Samstag, 20. April 2024

Archiv


Hinter dem Tränenschleier der Mutter

Wie wird man zu dem, der man ist? Die Frage mag belanglos klingen. Oder Ausflüchte zulassen in die viel nahe liegendere Frage: Wer ist man denn überhaupt? Ein Reflex jenes Landes, das man bewohnt? Der argentinische Schriftsteller Alan Pauls, geboren 1959 in Buenos Aires, ist aufgewachsen zwischen scheiternden Utopien, Diktatur, Neuorientierung. In seinem Roman "Geschichte der Tränen" ergründet er dieses Werden. Wie genau seine Analyse greift, wie sehr sie auch die politische Imprägnierung ins biografische Material einschließt, lässt sich am architektonischen Bau seiner schlanken, indes hochkarätigen Studie ermessen.

Von Anja Hirsch | 05.10.2010
    Sie beginnt mit dem zielstrebigen Plan eines gerade mal vierjährigen Jungen, der die Eigenschaft hat, gut zuhören zu können. Und sie endet im Dunkeln eines Zimmers hinter dem Tränenschleier seiner Mutter - kurz: in der Unschärfe, die mehr Ahnung als Wissen lehrt. "Geschichte der Tränen" erzählt, wie die Zielstrebigkeit der frühen Jahre abhandenkommt - in einem Land wie Argentinien, in dem nichts ist, wie es scheint.
    "In jeder Uniform sieht er nicht eine Person, sondern zwei, mindestens zwei, die sich auch noch widersprechen, eine die Sicherheit verheißt, und eine, die mit vorgehaltener Pistole raubt und vergewaltigt; eine, die Landesgrenzen bewacht, und eine, die mit der Konkarde auf der Brust plündert und mordet; eine, die Segen und Trost spendet, und eine, die sich im Beichtstuhl von Messdienern wichsen lässt."

    Wie aber unterscheidet man Schein von Sein? Zunächst einmal, indem man sich nicht blenden lässt. Den tieferen Blick beherrscht der kleine Junge schon früh. Ihn begeistert Superman - aber nicht nur, wie alle Jungs, wegen der Heldentaten. Sondern weil man an ihm erleben kann, wie er zwar regelmäßig stur Gutes tut, zu gleicher Zeit aber an anderer Stelle, wo er auch gebraucht wird, versagt. Das erst macht Superman verletzlich. Um Fluch und Genuss eben dieser Fähigkeit geht es in diesem zarten, verschlungenen Roman. Alan Pauls würdigt die Empfindsamkeit des kindlichen Blicks, die ihm allererst das innere Werden seiner Hauptfigur erklärt. Er lässt sie in dritter Person beschreiben, distanziert, als beobachte hier ein Unbeteiligter. Dem ist aber nicht an Daten und Fakten einer Biografie gelegen. Vielmehr interessieren ihn explizit Lebensereignisse, die mit Affekten und Irritationen verbunden sind. Wir sehen den Jungen als Scheidungskind, vom Vater sporadisch zum Schwimmen abgeholt; wir sehen ihn herzhaft weinen, wenn Erwachsene ihm ihre traurigen Geschichten anvertrauen; wir sehen ihn enttäuscht zurückblicken, weil seine Empfindsamkeit oftmals ausgenutzt wurde. Und wir sehen ihn als Jugendlichen. Da liest er begeistert lateinamerikanische revolutionäre Theorien, als absolvierte er einen Crashkurs zum bewaffneten Kampf per Fernstudium - heimlich:

    "Er liest (...), - und irgendwann ist das Licht so schwach, flimmern die Worte so sehr, dass er die Augen schließt und liest, wie er sich vorstellt, dass Blinde lesen, mit den Fingerkuppen über die Sätze fahrend, bis ein leichter kalter Schlag auf den Handrücken, einer und dann noch einer und noch einer ihn zwingen, innezuhalten. Er öffnet die Augen. Regnet es? Nein, es weint. Es weint in der Stadt, wie es in seinem Herzen regnet."

    Irgendwann verschwimmt das Eindeutige. Er betrachtet die Menschen mit anderem Blick. Tränen als Währung taugen nichts mehr. Selbst einem aus sechsjährigem Exil heimgekehrten Protestsänger und Liedermacher, zu dessen Konzert sein Vater ihn mitnimmt, ist zu misstrauen. Als er dem Sänger vorgestellt wird, kommt es zu jener Bekundung von Gemeinschaft, die den Sohn zu meinen scheint, ihn aber doch nur instrumentalisiert.

    "'Dein Sohn!', ruft er mit einer Sanftheit, und in dieser perfekt abgestimmten Mischung aus Heftigkeit und Zärtlichkeit (...) glaubt er die geheime Formel einer Komplizenschaft zu erkennen, die sich auf das gründet, was er am meisten verabscheut auf der Welt, Ungenauigkeit, Oberflächlichkeit, Selbstgefälligkeit, und als er schüchtern und steifarmig wie ein Automat eine Hand ausstreckt, um seinen Vater nicht zu brüskieren und trotzdem eine gewisse Distanz zu wahren, fasst ihn der Liedermacher bei den Unterarmen, und indem er ihn plötzlich an sich zieht, überrumpelt, sodass er sich nicht wehren kann, umarmt er ihn lange, wobei er sein Kinn auf seine Schulter legt und flüstert: 'Wie schön. Was für einen sensationellen Sohn du hast. Was für einen bemerkenswerten Sohn' - und er sagt das nicht zu seinem Vater, (...) sondern zur Menschheit im Besonderen."

    Alan Pauls erzählt im Bodensatz seines Romans vom Dilemma des grübelnden Subjekts, das im Nachhinein zu verstehen versucht. Hat er beispielsweise als Junge merken können, dass der harmlose Nachbar, bei dem die Mutter ihn oft lässt, ein militärischer Folterer ist? Nichts in dessen Wohnung scheint persönlich ausgesucht. Wenige Dinge, die er kaum berührt, als durchquere er vermintes Gelände. Die Beschreibungen dieser Szenen sind stark, weil sie, ganz dem Vorbild Marcel Prousts gehorchend, Wahrnehmungsnuancen herausarbeiten. Menschen, die sich verstellen, stehen im Fokus des erzählerischen Blicks. Und gleich daneben die Suche nach dem verräterischen Detail. Nachfragen; die Oberfläche aufzubrechen, um wachsam zu bleiben, ist deshalb zugleich auch poetologische Leitfigur. Alan Pauls' verschachtelte Sätze, oft länger als eine Buchseite, reißen Schicht um Schicht herab - im endlosen Kampf gegen das verschließende Vergessen.

    "Mit der Zeit lösen sich die Aufenthalte bei dem militärischen Nachbarn unwiderruflich in der dunklen, ausufernden, innerlich konturlosen Wolke auf, mit der er in der Erinnerung seine Kindheit zu verwechseln neigt."

    Alan Pauls stellt grundsätzliche Fragen. Er verlangsamt Blick und Tempo, damit wir an diesem Weg teilhaben können. Und je länger man dieses Projekt verfolgt, je willfähriger man sich auf seine zahnrädrigen Erzählungen nebst miniaturhaft eingeschobenen Binnenerzählungen einlässt, desto deutlicher erschließt sich dabei auch der Bekenntnis-Charakter des Romans. Tatsächlich trägt er im spanischen Original den Untertitel "un testimonio", also Zeugenaussage. Auslassungszeichen, die auch in den deutschen Text übernommen wurden, verdeutlichen, dass offenbar nicht alles wiedergegeben wird. Es geht hier eben nicht um Vollständigkeit. Wichtiger ist, was ausgewählt, was als prägend empfunden wird. Politisches Bewusstsein hängt im Wesentlichen davon ab. "Geschichte der Tränen" ist nicht nur Wahrnehmungsschulung und Lebensresümee. Der Roman fragt nach den Kriterien der Ich-Bildung in einem Land, das nicht so schlicht zu entschlüsseln ist. Und weist damit zugleich über die Grenzen dieses Landes hinaus.

    Alan Pauls Roman "Geschichte der Tränen", aus dem Spanischen von Christian Hansen, ist im Klett-Cotta-Verlag erschienen, hat 143 Seiten und kostet 17,95 Euro