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"Hier ist irgend etwas Unbegreifliches geschehen"

Der Pfarrer Christian Führer zog mit seiner Arbeit besonders junge Menschen an. Als er 1980 die Nikolaikirche in Leipzig übernahm, begann er mit den wöchentlichen Friedensgebeten. Damit wurde seine Gemeinde eine der wichtigsten Keimzellen der deutschen Revolution. Nun hat Führer, Jahrgang 1943, seine Lebenserinnerungen veröffentlicht. Erinnerungen an die Arbeit der Kirche in der atheistischen Diktatur, Erinnerungen auch an ihre Arbeit in der Demokratie seit 1989/90.

Von Michael Kuhlmann |
    Ein wenig musste er zum Jagen getragen werden, der Leipziger Pfarrer Christian Führer. Der Anstoß zu seinem neuen Buch kam nämlich vom Verlag.

    "Das Wichtige für mich ist, dass es keine Dokumentation ist, kein Abriss von allen Ereignissen - das wäre sowieso total langweilig - sondern dass ich einfach bewusst gesagt habe: So wie ich das erlebt habe, was mir wichtig war, das hab' ich einfach benannt, und die friedliche Revolution, das ist das Kernstück des Buches."

    Dass die Revolution von 1989 eine friedliche blieb, dass nicht Steinwürfe oder Drohungen, sondern Kerzen und Gebete die SED-Diktatur zum Einsturz brachten, das nennt Führer rückblickend - wörtlich - ein Wunder biblischen Ausmaßes.
    "Die Rolle, die die Bergpredigt von Jesus in dieser Revolution gespielt hat, dass 'ne Revolution aus der Kirche kam, dass sie überhaupt was mit Kirche zu tun hat, das ist ja total ungewöhnlich!"

    Von der 40-jährigen Arbeit als Kirchenmann handelt dieses Buch. Führer war zunächst Dorfpfarrer im sächsischen Lastau - schon hier dafür bekannt, dass er sich nicht den Mund verbieten ließ. 1979 etwa, zum 30. Jahrestag der DDR, wählte er eigenmächtig einen Predigttext des Propheten Jesaja aus: "Glaubt Ihr nicht, so werdet Ihr untergehen". Bei solch einem Zitat wusste jeder Ostdeutsche, wie es gemeint war.

    "Ich hab' gesehen, dass man in DDR-Zeiten mehr Achtung errang, wenn man eine eigene Meinung hatte und zu dieser Meinung auch stand. Also auch Nachteile in Kauf nahm."

    1980 wechselte Führer die Pfarrstelle. Er kam an die Leipziger Nikolaikirche. Besonders junge Leute zog seine Arbeit bald an. Denn hier konnte jeder sagen, was er dachte - in der Jungen Gemeinde und auch in den wöchentlichen Friedensgebeten. Dass sich eine starke Kultur der Opposition gerade in Leipzig entwickelte, führt der Pfarrer auf zwei Faktoren zurück:

    "Einmal, dass wir '82 schon mit den Friedensgebeten regelmäßig begonnen haben und die auch nicht ausgesetzt haben! Denn das war's ja, was der Staat immer wollte. 'Das sind keine Friedensgebete, das sind konterrevolutionäre Machenschaften' - dass wir dem nicht nachgegeben haben, sondern dass die Tür offengehalten wurde, das war das Entscheidende eigentlich!"

    Diese Gebete wurden zur Keimzelle der späteren Montagsdemonstrationen. Als zweites Leipziger Spezifikum nennt Führer den Umstand, dass er in den Friedensgebeten zwei Fraktionen zusammenführen konnte. Die kleinen Basisgruppen, denen es um Veränderungen in der DDR ging. Und die vielen, die sich davon nichts mehr versprachen, die statt dessen nur noch ihre Ausreise in den Westen herbeisehnten. Und die deshalb von den Basisgruppen oft etwas schief angesehen wurden.

    "Die Basisgruppenleute waren ja die, die die Friedensgebete gestaltet haben, ursprünglich und dann auch bis zuletzt - aber die waren ganz wenige. Das war viel zu steil, was die machten, die bewunderte man gern aus der Entfernung. Aber die Ausreise-Leute - die waren das Massenpotential!"

    Das Massenpotenzial der kommenden Demonstrationen. An dem Gegensatz zwischen Basisgruppen und Ausreisewilligen wären die Friedensgebete Anfang 1989 beinahe gescheitert. Das Buch beschreibt ausführlich, wie es Führer gelang, die Kluft zu überbrücken, indem er in einem Rundbrief an die Basisgruppen Regeln für konstruktive und tolerante Gebetet festlegt. Im Laufe des Jahres schwoll der Zustrom an.

    Schließlich der Durchbruch mit der Montagsdemonstration am 9. Oktober. Führer schildert, wie er diesen Tag erlebte: Die Angst, dass die Staatsmacht die Demonstration zusammenschießen könnte - schließlich war zwei Tage zuvor in Ost-Berlin ein Protestmarsch brutal niedergeknüppelt worden. Dann die Überraschung, wie viele Demonstranten zusammenkamen - es wurden 70.000 - und wie sich die Dinge schließlich entwickelten.

    "Ja, und dann saßen wir 21 Uhr 30 - also, wir hingen irgendwie total erschöpft im Sessel, aber unglaublich glücklich, dass nicht geschossen worden war. Da kam die Ahnung bei mir: Die DDR ist heute Abend nicht mehr dieselbe wie heute früh! Hier ist irgend etwas Unbegreifliches geschehen!"

    Nach dem Fall der Mauer einen Monat später erlebten Führer und seine Mitstreiter allerdings, wie der Zustrom zu den Friedensgebeten merklich nachließ. Der Leipziger Pfarrer bleibt in seinen Erinnerungen zurückhaltend; aber deutlich ist zu spüren, dass er einen deutschen Vereinigungsprozess auf Augenhöhe befürwortet hätte - und einen bedächtigeren Prozess. Christian Führer hätte sich von den Ostdeutschen gewünscht, dass sie sich mehr eingemischt, dass sie die Möglichkeiten der neuen Demokratie genutzt hätten. Und das wünscht er sich im Grunde bis heute.