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Himmelskörper

Was hilft gegen Stress, Depression, Verzweiflung? Hans Magnus Enzensberger hat gerade empfohlen, Wolken zu betrachten. Der Blick in den Himmel als Therapie. - Die Meteorologin Freia Sandmann, die Wolkenformen erforscht, müsste also die Ruhe selbst sein. Doch der Blick nach oben nützt nichts mehr, seit ihr ein irdisches Ereignis bevorsteht: die Protagonistin von Tanja Dückers’ Roman "Himmelskörper" erwartet ein Kind. Für ihren "Wolkenatlas" fehlte ihr nur noch ein sehr seltenes Exemplar: Cirrus Perlucidus. In Neuseeland wollte sie das quallenartig-durchsichtige Gebilde vors Objektiv kriegen. Doch nun wird ihr plötzlich bewußt, daß sie Teil einer "Familienkette" ist; sie beginnt eine Reise ins Undurchsichtige, in ihre familiäre Vergangenheit.

Saskia Heinemann | 25.06.2003
    Tanja Dückers hat sich an einem Drei-Generationen-Roman versucht. Die Großeltern, Ostpreußen, leben seit 1945 im Westen. Wohlstandsbürger, niemals Nazis gewesen, nur "treudeutsch". Großvater Max hat dem Vaterland ein Bein opfern müssen, seine Frau und Tochter sind nur knapp daran vorbeigekommen, an Bord des Todesschiffs Wilhelm Gustloff zu gehen. Tochter Renate, 1940 geboren, lebt als gutsituierte und oft betrogene Arztgattin am Stadtrand von Westberlin, und irgendwie auch am Rand des Lebens: hübsch aber unauffällig, nur für die Familie da. Ihre Kinder, die Zwillinge Freia und Paul, sind ebenfalls lange Zeit auf die Familie fixiert, sich selbst genug und eingesponnen in eine Märchenwelt. Später schaffen sie sich eigene Welten anderer Art: Paul, der Künstler, in seinen Bildern, die weniger phantasiebegabte Freia durchs Studium der Wolken.

    Tanja Dückers lässt ihre Ich-Erzählerin Freia die Familiengeschichte in assoziativen Rückblenden erzählen. Der Roman bewegt sich dabei in einer Art Ellipse um zwei Brennpunkte: um ein Familiengeheimnis, das Freias Mutter in eine Schuldneurose getrieben hat und um die Problematik der Aufarbeitung von Vergangenheit und Schuld.

    In Gdingen, wo die Gustloff zu ihrer letzten Fahrt startete, kamen die Großmutter und Renate auf ein sicherer erscheinendes Minensuchboot, weil die fünfjährige über eine Nachbarsfrau ausplapperte, sie habe schon seit langem nicht mehr den Hitler-Gruß gemacht. Die Nachbarin und ihr Sohn mussten deshalb auf die Gustloff. Renate und ihrer Mutter aber gelang die Flucht.

    Die eingebildete Schuld lastet fünfzig Jahre auf ihr, bis sie sich schließlich das Leben nimmt. Freia erfährt das Geheimnis erst gegen Ende des Romans von ihrer todkranken Großmutter. Die tieferen Gründe der Schuldneurose bleiben unerklärt. Die Sprachkraft der Autorin, die leider vor allem oft gerade dann, wenn sie etwas ihr besonders Wichtiges sagen will, in ein Bürokratendeutsch oder ins wolkig Unpräzise abdriftet, reicht nicht aus, um die Fremdheit zwischen Freia und ihrer Mutter und deren Fremdheit in der Welt überhaupt sinnlich greifbar zu machen.

    Was die Aufarbeitung von Vergangenheit angeht, hat Dückers sich durchaus Löbliches vorgenommen: Sie, die sich zur gleichen Zeit wie Günter Grass mit dem Untergang der Gustloff beschäftigte, will gegen eine spätestens seit dessen Novelle "Im Krebsgang" deutlicher sichtbar gewordene neue Opfermentalität unter den Deutschen anschreiben. Entgegentreten will sie anscheinend auch einer allzu unbefangenen Einfühlung der Enkelgeneration in das Verhalten der Großeltern. Jenem Trend, den die im vorigen Jahr veröffentlichte sozialpsychologische Studie "Opa war kein Nazi" belegt hat. Freias Opa war ein Nazi, wie sie und ihr Bruder nach dem Tod beider Großeltern endlich doch herausfinden. Doch was genau die beiden getan oder gelassen haben und vor allem: warum, bleibt unklar. Als politische Aufklärerin, die sie gern sein möchte, landet Dückers auf Allgemeinplätzen. Die Großeltern haben, wie die meisten, ziemlich begeistert mitgemacht. Mehr finden Enkel und Leser nicht heraus.

    Und nach dem Krieg? "Glücklich ist, wer vergißt" – nach diesem Motto sind Freias Großeltern immer gut klargekommen. Die Aufarbeitung der Vergangenheit haben sich die folgenden Generationen geteilt: Die schuldlose Renate übernahm die Schuld, ohne sie verarbeiten zu können. Vergangenheitsarbeit leisten dagegen die Enkel, eine apart-ästhetische noch dazu: sie "transformieren" die vielen Erinnerungsstücke der Familie in Kunst: Freia hält ihrem Bruder ein Stück nach dem anderen vor die Nase, erzählt etwas dazu und er lässt sich dadurch zum Malen und Collagieren inspirieren, danach wandern die Objekte in den Müll. Das Bilder-Projekt scheitert jedoch, als Freia auffällt, dass Paul damit nicht Klarheit schafft, sondern, wie sie sagt, ein "weiteres Labyrinth" aufbaut. Klar sind eben nur die Wolken. Vielleicht aber auch die Literatur? Jedenfalls machen Freia und Paul sich am Ende des Romans daran, gemeinsam einen Roman zu schreiben, der "Himmelskörper" heißen soll. Dabei gibt Dückers ihrem Text einen überraschenden Dreh: der Leser erfährt, daß die Ich-Erzählerin Freia nur das Sprachrohr ihres Bruders ist. Der fiktive Autor des geplanten Romans aber ist Paul, Freia soll ihm nur die Fakten liefern, die er zur Sprache bringt. Sprache, meint Paul erstaunlicherweise, sei "Dekoration". Seltsam wie hier eine Autorin das Dilemma ihres Schreibens selbst auf den Punkt bringt. Allerdings ist nicht alles Dekoration: In den Kinderszenen im Grunewald schafft Dückers immer wieder eine dichte Atmosphäre, die an traumhafte Szenen in Bergman-Filmen, etwa in "Fanny und Alexander", erinnert. Die Kriegsgeschichten und die rituellen Streitereien der Großeltern funktionieren gut als böse Muppet-Show.

    Doch am Ende wird’s wieder einmal wolkig-symbolisch: Das Buch, das die Geschwister schreiben wollen, wird von Freia so apostrophiert: "Papier, so leicht wie Wolken, Luft, wie Cirrus Perlucidus, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt habe und der unter meinem Kopfkissen spielend Platz finden könnte." Also dann: gute Nacht, Frau Sandmann.