Samstag, 27. April 2024

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Hilary Hahn und Yo-Yo Ma
Weltstar mit und ohne Bach-Verstand

Bachs Solowerke für Violine und Cello verführen zu einer lebenslangen Auseinandersetzung. Dass sich die Erkenntnis dabei nicht zwingend vertieft, zeigt die neue CD der Geigerin Hilary Hahn. Ganz anders die neue CD von Yo-Yo Ma. Er widmet sich den Cellosuiten von Bach jetzt zum dritten Mal.

Am Mikrofon: Norbert Hornig | 14.10.2018
    Yo-Yo Ma spielt auf seinem Cello
    Der Cellist Yo-Yo Ma (Sony Music)
    Wenn es um die Musik von Johann Sebastian Bach geht, herrscht unter Geigern und Cellisten seltene Einigkeit: Die Solo-Werke, die Bach für ihr Instrument schrieb, stellen für sie das Nonplusultra dar; interpretatorisch sind sie eine immerwährende, lebenslange Herausforderung. Mstislaw Rostropowitsch sah in Bachs Solosuiten "die Bibel" für Cellisten; Yehudi Menuhin bezeichnete die Sonaten und Partiten für Violine solo als "das Alte Testament der Violinmusik". Wohl jeder Geiger oder Cellist verspürt den Wunsch, sich der Herausforderung einer Bach-Gesamtaufnahme zu stellen, wenigstens einmal im Leben. Mit dem Cellisten Yo-Yo Ma und der Geigerin Hilary Hahn sind wieder zwei Weltstars ins Aufnahmestudio gegangen, um Bach aufzunehmen. Hilary Hahn vollendet ihre vor Jahrzehnten begonnene Einspielung der Sonaten und Partiten, Yo-Yo Ma legt seine dritte Version der Cellosuiten vor.
    Musik: Johann Sebastian Bach, Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007, 1. Prélude
    Ruhig, fließend und ganz entspannt nimmt das Präludium aus der ersten Suite für Cello solo von Johann Sebastian Bach unter den Händen von Yo-Yo Ma seinen Lauf. Und man hat sogleich das Gefühl, dass hier ein Interpret mit sich völlig im Reinen ist und seine Mitte, seinen Weg zu Bach gefunden hat. Man kann nur mutmaßen, wie oft der heute 63-jährige Künstler Bachs Cellosuiten bislang öffentlich aufgeführt hat. Denn für jeden Cellisten ist dieser Werkzyklus ein ständiger Begleiter von Anfang an. Yo-Yo Ma begegnete ihm zum ersten Mal, als er vier Jahre alt war und unter der Anleitung seines Vaters die ersten Takte des Präludiums der 1. Suite einübte.
    Beeindruckende dynamische und klangfarbliche Abstufungen
    Die Suiten sind ein musikalischer und manueller Prüfstein zugleich, und kein Cellist wird je von sich behaupten, er habe diese Musik ganz ausgeschöpft. Das führt auch dazu, dass viele Interpreten sich gedrängt fühlen, die Suiten immer wieder neu einzuspielen, um noch tiefer hineinzutauchen in diese faszinierende Welt genial entworfener musikalischer Strukturen, wo es scheinbar immer noch Geheimnisse zu ergründen gibt. Yo-Yo Ma hat jetzt seine dritte Einspielung und nach eigenen Worten auch die letzte Version der Suiten vorgelegt, wieder beim Label Sony Classical. Mit dem Titel "Six Evolutions", den er seinem Bachalbum gegeben hat, möchte der Künstler andeuten, wie nachhaltig die Cellosuiten sein Leben als Musiker mitgeprägt haben.
    Musik: Johann Sebastian Bach, Suite Nr. 1 G-Dur BWV 1007, 2. Allemande (Ausschnitt)
    Die Skala an dynamischen und klangfarblichen Abstufungen, die Yo-Yo Ma auf seinem Stradivari-Cello abruft, ist beindruckend. Das samtige, etwas gedeckte Timbre des Instrumentes ist sehr charakteristisch, da gibt es keine Schärfen, auch in den höheren Lagen nicht. Yo-Yo Ma erzählt Geschichten auf seinem Instrument, sein Spiel ist ganz offensichtlich beeinflusst von den Gestaltungsprinzipien der historisch informierten Aufführungspraxis; der Aufbau der Phrasen wirkt schlüssig, die Idee der "Klangrede" wird hier ohne Übertreibungen umgesetzt. Über der gesamten Aufnahme liegt eine Atmosphäre von kammermusikalischer Intimität. Ma bohrt sich nicht hinein in den Klang, sein Spiel ist von einer gänzlich unaufdringlichen Intensität, zuweilen regelrecht meditativ. Unter seinen Händen atmet, schwebt und tanzt das Cello, es hält den Klang nicht fest, es lässt ihn frei. Insgesamt wirkt Yo-Yo Mas dritte Annäherung an Bach gelassener und abgeklärter als die früheren Einspielungen. Die Veröffentlichung des Albums steht auch am Beginn einer zweijährigen Reise durch sechs Kontinente, auf der Yo-Yo Ma Bachs Cellosuiten in den Mittelpunkt stellt.
    Musik: Johann Sebastian Bach, Suite Nr. 3 C-Dur BWV 1009, 6. Gigue
    Wie Yo-Yo Ma beschäftigte sich auch die Geigerin Hilary Hahn von Kindesbeinen an mit der Musik von Johann Sebastian Bach. Seit ihrem neunten Lebensjahr gehörte mindestens ein Satz aus den Sonaten und Partiten für Violine solo zu ihrem täglichen Übepensum. Diese frühe innige Vertrautheit mit diesen Werken führte letztlich dazu, dass Hilary Hahn sie für ihre erste CD-Aufnahme wählte.
    Hell, dicht und füllig
    Mit der Sonate Nr. 3 sowie den Partiten Nr. 2 und Nr. 3 gab die damals 17-jährige amerikanische Geigerin ihr vielbeachtetes Debüt beim Label Sony, die Einspielung sollte einer der Grundsteine für ihre internationale Karriere sein. Seitdem arbeitete Hahn mit größter Beständigkeit weiter an ihrem Bach, setzte ihn häufiger aufs Programm als irgendeinen anderen Komponisten. Dass der Zeitpunkt kommen würde, auch die Sonaten Nr. 1 und Nr. 2 sowie die Partita Nr. 1 aufzunehmen, war ihr immer klar. Jetzt liegen sie vor, diesmal beim Label Decca, der Kreis einer Gesamtaufnahme hat sich geschlossen.
    Musik: Johann Sebastian Bach, Sonate Nr. 1 g-Moll BWV 1001, 1. Adagio (Ausschnitt)
    In großem Bogen, geradezu majestätisch breitet Hilary Hahn das Adagio aus Bachs Sonate Nr. 1 für Violine solo vor dem Hörer aus. Der Geigenton dringt sehr direkt ans Ohr, er bleibt immer hell, dicht und füllig. Hier befinden wir uns in einer grundsätzlich anderen Bach-Welt als bei Yo-Yo Ma, der allein mit der Variabilität seines Cellotons neue Dimensionen erschließt. Hilary Hahn zeigt sich, im Gegensatz zu ihrem Cellisten-Kollegen, völlig unbeeinflusst von der historischen Aufführungspraxis. Sie liegt viel eher auf einer interpretatorischen Linie, die man auf den von Henryk Szeryng in den 1960er und 1970er Jahren kreierten Bachstil zurückführen kann. Großer, voluminöser Ton, Vibrato-Einsatz, gemäßigte Tempi und eine orgelartige Charakteristik des Gesamtklanges bestimmen hier das Bild, viele weniger als sprachhafte Rhetorik und tänzerische Leichtigkeit. Ganz geradlinig und immer mit Bodenhaftung klingt der Bach von Hilary Hahn, tanzen will die Musik bei ihr nicht. Auch nicht in der Partita Nr. 1, wo sie es eigentlich sollte.
    Musik: Johann Sebastian Bach, Partita Nr. 1 h-Moll BWV 1002, 11. Tempo di Bourée (Ausschnitt)
    Hilary Hahn interpretiert Bach mit größter Klarheit der Artikulation und einer unanfechtbaren Intonationsreinheit. Schnelle, motorische Passagen laufen mit der Präzision eines Uhrwerkes, der stets volle Bogenkontakt zur Saite bestimmt den Klang entscheidend. Grundsätzlich hat sich die Bach-Auffassung der Geigerin in den vergangenen zwei Jahrzehnten nur wenig verändert.
    Unanfechtbare Intonationsreinheit
    Sollte man sich für eine ihrer Bacheinspielungen entscheiden, wäre vielleicht sogar die frühere die erste Wahl, sie klingt etwas diskreter und sogar feinfühliger. Es gibt nicht viele Geiger, die noch heute einen so betont traditionellen Bachstil vertreten wie Hilary Hahn. Das ist sicherlich konsequent gedacht und wurde mit größter Stringenz umgesetzt. Nur haben sich die Zeiten geändert, und das betrifft auch die Interpretation von Bachs Musik.
    Musik: Johann Sebastian Bach, Sonate Nr. 2 a-Moll BWV 1003, 4. Allegro (Ausschnitt)
    Um Musik für Violoncello und Geige solo von Johann Sebastian ging es in unserer heutigen Sendung. Wir stellten die neue Gesamtaufnahme der Cellosuiten mit Yo-Yo Ma vor, die bei Sony Classical erschienen ist, außerdem die Einspielung der Sonaten Nr. 1 und Nr. 2 sowie der Partita Nr. 1 für Violine solo, die Hilary Hahn beim Label Decca vorgelegt hat.
    Johann Sebastian Bach
    Suiten für Violoncello solo BWV 1007-1012
    Yo-Yo Ma (Violoncello)
    Sony Classical 2 CD 19075854652 EAN 190758546520
    Johann Sebastian Bach
    Sonate Nr. 1 BWV 1001
    Partita Nr. 1 BWV 1002
    Sonate Nr. 2 BWV 1003
    Hilary Hahn (Violine)
    Decca CD 483 3954 EAN 028948339549