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Himmlische Heerscharen im Tiefflug

Für Musiker spielte die Frage nach dem historischen Ort und Zeitrahmen der Weihnachtsgeschichte weder im Barock noch in der Gegenwart eine große Rolle. Sie hatten am vorgegeben Text nicht zu zweifeln, sondern ihn mit Chorälen, Pastoralen und Ähnlichem zu unterfüttern und überhohen.

Von Frieder Reininghaus | 26.12.2012
    Möglicherweise ereignete sich in diesen Tagen vor vermutlich zweitausendsechzehn Jahren in etwa das, was zwei oder drei Menschenalter nach den Ereignissen aufgezeichnet, redigiert und dann in kanonisierter Form überliefert wurde: Dass die aufgrund einer staatlichen Verordnung mit ihrem Verlobten Josef von Nazareth nach Bethlehem gekommene Maria kein ordentliches Quartier gefunden und daher in einer Unterkunft für Tiere entbunden habe.

    "Und sie gebar ihren ersten Sohn, und wickelte ihn in Windeln, und legte ihn in eine Krippen, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge." (J. S. Bach, Weihnachtsoratorium, Teil 1, Recitativo Nr. 6)

    An das im 2. Kapitel des Lukas-Evangeliums dargestellte Ereignis knüpfte sich die wahrscheinlich nachhaltigste Heilsverheißung für die Menschheit: Dass der Knabe, der da in einer "Erdspalte", Höhle oder Stallung zur Welt kam, eben diese Welt "erlösen" werde – alle Menschen, die guten Willens seien, ohne Ansehen des gesellschaftlichen Rangs und der Verstrickungen in die Schuldhaftigkeit der "argen Welt".

    Der nach der Weise der spätantiken Chronisten abgefasste Bericht fixierte die "Weihnachtsgeschichte" örtlich und zeitlich recht genau. Freilich nicht so exakt, dass sich heute der Standort einer Herberge Zum guten Hirten noch rekonstruieren ließe. Sie mag dort gestanden haben, wo sich die unter Kaiser Konstantin dem Großen und seiner Mutter Helena erbaute, später ersetzte und mehrfach umgebaute Memorialkirche befindet – vielleicht auch einige Straßenecken weiter oder in einer anderen Stadt.

    Es ist angesichts der Geschichte von Zerstörung und immer wieder bewerkstelligtem Wiederaufbau nicht von Belang, denn es ging von Anfang an um die Genese und geht um die Geltung einer Glaubensgrundlage. Daher ist die Zeugenschaft von Ochs und Esel, die aus dem Alten Testament aus theologischen Gründen adaptiert, von der Malerei seit dem Mittelalter als weitere Hauptdarsteller "inszeniert" wurden, längst eher von kunstgeschichtlicher Bedeutung als von theologischer.

    Die Experten des Glaubens wussten von Anfang an, dass das Wundergeschehen unmittelbar an Wundergläubigkeit gekoppelt ist. Sie richteten ihre Strategien nach diese Maxime aus und ließen die Accessoires immer wieder modernisieren – die optischen wie die musikalischen.

    Die Fragen von historischem Ort und Zeitrahmen berührte die Musiker als ausführende Organe nur bedingt, da sie nicht an vorgegebenen Texten zu zweifeln hatten, sondern diese mit ihren Magnificatkompositionen, themenbezogenen Chorälen, Weihnachtshistorien, -kantilenen- und pastoralen unterfütterten und überhöhten (man beißt nicht in die Hand, die einen nährt).

    Zwar ist das meiste, was das musikalische Christfestfeiern betrifft, Fortschreibung oder Arrangement aus den historischen Hauptkontingenten, die dadurch nicht länger historisch bleiben, sondern zur klingenden Weihnachtsware werden. Aber es entstehen immer wieder auch bemerkenswerte großformatige Werke, die sich in die Tradition der Kontemplation einreihen. Zum Beispiel das Opern-Oratorium "El Niño" von Peter Sellars und John Adams, das zu Beginn des Jahrtausends in Paris uraufgeführt wurde: eine Nacherzählung des Wundergeschehens im Rahmen eines amerikanischen Elendsquartiers der Gegenwart mit einem neuen Gute-Hoffnung-Sound.

    Womöglich bemerkenswerter ist, dass sich die Erinnerung an die Weihnachtsbotschaft und deren Pervertierung an Stellen meldete, an denen es nicht bestellt und nicht zu erwarten war: In Helmut Lachenmanns "Mädchen mit den Schwefelhölzern" zum Beispiel, einer Musik zu Bildern und Texten von Hans Christian Andersen (dieses Werk erwies sich seit der Uraufführung 1997 als eine der erfolgreichen Musiktheater-Vorlagen). Kein idyllisches Weihnachten scheint da auf: Das Mädchen erfriert vor den Scheiben, hinter denen die kross gebratene Gans verzehrt wird.