sucht sie mit den Augen ab und bleibt dann stehen. Daß so alte Leute nicht müde sind und sich das Stehen nicht für dort aufheben, wo man nicht sitzen kann. Manchmal hört man alte Leute sagen: Auf dem Friedhof liegt man noch lang genug. Dabei denken sie gar nicht ans Sterben, und sie haben auch recht. Es ging noch nie der Reihe nach, es sterben auch Junge. (...) Man sagt, so alte Leute spüren mehr als junge. Vielleicht sogar, daß ich ein kleines Handtuch, Zahnpasta und eine Zahnbürste in der Handtasche habe. Und kein Taschentuch, denn weinen will ich nicht."
Allen diesen Beobachtungen und Geschichten ist der Grundsatz eigen, daß erst das Vergangene erzählbar ist und daß es vor allem die Übel und Nöte sind, die das Erzählen stimulieren: "Über gelaufene Jahre läßt sich gut reden, wenn sie schlecht gelaufen sind. Doch wenn man sagen müßte, wer man jetzt beim Atmen ist, läge der Zunge entlang nichts als mulmiges Schweigen." In diesen beiden Sätzen steckt eine Leitidee von Herta Müllers Büchern. Sie erläutern auch, warum diese Autorin so bewundernswert beharrlich an ihren rumänischen Erfahrungen festhält. Über deren Essenz ist nämlich noch längst nicht genug gesagt. Von daher läßt sich auch entkräften oder zumindest in Frage stellen, was manche Kritiker Herta Müller mitunter vorhalten: Wäre es allmählich nicht an der Zeit, den Erzählzyklus zu beenden, der das Leben unter Ceausescu spiegelt? Und gälte es allmählich nicht, sich neuen Themen, der Gegenwart der Bundesrepublik beispielsweise, zuzuwenden? Herta Müller kann und will dies nicht: Die jüngste Vergangenheit besitzt nicht die nötige Patina, um in dieser Intensität erinnerungsfähig zu sein, und sie ist wohl auch nicht mit jenem Leidensdruck behaftet, der zum Sprechen, zum Schreiben zwingt. So kreisen ihre Bücher um einen Fixpunkt - so wie Marcel Proust seine >>Suche nach der verlorenen Zeit<< obsessiv an der eigenen Geschichte ausrichtete, so wie Thomas Bernhard in immer neuen Anläufen Motive und Konstellationen heraufbeschwor, die in vielen Fällen bereits in seinen frühen Romanen kenntlich waren.
Wer über Herta Müllers Texte spricht, muß über deren Stil- und Bildervielfalt sprechen. Auch das neue Buch "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" zeichnet sich durch eine - diesmal stärker von Dialogen bestimmte - Eigentümlichkeit aus, die viel mit Herta Müllers Herkommen zu tun hat. Ihr Deutsch ist eine in Rumänien erlernte, eine - wie sie in einem Aufsatz betonte - "mitgebrachte" Sprache. "Ich sag die alten gleichen Worte, ich spreche wie damals. Doch sehen muß ich darin etwas Neues", hat Herta Müller dieses Paradox benannt, und bis heute ist dies ihrem Stil anzumerken. Kaum anderswo in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur finden sich so zahlreiche Abweichungen von dem, was alltagssprachlich vorgegeben ist, ohne daß diese kühne Prosa zu Gespreiztheiten und künstlicher Eleganz führte. Ganz konkrete Verben werden in einen unerwarteten abstrakten Kontext gestellt oder mit Substantiven unterschiedlichster Herkunft verbunden. Auf diese Weise entsteht ein Geflecht von erinnerten Beobachtungen und Empfindungen, das mit seinen sprachlichen Irritationen die Dinge in ein ungewohntes Licht stellt.
Darin liegt auch das Besondere, ja vielleicht Einzigartige dessen, was Herta Müller in ihren Büchern erprobt. Über das Innenleben unter diktatorischen Umständen sind in den letzten fünfzig Jahren viele Romane und Erzählungen geschrieben worden, sei es über die NS-Zeit von Hermann Kasack, Alfred Andersch, Walter Kempowski, Günter Grass oder Hermann Lenz, sei es neuerdings über den DDR-Alltag aus der Perspektive von SED-Gegnern oder -Mitläufern. Das Charakteristikum der Herta Müller indes verdankt sich dem Willen - und damit auch dem Willen ihrer Figuren -, den Ansprüchen des Gegners nicht im kleinsten nachzugeben. Gemeint sind damit nicht unbedingt Akte demonstrativen Widerstands; gemeint ist damit vielmehr eine Unbeugsamkeit des Kopfes, die zu einer Unbeugsamkeit der Sprache wird. "Wo ich mit dem Kopf stehe, stehe ich nicht immer mit den Füßen", so lautet die Erkennungsformel der Wahlverwandten, und weil Herta Müller der Diktatur nicht das Geringste schulden will, schaffen ihre Bücher einen Raum sprachlicher Opposition. Mit anderen Worten: Weil die Figuren um die Freiheit kämpfen, in Metaphern und Vergleichen zu denken, die mit der Sprache der Machthaber nichts gemein haben wollen, schaffen sie ein Gegenimperium - und sei es nur eines, das in der Retrospektive zeigt, wie der einzelne sich zu verweigern, sich sprachlich zu verweigern vermag.
Herta Müllers Bilder sind, weil sie einer "mitgebrachten" Sprache entstammen, fast frei von literarischer Abnützung und zudem durchtränkt mit einer differenzierten Symbolik, die scharfe Konturen verleiht. Der Schrecken, den diese Sprache einfangen will, ist ein Schrecken der Bilder; nur in und mit ihnen ist es möglich, von dem zu berichten, wovor ein rein argumentatives Sprechen versagen würde. Ein kleiner Ausschnitt, die Szene, als Lilli von einem Grenzsoldaten getötet wird, verdeutlicht das:
"Von weitem kam Gebell und dann Geschrei. Lillis Offizier wurde gefesselt, in eine Blechhütte geführt und bewacht von dem Glückserpichten, der geschossen hatte. Lilli blieb liegen. Die Hütte hatte keine Vorderwand. Auf dem Boden stand eine Wasserzisterne, an der Wand eine Bank, in der Ecke eine Tragbahre. Der Bewacher trank viel Wasser, wusch sein Gesicht, zog das Hemd aus der Hose und wischte sich ab und setzte sich. Der Gefesselte durfte nicht sitzen, aber hinaus ins Gras schauen, wo Lilli lag, durfte er. Fünf Hunde liefen, das Gras stand ihnen bis zum Hals, ihre Beine flogen darüber. Und weit hinter ihnen rannte eine Schar abgehetzter Soldaten. Bis sie bei Lilli ankamen, war nicht nur ihr Kleid in Fetzen gerissen. Die Hunde räumten Lillis Körper aus. Unter ihren Schnauzen lag Lilli so rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn. Die Soldaten trieben die Hunde weg und stellten sich in den Kreis. Dann kamen zwei in die Hütte, tranken Wasser und nahmen die Tragbahre mit. Das erzählte mir Lillis Stiefvater. Wie ein ganzes Beet Klatschmohn, sagte er, ich dachte in dem Moment an Kirschen."
Obwohl diese grausame Szene an Klarheit nicht zu überbieten ist, erlangt sie noch mehr an Tiefe, wenn man sich eines Essays von Herta Müller erinnert. In ihrer Rede anläßlich der Verleihung des Kleist-Preises erzählt sie von Ceausescus Besichtigungsfahrten ins rumänische Hinterland und von seiner Abneigung gegen Klatschmohn: Bauern mußten jedesmal die ungeliebten Blüten aus den Weizenfeldern entfernen, um das empfindsame Auge des Herrschers zu schonen. Lillis Tod, "rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn", erhält vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Dimension. Ceausescus Wahnwitz und der sinnlose Tod einer jungen Frau - beides ist vom Bild des roten Klatschmohns zusammengehalten.
Herta Müllers "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" liefert so weit mehr als die soziologisch-zeithistorisch aufschlußreiche Innenansicht einer Diktatur. Dahinter steht auch eine in gewissem Sinne erkenntnistheoretische Frage: Wie wirkt das Unausgesproche, das nur Angedeutete, wie wirkt die versteckte Drohgebärde, die ein Gewaltregime für seine Opponenten bereithält? Was ist verheerender für die Köpfe der Opfer: die konkreten Dinge selbst oder die davon abgeleiteten Meinungen und Empfindungen?
"Besser es stünden einem die Dinge selber und zum Anfassen im Kopf statt der Gedanken, an denen man ohne Ende grübelt. Leute, die man haben oder loswerden will, und Gegenstände, die man behalten oder verloren hat. Es gäbe eine Ordnung: Mitten im Kopf steht Paul, und nicht mein Ankrallen und Wegrücken von ihm in gleicher Liebe. An den Schläfen laufen die Gehsteige, so lang sie wollen, und an den Wangen stehen vielleicht die Läden mit Vitrinen, nicht meine grundlosen Ziele in der Stadt. Im Hinterkopf, das läßt sich nicht vermeiden, im Hinterkopf ist Albus Laufbursche, der womöglich in dem roten Auto unten sitzt, bevor er hier läutet und mich bestellt. Mündlich, damit ich Angst haben muß, den Tag zu verwechseln, weil Paul oder ich nicht richtig gehört haben. Ja, lieber wär der Laufbursche persönlich in meinem Hinterkopf, statt seiner leisen Stimme, die sich einfrißt und noch vom letzten Mal in mir steckt, wenn er wieder vor der Tür steht."
Es ist gewissermaßen ein Kinderglauben, der sich in diesen von Verzweiflung durchtränkten Gedankenspielen äußert. Zurück zu den "ursprünglichen" Dingen, zurück zu den ahistorischen Momenten, in denen die sprachliche Verfügungsgewalt der Mächtigen noch nicht existierte - dahin wünscht man sich zurück. In solchen Reflexionen zeigt sich, wodurch Herta Müllers neuer Roman seine Eindringlichkeit erhält. Weil er sich nicht allein auf die Schilderung von psychischer und sozialer Not beschränkt, weil er versucht, die Verflechtungen im Kopf der Figuren bis ins kleinste aufzudröseln, deshalb ist Herta Müllers "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" ein so überzeugendes Buch.
Herta Müllers Ich-Erzählerin spannt in lockerer Chronologie einen Bogen, der von den achtziger Jahren, als sie mit Paul, einem Techniker, in einem stadtbekannten Turm wohnt, reicht bis in das ländliche Zuhause ihrer Vorfahren. Momente des hoffnungslos scheinenden Alltagsgeschehens durchdringen ihre Erinnerungen; sie erzählen vom Schlangestehen um die wenigen Lebensmittel, von der Schwarzarbeit, von der Sehnsucht, "Exportkleider" zu tragen oder gar ins westliche Ausland, nach Italien zum Beispiel, zu gelangen, und von der tagtäglichen Flucht in den betäubenden Alkohol:
"Kurz nach vier sind auf der Ladenstraße unten die Lieferwagen angekommen. Sie zerreißen die Stille, brummen viel und liefern wenig, einige Kisten mit Brot, Milch und Gemüse und viele mit Schnaps. Wenn da unten das Essen ausgeht, finden Frauen und Kinder sich damit ab, die Schlangen gehen auseinander, die Wege führen nach Haus. Aber wenn die Flaschen ausgehen, verfluchen die Männer ihr Leben und ziehen das Messer. Die Verkäufer reden ihnen zu, aber das hält nur, bis sie wieder draußen sind. Sie gehen auf die Suche, streichen in der Stadt herum. Die ersten Schlägereien gibt es, weil sie keinen Schnaps finden, die nächsten, weil sie vollgesoffen sind.
Der Schnaps wächst zwischen den Karpaten und der dürren Ebene im Hügelland. Da stehen Pflaumenbäume, daß man die winzigkleinen Dörfer dazwischen kaum sieht. Ganze Wälder, im Spätsommer blau angeregnet, die Äste tragen sich krumm. Der Schnaps heißt wie das Hügelland, doch niemand benutzt den Namen auf dem Etikett. Namen bräuchte er keinen, es gibt nur einen Schnaps im Land, und die Leute nennen ihn nach dem Bild des Etiketts: 'Zwei Pflaumen'. Die beiden Pflaumen mit aneinander gelehnten Wangen sind den Männern so vertraut wie den Frauen die Heilige Maria mit dem Kind. Es heißt, die Pflaumen zeigen die Liebe zwischen dem Trinker und der Flasche."
Herta Müller erzählt von blanker Verzweiflung, und dennoch gibt ihre Hauptfigur nicht auf, die unauffälligen Augenblicke des Glücks aufzuspüren. "Über das Leben gibt es viel zu sagen. Über das Glück nichts, sonst ist es keines mehr", heißt es an einer Stelle lapidar. Sie sind flüchtig, die kleinen hellen Momentaufnahmen des Lebens. Glück, das ist beispielsweise zu spüren bei der Motorradfahrt mit Paul durch die Bohnenfelder, Glück, das ist zu ahnen beim Tanzen, beim gemeinsamen Lachen über dies und das. Bewunderswert ist die Fähigkeit der Erzählerin, auch in den Augenblicken größter Erniedrigung nach dem Überraschenden und Schönen Ausschau zu halten. Herta Müller selbst hat dies einmal sehr konkret festgehalten: "Wo ich mit den Füßen stehe, stehe ich nicht immer mit dem Kopf." Der Diktatur darf, mit anderen Worten, keine Allmacht über die eigene Existenz eingeräumt werden, was immer auch passieren mag. Es gilt, sich seine lebensnotwendigen Nischen zu schaffen und freizuhalten, und warum sollen diese nicht eine Spur von Glückseligkeit verheißen?
"Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" konnte freilich kein Roman übers Glück werden. Denn zu stark dominiert ein Gefühl der Furcht, das sich bereits im allerersten Satz niederschlägt: "Ich bin bestellt. Donnerstag Punkt zehn." Herta Müllers Protagonistin ist in die Fänge der Sicherheitspolizei geraten. Eine Denunziation macht sie zum Stammgast im Büro des Major Albu. Die Arbeit in der Kleiderfabrik hat sie verloren: Ihr Vorgesetzter Nelu, der auf einer Geschäftsreise eine kurze Affäre mit ihr hatte, kann nicht verstehen, daß nach der Rückkehr alles vorbei sein soll. Die unerschrockene Standfestigkeit der Frau quält seine gekränkte Männlichkeit, und er geht zur Geheimpolizei, mit Beweismitteln, die er selbst angefertigt hat. Seitdem weicht die Angst nicht mehr vor der Erzählerin: die Angst vor willkürlichen, nutzlosen Verhören, die Angst vor der Verhaftung, und selbst wenn die kleinen Dinge des Alltags - eine Nuß, eine Bluse -, denen in beschwörender Geste magische Kräfte zugewiesen werden, helfen auf Dauer nicht weiter. Sie suggerieren Unverwundbarkeit, doch die Angst kehrt zurück.
Herta Müllers Erzählkunst besteht darin, nicht den Befragungsterror selbst, sondern die vorangehende Beklemmung des Opfers ins Zentrum zu rücken und die Versuche, in Gedanken die Methoden des Terrors immer wieder ad absurdum zu führen. Ein Beispiel: Als ihr Hausverwalter einräumt, sie seit längerem zu bespitzeln, hilft sie dem überforderten Untertan weiter. Von ihrem knappen Geld kauft sie ihm ein Rechenheft, auf daß er die Zeiten des Gehens und Kommens bequem notieren kann. Das Geschenk erweist sich zwar leider als ungeeignet - es ist zu groß und auffällig -, doch zwischen Täter und Opfer entsteht eine unheimliche Allianz.
Dennoch ändern diese verzweifelt-koketten Spiele nichts daran, daß die Staatsmacht am längeren Hebel sitzt. Sosehr sich der einzelne ein paar Augenblicke lang über sein Leid erheben mag, so unzweifelhaft bleibt, welch ungleicher Kampf hier abläuft. "Weil ich nichts bin, außer bestellt", muß sich die Hauptfigur deshalb mit verzweifeltem Trotz eingestehen. Der Gewalt der diktatorischen Maßnahme gelingt es, die Lebensbezüge des einzelnen zu kappen. Alles, die Tage, die Nächte, alles läßt sich nur noch in Verbindung zum Vorladungstermin denken. Das Individuum wird ausgelöscht, das Regime vereinnahmt sämtliche Gedanken und macht Menschen zu Marionetten. Der Inhalt des angekündigten Verhörs bleibt folglich in Herta Müllers Szenarium belanglos: Eine von Erinnerungen und Assoziationen begleitete Straßenbahnfahrt zu Major Albus Amtssitz bildet den Rahmen, doch der Roman endet, bevor die Ich-Erzählerin an ihr verhaßtes Ziel gelangt, ja, er endet, so scheint es, mit dem Entschluß, der Vorladung zum erstenmal nicht Folge zu leisten - welche Konsequenzen dies auch hervorrufen wird.
Ein Leben unter solchen Vorzeichen ist ein Leben, das allein widersinnige Alternativen läßt. Der stille Terror der Diktatur gibt die Gesetze vor:
"Ich wollte wissen, wie das Leben spielt, und ging auf dem Heimweg vom Schuster alle Möglichkeiten vom Sattwerden der Welt durch. Die erste und beste: Nie bestellt und nie irr werden, wie die meisten. Nie bestellt, aber irr werden, wie die Frau des Schusters und Frau Micu neben dem Eingang unten, ist die zweite. Die dritte: Bestellt und irr werden, wie die zwei um den Verstand gebrachten Frauen in der Anstalt. Bestellt und nie irr werden, wie Paul und ich, das ist die vierte. Nicht besonders gut, aber in unserem Fall die beste Möglichkeit. Auf dem Gehsteig lag eine zerquetschte Pflaume, Wespen fraßen sich satt, neugeschlüpfte und alte. Wenn eine ganze Familie Platz hat auf einer Pflaume, wie muß das sein. Die Sonne zog es aus der Stadt in die Felder. Auf den ersten Blick war sie grell geschminkt für den Abend, auf den zweiten war sie angeschossen - rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn, hatte Lillis Offizier gesagt. Ja, das ist die fünfte Möglichkeit: Sehr jung sein, schön bis zum Gehtnichtmehr, nicht irr im Kopf, aber tot. Um tot zu sein, muß man nicht Lilli heißen."
Lilli ist eine Arbeitskollegin der Erzählerin, die mit ihrem Liebhaber, einem ältlichen Offizier, nach Ungarn zu flüchten versucht und dabei erschossen wird. Ihre Geschichte ist nur eine von vielen, die in Herta Müllers Roman aufgeblendet werden. Zusammen bilden sie ein Mosaik von Episoden, die selten fröhlich und meist traurig enden. Da ist die Affäre des Vaters mit einem Mädchen vom Gemüsemarkt; da ist Pauls Entlassung, weil er in Schwarzarbeit Antennen bastelt, mit denen sich dem Bukarester Fernsehprogramm zumindest die dürftigen Gegenbilder aus Budapest oder Belgrad entgegenhalten lassen, und da ist der Ex-Schwiegervater der Erzählerin, der als Parteiaktivist einst die Enteignungspolitik vorantrieb und Jahre später versucht, unter falschem Namen an die Stätten seiner Untaten zurückzukehren. Und da sind, nicht zuletzt, die fremden Personen, die auf der Straßenbahnfahrt zum Verhör begegnen: die alte Frau, die nicht weiß, wohin, die junge Frau, die gierig eine Portion Kirschen vertilgt, oder der gelangweilte Fahrer, der nach Belieben festlegt, wann sich sein schrottreifes Vehikel in Bewegung setzt.
"Die Straßenbahn hat keine festen Fahrtzeiten. Mir scheint sie rauscht, wenn es nicht die hartblättrigen Pappeln sind. Sie kommt schon angefahren, heute will sie mich gleich mitnehmen. Ich hab mir vorgenommen, den alten Mann mit dem Strohhut beim Einsteigen vorzulassen. Als ich kam, stand er schon an der Haltestelle, wer weiß wielange. Gebrechlich ist er zwar nicht, aber dünn wie sein Schatten, bucklig und matt. In der Hose ist kein Hintern, keine Hüften, nur die Knie sind ausgebeult. Aber wenn er nun ausgerechnet jetzt, wenn die Wagentür aufgeht, auf den Boden spucken muß, steig ich doch vor ihm ein. Es sind fast alle Sitze frei, und er sucht sie mit den Augen ab und bleibt dann stehen. Daß so alte Leute nicht müde sind und sich das Stehen nicht für dort aufheben, wo man nicht sitzen kann. Manchmal hört man alte Leute sagen: Auf dem Friedhof liegt man noch lang genug. Dabei denken sie gar nicht ans Sterben, und sie haben auch recht. Es ging noch nie der Reihe nach, es sterben auch Junge. (...) Man sagt, so alte Leute spüren mehr als junge. Vielleicht sogar, daß ich ein kleines Handtuch, Zahnpasta und eine Zahnbürste in der Handtasche habe. Und kein Taschentuch, denn weinen will ich nicht."
Allen diesen Beobachtungen und Geschichten ist der Grundsatz eigen, daß erst das Vergangene erzählbar ist und daß es vor allem die Übel und Nöte sind, die das Erzählen stimulieren: "Über gelaufene Jahre läßt sich gut reden, wenn sie schlecht gelaufen sind. Doch wenn man sagen müßte, wer man jetzt beim Atmen ist, läge der Zunge entlang nichts als mulmiges Schweigen." In diesen beiden Sätzen steckt eine Leitidee von Herta Müllers Büchern. Sie erläutern auch, warum diese Autorin so bewundernswert beharrlich an ihren rumänischen Erfahrungen festhält. Über deren Essenz ist nämlich noch längst nicht genug gesagt. Von daher läßt sich auch entkräften oder zumindest in Frage stellen, was manche Kritiker Herta Müller mitunter vorhalten: Wäre es allmählich nicht an der Zeit, den Erzählzyklus zu beenden, der das Leben unter Ceausescu spiegelt? Und gälte es allmählich nicht, sich neuen Themen, der Gegenwart der Bundesrepublik beispielsweise, zuzuwenden? Herta Müller kann und will dies nicht: Die jüngste Vergangenheit besitzt nicht die nötige Patina, um in dieser Intensität erinnerungsfähig zu sein, und sie ist wohl auch nicht mit jenem Leidensdruck behaftet, der zum Sprechen, zum Schreiben zwingt. So kreisen ihre Bücher um einen Fixpunkt - so wie Marcel Proust seine >>Suche nach der verlorenen Zeit<< obsessiv an der eigenen Geschichte ausrichtete, so wie Thomas Bernhard in immer neuen Anläufen Motive und Konstellationen heraufbeschwor, die in vielen Fällen bereits in seinen frühen Romanen kenntlich waren.
Wer über Herta Müllers Texte spricht, muß über deren Stil- und Bildervielfalt sprechen. Auch das neue Buch "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" zeichnet sich durch eine - diesmal stärker von Dialogen bestimmte - Eigentümlichkeit aus, die viel mit Herta Müllers Herkommen zu tun hat. Ihr Deutsch ist eine in Rumänien erlernte, eine - wie sie in einem Aufsatz betonte - "mitgebrachte" Sprache. "Ich sag die alten gleichen Worte, ich spreche wie damals. Doch sehen muß ich darin etwas Neues", hat Herta Müller dieses Paradox benannt, und bis heute ist dies ihrem Stil anzumerken. Kaum anderswo in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur finden sich so zahlreiche Abweichungen von dem, was alltagssprachlich vorgegeben ist, ohne daß diese kühne Prosa zu Gespreiztheiten und künstlicher Eleganz führte. Ganz konkrete Verben werden in einen unerwarteten abstrakten Kontext gestellt oder mit Substantiven unterschiedlichster Herkunft verbunden. Auf diese Weise entsteht ein Geflecht von erinnerten Beobachtungen und Empfindungen, das mit seinen sprachlichen Irritationen die Dinge in ein ungewohntes Licht stellt.
Darin liegt auch das Besondere, ja vielleicht Einzigartige dessen, was Herta Müller in ihren Büchern erprobt. Über das Innenleben unter diktatorischen Umständen sind in den letzten fünfzig Jahren viele Romane und Erzählungen geschrieben worden, sei es über die NS-Zeit von Hermann Kasack, Alfred Andersch, Walter Kempowski, Günter Grass oder Hermann Lenz, sei es neuerdings über den DDR-Alltag aus der Perspektive von SED-Gegnern oder -Mitläufern. Das Charakteristikum der Herta Müller indes verdankt sich dem Willen - und damit auch dem Willen ihrer Figuren -, den Ansprüchen des Gegners nicht im kleinsten nachzugeben. Gemeint sind damit nicht unbedingt Akte demonstrativen Widerstands; gemeint ist damit vielmehr eine Unbeugsamkeit des Kopfes, die zu einer Unbeugsamkeit der Sprache wird. "Wo ich mit dem Kopf stehe, stehe ich nicht immer mit den Füßen", so lautet die Erkennungsformel der Wahlverwandten, und weil Herta Müller der Diktatur nicht das Geringste schulden will, schaffen ihre Bücher einen Raum sprachlicher Opposition. Mit anderen Worten: Weil die Figuren um die Freiheit kämpfen, in Metaphern und Vergleichen zu denken, die mit der Sprache der Machthaber nichts gemein haben wollen, schaffen sie ein Gegenimperium - und sei es nur eines, das in der Retrospektive zeigt, wie der einzelne sich zu verweigern, sich sprachlich zu verweigern vermag.
Herta Müllers Bilder sind, weil sie einer "mitgebrachten" Sprache entstammen, fast frei von literarischer Abnützung und zudem durchtränkt mit einer differenzierten Symbolik, die scharfe Konturen verleiht. Der Schrecken, den diese Sprache einfangen will, ist ein Schrecken der Bilder; nur in und mit ihnen ist es möglich, von dem zu berichten, wovor ein rein argumentatives Sprechen versagen würde. Ein kleiner Ausschnitt, die Szene, als Lilli von einem Grenzsoldaten getötet wird, verdeutlicht das:
"Von weitem kam Gebell und dann Geschrei. Lillis Offizier wurde gefesselt, in eine Blechhütte geführt und bewacht von dem Glückserpichten, der geschossen hatte. Lilli blieb liegen. Die Hütte hatte keine Vorderwand. Auf dem Boden stand eine Wasserzisterne, an der Wand eine Bank, in der Ecke eine Tragbahre. Der Bewacher trank viel Wasser, wusch sein Gesicht, zog das Hemd aus der Hose und wischte sich ab und setzte sich. Der Gefesselte durfte nicht sitzen, aber hinaus ins Gras schauen, wo Lilli lag, durfte er. Fünf Hunde liefen, das Gras stand ihnen bis zum Hals, ihre Beine flogen darüber. Und weit hinter ihnen rannte eine Schar abgehetzter Soldaten. Bis sie bei Lilli ankamen, war nicht nur ihr Kleid in Fetzen gerissen. Die Hunde räumten Lillis Körper aus. Unter ihren Schnauzen lag Lilli so rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn. Die Soldaten trieben die Hunde weg und stellten sich in den Kreis. Dann kamen zwei in die Hütte, tranken Wasser und nahmen die Tragbahre mit. Das erzählte mir Lillis Stiefvater. Wie ein ganzes Beet Klatschmohn, sagte er, ich dachte in dem Moment an Kirschen."
Obwohl diese grausame Szene an Klarheit nicht zu überbieten ist, erlangt sie noch mehr an Tiefe, wenn man sich eines Essays von Herta Müller erinnert. In ihrer Rede anläßlich der Verleihung des Kleist-Preises erzählt sie von Ceausescus Besichtigungsfahrten ins rumänische Hinterland und von seiner Abneigung gegen Klatschmohn: Bauern mußten jedesmal die ungeliebten Blüten aus den Weizenfeldern entfernen, um das empfindsame Auge des Herrschers zu schonen. Lillis Tod, "rot wie ein ganzes Beet Klatschmohn", erhält vor diesem Hintergrund eine zusätzliche Dimension. Ceausescus Wahnwitz und der sinnlose Tod einer jungen Frau - beides ist vom Bild des roten Klatschmohns zusammengehalten.
Herta Müllers "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" liefert so weit mehr als die soziologisch-zeithistorisch aufschlußreiche Innenansicht einer Diktatur. Dahinter steht auch eine in gewissem Sinne erkenntnistheoretische Frage: Wie wirkt das Unausgesproche, das nur Angedeutete, wie wirkt die versteckte Drohgebärde, die ein Gewaltregime für seine Opponenten bereithält? Was ist verheerender für die Köpfe der Opfer: die konkreten Dinge selbst oder die davon abgeleiteten Meinungen und Empfindungen?
"Besser es stünden einem die Dinge selber und zum Anfassen im Kopf statt der Gedanken, an denen man ohne Ende grübelt. Leute, die man haben oder loswerden will, und Gegenstände, die man behalten oder verloren hat. Es gäbe eine Ordnung: Mitten im Kopf steht Paul, und nicht mein Ankrallen und Wegrücken von ihm in gleicher Liebe. An den Schläfen laufen die Gehsteige, so lang sie wollen, und an den Wangen stehen vielleicht die Läden mit Vitrinen, nicht meine grundlosen Ziele in der Stadt. Im Hinterkopf, das läßt sich nicht vermeiden, im Hinterkopf ist Albus Laufbursche, der womöglich in dem roten Auto unten sitzt, bevor er hier läutet und mich bestellt. Mündlich, damit ich Angst haben muß, den Tag zu verwechseln, weil Paul oder ich nicht richtig gehört haben. Ja, lieber wär der Laufbursche persönlich in meinem Hinterkopf, statt seiner leisen Stimme, die sich einfrißt und noch vom letzten Mal in mir steckt, wenn er wieder vor der Tür steht."
Es ist gewissermaßen ein Kinderglauben, der sich in diesen von Verzweiflung durchtränkten Gedankenspielen äußert. Zurück zu den "ursprünglichen" Dingen, zurück zu den ahistorischen Momenten, in denen die sprachliche Verfügungsgewalt der Mächtigen noch nicht existierte - dahin wünscht man sich zurück. In solchen Reflexionen zeigt sich, wodurch Herta Müllers neuer Roman seine Eindringlichkeit erhält. Weil er sich nicht allein auf die Schilderung von psychischer und sozialer Not beschränkt, weil er versucht, die Verflechtungen im Kopf der Figuren bis ins kleinste aufzudröseln, deshalb ist Herta Müllers "Heute wär ich mir lieber nicht begegnet" ein so überzeugendes Buch.