Dienstag, 23. April 2024

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Hilfe für Flüchtlinge
Neher (CDU): "Tatenlos zuzusehen ist die schlechteste Alternative"

Mehr Städte und Gemeinden sollten sich bereit erklären, sichere Häfen für Seenot-Flüchtlinge zu sein, sagte Rottenburgs Oberbürgermeister Stephan Neher (CDU) im Dlf. Jeder, der in Seenot gelange, müsse auch gerettet werden. Dieser Grundsatz dürfe nicht überlagert werden von politischen Überlegungen.

Stephan Neher im Gespräch mit Claudia Hennen | 22.07.2019
Das Foto zeigt eine Operation der Rettungsorganisation Sea Watch im Mittelmeer: Die geretteten Flüchtlinge sitzen in einem Schlauchboot.
Ein Bild der aktuellen Operation der Sea Watch im Mittelmeer: Die Flüchtlinge würde Stephan Neher nach eigenen Angaben sofort aufnehmen (dpa / picture alliance / ROPI / Till Egen / Seawatch)
Claudia Hennen: In Paris treffen sich heute erneut Außen- und Innenminister der EU-Staaten, um über die Flüchtlingsrettung im Mittelmeer zu beraten. Wieder dabei - Bundesaußenminister Heiko Maas. Der SPD-Politiker drängt auf eine gemeinsame europäische Lösung. Das geht einigen deutschen Städten viel zu langsam, allein dieses Jahr sind Hunderte Migranten im Mittelmeer ertrunken. Zahlreiche Kommunen haben sich bereit erklärt, Flüchtlinge aufzunehmen.
Etwa die Stadt Rottenburg am Neckar, sie hat sich vor einem Monat mit zwölf weiteren Städten zum Bündnis "Städte sicherer Häfen" zusammengeschlossen. Ich habe mit Stephan Neher, Oberbürgermeister von Rottenburg und Kreisvorsitzender der CDU Tübingen gesprochen, warum sich die Stadt so stark macht für die Seenot-Flüchtlinge.
Stephan Neher: Ja, wir sehen tagtäglich die Bilder im Fernsehen und in den Berichten, was auf dem Mittelmeer los ist und wie Menschen dort in untauglichen Booten unterwegs sind. Und ich glaube, viele Bürger und auch wir als Stadt Rottenburg haben gesagt, tatenlos zuzusehen ist die schlechteste Alternative. Und Europa, was sich für Menschenrechte starkmacht in der ganzen Welt, muss natürlich, wenn man selbst gefragt ist, auch danach handeln. Deswegen passt die derzeitige Situation nicht zu den Ansprüchen, die wir auch als Stadt Rottenburg haben.
Handeln auch aus "christlichen Überzeugungen"
Hennen: Ist die Seenotrettung für Sie eine Pflicht?
Neher: Ja, auf alle Fälle! Es gibt auch eine Pflicht oder einen Grundsatz der Marine, dass jeder, der in Seenot gelangt, auch gerettet wird, und ich nicht nach den Gründen frage. Und so ist es meines Erachtens auch hier, es muss gerettet werden, wer in Seenot ist. Und anschließend gucke ich dann nach, welches Verfahren das richtige ist und wie dort dann auch das Asylverfahren abläuft.
Wir sind natürlich auch als Bischofsstadt noch unseren christlichen Überzeugungen verpflichtet, das ist vielleicht auch das, warum wir manchmal da jetzt auch schneller waren als vielleicht andere. Es gilt, ein Menschenleben zu retten in jedem Stadium, ob jetzt das ungeborene Leben oder auch das in Not geratene. Und das ist unser Grundsatz, der uns hier auch leitet, zu sagen, diese Hilfe ist dringend notwendig und darf nicht überlagert werden von Überlegungen, die ja so mancher dann auch anstellt, je gefährlicher der Fluchtweg erscheint, umso weniger wagen sich auf diese gefährliche Route. Das ist unseres Erachtens kein legitimer Grund, jetzt zu sagen, man intensiviert oder man vernachlässigt tatsächlich die Angebote oder die Hilfen des Seenotgeretteten.
Rottenburgs Oberbürgermeister Stephan Neher bei einer Gedenkveranstaltung in Berlin-Plötzensee. 
Rottenburgs Oberbürgermeister Stephan Neher (imago images / ULMER Pressebildagentur)
Hennen: Sie haben sich dann aber Mitte Juni dieses Jahres zusammen mit zwölf anderen Städten zu einem Bündnis Städte sicherer Häfen zusammengeschlossen. Trotzdem geht es ja nicht so richtig voran. Sie haben ja bereits vor Wochen das Bundes- und das Landesinnenministerium angeschrieben, diese wissen lassen, dass Sie bereit sind, die Flüchtlinge aufzunehmen, und die Ministerien haben Ihre Bereitschaft auch ausdrücklich begrüßt. Aber sehr viel ist ja seither nicht passiert.
Neher: Ja, ich verstehe natürlich, dass hier komplizierte Verfahren abgewickelt werden müssen. Ich glaube aber auch, es ist wichtig, dass man den Kommunen, die jetzt vielleicht an Grenzen gelangen durch bereits vorhandene Flüchtlinge, die im Ort sind, die vielleicht sowieso strukturell Schwierigkeiten haben, die vielleicht einen sehr hohen Zuzug haben, und deswegen das Wohnungsangebot zu knapp ist, die Engpässe im Kindergarten, in der Schule haben, dass man da natürlich jetzt vielleicht nicht verlangen kann, über das Maß hinaus nochmals Flüchtlinge aufzunehmen.
Und so verstehe ich auch die Kommunen, die sich als sicherer Hafen erklären, dass die sagen, wir haben gewisse Faktoren abgeprüft, was Plätze anbelangt der Unterkunft, was aber auch Plätze natürlich anbelangt für Sprachkurse, für schulisches und Betreuungsangebot, dass bei uns da noch Kapazität vorhanden ist und wir deswegen auch die Hilfe anbieten können.
Und deswegen ist es, glaube ich, schon auch wichtig, dass die Bundes- oder Europaebene darauf reagiert und dann sagt, wir sind ja an schnellen Lösungen interessiert und weichen vielleicht auch mal vom sehr komplizierten Verfahren, das alles seine Berechtigung hat, auch ab, um Menschen die Hilfe auch ankommen zu lassen. Ich sehe immer das Problem, wenn jemand mit dem Hinweis kommt und sagt, klar, wer jetzt aus Seenot gerettet ist, muss erst mal dann die Zeit in der Erstaufnahmeeinrichtung verbringen …
Hennen: … und das Asylverfahren durchlaufen …
Neher: … durchlaufen. Aber wenn das so lange dauert, manchmal Monate dauert, dann ist, glaube ich, niemandem geholfen, dann entsteht ein wahnsinniger Frust bei demjenigen, der sich auf den Fluchtweg begeben hat, denn monatelang ohne Beschäftigung, ohne Angebot in so Massenunterkünften zu sein, insbesondere auch Familien, das hilft, glaube ich, nicht.
Ich sage immer, wer auch nur zeitweise, und wenn dann das Asylverfahren zum Ende kommt, dass eine Abschiebung droht, hier in Deutschland sinnvolle Fähigkeiten erworben hat, ob es Sprache oder auch Ausbildungsteile vielleicht nur sind, dann ist es sehr gut investiertes Geld, auch in einer Art Entwicklungshilfe, denn er wird nach seinem Aufenthalt hier in Europa und der Rückkehr in sein Heimatland deutlich bessere Startchancen haben, als er die vielleicht im eigenen Land jemals erreichen könnte.
"Lasten auf mehreren Schultern verteilen"
Hennen: Fühlen Sie sich durch den Bund ausgebremst?
Neher: Man wünscht sich auch als Kommunalpolitiker da schon auch manchmal eine schnellere Bereitschaft, vor allem angesichts der Zahl, wenn ich richtig informiert bin, ist ja die Zahl der durch private Seenotrettung auch Geretteten irgendwo bei 500, 600 Menschen. Das ist ja jetzt keine Zahl, die uns tatsächlich im alltäglichen Handeln jetzt überfordern würde. Klar würde ich auch erwarten, dass hier der deutsche Innenminister manchmal noch einen mutigeren Schritt vorangeht und nicht so viel ausweicht und auf die große europäische Lösung verweist, solange sie nicht tatsächlich auch griffbereit in der Nähe ist.
Hennen: Sie halten ja eine Sammelunterkunft in der Stadt bereit. Was ist denn Ihre Prognose, wann werden die ersten Flüchtlinge dort ankommen?
Neher: Ja, das ist eine Sammelunterkunft, die wir jetzt auch schon vor einem Monat hätten komplett stillgelegt, das heißt auch mit dem Heizsystem und der elektronischen Versorgung, das haben wir jetzt noch mal auf den Herbst verschoben, sodass wir in kürzester Zeit auch Plätze bereitstellen könnten. Ich hoffe, dass über die Sommermonate jetzt eine Klärung stattfindet, ich hoffe natürlich auch, dass immer noch mehr Städte und Gemeinden - und das funktioniert ja auch heute schon - sich bereit erklären, sicherer Hafen zu sein.
Hennen: Um den politischen Druck zu erhöhen?
Neher: Einmal das, um den politischen Druck zu erhöhen, aber auch, um Lasten auf mehreren Schultern zu verteilen. Und ich glaube, wenn Lasten auf viele Schultern verteilt sind, dann ist das auch für die Gesamtgesellschaft eine tragbare Herausforderung und überfordert keinen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.