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Hilflose Geisterfahrt des Lebens

Der Beamte K. wird durch einen Zufall verhaftet, gerät in die Mühlen der Justiz und Verwaltung, in das Labyrinth einer anonymen Welt, in der Menschen mechanisch verarbeitet werden. Regisseur Andreas Kriegenburg gelingt es in seiner szenischen Adaption von Franz Kafkas "Prozess", die beklemmende Unausweichlichkeit und bürokratische Gleichgültigkeit des Geschehens brillant darzustellen - eine gelungene Inszenierung an den Münchner Kammerspielen.

Von Cornelie Ueding |
    Der Vorhang geht auf und der Albtraum beginnt. Und dass das jedem passieren kann, nicht nur bei Kafka, nicht nur Joseph K. - daran lässt Regisseur Andreas Kriegenburg keinen Zweifel: Herr K. betritt die Bühne gleich in mehrfacher Gestalt, tauscht Hut und Haltung mit Beamten, Türstehern, Gerichtsschreibern. Und wem immer die Rolle des Beschuldigten zugeschoben, übergestülpt wird in diesem Verdächtigungs-Roulette - der wird zum hilflosen Geisterfahrer seines eigenen Lebens. Ganz umstandslos, ohne große Emotionen oder psychologisierende "Tiefe", dafür mit bürokratischer Gleichgültigkeit wird das Ungeheuerliche abgehandelt. Da liegt einer noch im Bett, da wird er schon verhaftet; da sitzt neben ihm, an der Schreibmaschine, schon ein eifrig protokollierender Schreibtischtäter.

    Die Situation ist immer die gleiche: Verhaftung ohne Legitimation, ohne Begründung, ohne Schuld. Ein Irrtum, mag sein; ein behördlicher Fehler, selbst wenn man gerät ins Mahlwerk der Institutionen. Ein Entkommen gibt es nicht. Kriegenburg ist bei seiner szenischen Adaption von Kafkas "Prozess" auch sein eigener Bühnenbildner. Die Zuschauer sehen paradoxerweise von oben in einen auf die Seite gelegten Trichter hinein. Und dort erscheint paradoxerweise alles, wie unter einer Lupe, vergrößert und überdeutlich. Anfangs sitzen die Figuren auf dem senkrecht stehenden Grund dieses magischen Auges in grotesker Steifheit auf steilen Stühlen, oft wie die vielen von Kafka gezeichneten Strichmännchen über den Schreibtisch gebeugt.

    Doch auch wenn die Neigung der Spielfläche flacher wird, erfordert jede Bewegung geradezu artistisches Können. Denn dieses schräggestellte Unglücks-Rad rotiert, ist so was wie ein zirzensisches Perpetuum Mobile des Lebens. Das führt im ersten Teil der annähernd dreistündigen Aufführung zu hinreißend komischen, slapstick-artigen Verrenkungen der drei, vier, manchmal sechs oder sieben K's in Buster Keaton-Maske mit Oberlippenbärtchen und unbewegter Miene. Wie Dominosteine klappen sie aufeinander zu und fallen mit kleinen, charakteristischen Abweichungen wieder auseinander; begleitet vom Knirschen des Gerechtigkeitsmahlwerks, tröpfelnden Klängen und anfallweise ebenso mechanisch eifrigem Sprechgeschnatter.

    Naturgemäß schlagen alle Rettungsbemühungen fehl. Weder hilft die Liebe in Form des serienweisen Abküssens des begehrten Fräulein Bürstner durch alle schlangestehenden K's, noch das kollektive Pusten der mittlerweile liegenden Herren: auf dass ihr Rock nach oben wehe. Kirchliche Tröster - selber verkleidete K's in Serie - reden ebenso gütig wie hinterhältig einer nach dem anderen auf den unschuldig Verfolgten und ungreifbar Beschuldigten ein. Natürlich vergeblich. Und auch der familiäre Rettungsversuch durch den Onkel endet mit Vorwürfen und - tragikomisch:

    Im Zweiten Teil schlägt die Stunde der Monologe, der Intriganten und ihrer Bestechungsversuche. Ein letztes Wiedererkennungslachen vor der unausweichlichen Einsicht, dass jedermann, K., förmlich zerrieben wird, wie eine abgeschnittene Marionette aus dem System fällt, wenn er versucht, sich dem Laufwerk entgegenzustellen. Die angebotenen Auswege - sind keine.

    Die büroartige Staffage ist verschwunden, das kahle Mühlrad rotiert unablässig. Verkrümmt klammern sich die K's an ein paar noch herausragende Stangen. Schlapp klappen ihre Körper wie baumelnde Uhrzeiger der Drehung hinterher. Tot ist K. dann ein einzelner, allein, auf die Scheibe gekreuzigt. Mit rot blutender Wunde in diesem grau-schwarz-weißen, geschlossenen Raum. Kriegenburg macht in seiner hochaktuellen, doch niemals aktualisierenden Inszenierung den Zuschauerraum zum Überwachungsraum.

    Und die Theatralisierung von Prosatexten - häufig ein Problem - wird in dieser auf- und anregenden Aufführung mit ihrem im Wortsinn atemberaubenden Ensemblespiel zum Weg, um den Duktus, die beklemmende Unausweichlichkeit und den über weite Strecken dabei rasend komischen Wiederholungszwang der Kafkaesken Welt-Mechanik nicht nur zu beschreiben, sondern, ja: zu verdichten! Körpersprachlich und durch die Sprechmechanik der strampelnden, zappelnden, sich verbiegenden Figuren wird jede Konstellation in Momentaufnahmen aufgelöst, in denen jedem alles passieren kann. Ein virtuoser Umgang mit Kafkas Text - in dem die Bühne auf frappierende Art zum Laboratorium des Erzählten wird.