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Hinterfragen, was einem am nächsten steht

Welche Art Patriotismus angebracht ist, damit setzt sich der Schriftsteller Navid Kermani in seinem Essay "Vergesst Deutschland" auseinander. Dabei nimmt er Bezug auf die Zwickauer Terrorgruppe, aber auch auf die Attentäter des 11. September. In seiner Skepsis gegenüber jedem patriotischen Überschwang beruft er sich auf Deutschlands Dichter, die of ein angespanntes Verhältnis zu ihrer Heimat hatten.

Von Philipp Schnee | 01.10.2012
    Navid Kermani wünscht sich, dass die Deutschen verkrampfter werden. Verkrampfter in Bezug auf die eigene Nation. Denn, so warnt der Autor in seinem Essay: Allzu lockerer Patriotismus könne leicht in politische Gewalt umschlagen.

    Und daher schleudert er seinen Lesern schon im Titel "Vergesst Deutschland!" entgegen, um mit dem Nachsatz – "eine patriotische Rede" - gleich das Spannungsverhältnis seiner Argumentation auszubreiten. Vergessen als Methode?

    "Ja, aber nicht aus Verachtung an Deutschland, sondern gerade aus Liebe zu Deutschland. Wenn Sie sich die großen deutschen Dichter und Denker anschauen, dann waren das in diesem Sinne alles antipatriotische Patrioten. Angefangen von Goethe, von Schillers Tirade in den Räubern … und Heine und, und Hesse. Alle! Thomas Mann. Da könnten Sie jetzt eine lange Reihe von Antideutschen aufzählen, die aber zugleich große deutsche Patrioten waren. Die ihre Loyalität dadurch unter Beweis gestellt haben, dass sie das Eigene sehr selbstkritisch betrachtet haben. Und der Erste und vielleicht auch der Radikalste unter diesen großen deutschen patriotischen Antideutschen war sicherlich Lessing."

    Dieser literarische Befund Kermanis, das ist auch sein Prinzip für den Umgang mit der eigenen Nation: Sei kritisch, selbstkritisch, sei antinational. Hinterfrage, was dir am nächsten steht. Und er beginnt bei Lessing, findet in ihm das Vorbild eines Kosmopoliten: Der Welt zugewandt, Heimat und Herkunft stets kritisch betrachtend. Und er findet in Lessings weniger bekanntem Drama "Philotas" einen Schlüssel zum Terror der heutigen Zeit, ob islamistisch oder rechtsradikal. Denn im Drama wie in der Realität kämen die Täter aus der Mitte unserer Gesellschaft. Bei Lessing klingt das so: Ein Königssohn ist zum Selbstmord bereit, zur heroischen Selbstaufopferung für das eigene Land, die eigenen Nation. Er ist gebildet, klug, belesen, freundlich und unauffällig. Diese "bürgerlichen Puzzle-Teile" interessieren Kermani in dem Stück "Philotas". An der Biografie des Königssohns sei die Unauffälligkeit das Auffällige. Und hier sieht der Autor die Gemeinsamkeiten zu Terroristen der heutigen Zeit: Denn diese auffällige Unauffälligkeit sei auch bei Uwe Mundlos, dem Angehörigen des Zwickauer Trios zu beobachten. Genauso wie bei Mohammed Atta, einem der mutmaßlichen Attentäter auf das World Trade Center. Beide stammten aus einer gebildeten Familie, beide waren bekannt als hilfsbereite Nachbarn und Mitmenschen. Die mediale Öffentlichkeit und mit ihr die ganze Gesellschaft aber, so schreibt Kermani, tun die Terroristen gerne als Wahnsinnige ab:

    "Es ist ebenso leicht wie unverfänglich, junge Männer wie Mohammed Atta oder Uwe Mundlos als Bestien, als Irre, als Killer-Nazis zu bezeichnen, wie es in der Berichterstattung etwa der Bild-Zeitung auch deshalb ständig geschieht, um die Täter möglichst weit von der Gesellschaft, vor allem aber von der Hetze der eigenen Meinungsartikel und Kampagnen fortzurücken, sie als pathologische Fälle abzutun."

    Kermani kritisiert das "Nicht-wahr-haben-Wollen" der Behörden einer deutschen Täterschaft im Falle der NSU-Morde: Er führt die jahrelange Pannenserie bei den Ermittlungen aber nicht nur auf Fehler innerhalb der Sicherheitsbehörden zurück. Vielmehr seien diese nur der Ausdruck einer gesellschaftlichen Stimmung, der strukturellen Verdrängung von Rechtsradikalismus:

    "Wenn Sie sehen, dass seit der Wende fast 200 Menschen wegen ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer Ethnie, ihrer Hautfarbe umgebracht worden sind in Deutschland und dann sieht, wie wenig diesem Problem eigentlich Beachtung geschenkt worden ist. Wenn man sieht, dass es in manchen Landstrichen praktisch ausländerfreie Zonen gibt, ohne dass jemand wie ich, der ihnen jetzt Rede und Antwort steht, dort nicht besser abends allein auf der Straße herumlaufen sollte. Das sind doch schon gewaltige Probleme, die über die Mordserie von einzelnen Terroristen hinausgehen. Die uns alle betreffen."

    Nationalismus – das Wir einer Gemeinschaft – braucht immer ein Gegenüber, das Andere: Deshalb möchte Kermani kein "normales" Verhältnis zu Deutschland finden – er betont wieder und wieder, wie gerade Deutschlands Dichter – die heute in Fernsehshows die "Großdeutschen" sind, – zumeist ein angespanntes Verhältnis zu ihrer Heimat hatten. Die Kritik und Absage an Deutschland – für Kermani ist sie sogar ein Leitmotiv der deutschen Literaturgeschichte. Um es klarzustellen: Kermani ist nicht so naiv zu leugnen, dass die Menschen Gemeinsames suchen und brauchen. Er bekennt sogar, dass die Wertschätzung, Pflege und auch Liebe der vertrauten Umgebung, der eigenen Kultur für ihn "so natürlich wie die Liebe zu den eigenen Eltern" ist.

    Der Wirkweise des Nationalismus und Patriotismus aber steht er trotz alledem höchst skeptisch gegenüber:

    "Ich glaube, dass wir gut daran täten, an der Überwindung des Nationalismus, wie es im Laufe des 20. Jahrhunderts ja begonnen wurde nach der Katastrophe des Dritten Reiches, etwa mit dem Prozess der Europäischen Union, mit der Vereinigung Europas. Dass dieser Prozess weitergehen sollte. Ich sehe nur im Augenblick aller Orten in Europa Gemeinschaften sich renationalisieren, das heißt der Nationalismus hat eine neue Relevanz, die ich für sehr gefährlich halte."

    Zwar wolle, so Kermani, der Fan im Fahnenmeer des Fußballstadions nur die Weltmeisterschaft und nicht die Weltherrschaft. Aber schreiend und grölend sei der Fan überzeugt, dass seine Mannschaft immer Recht hat, in jeder Spielsituation. Gefährlich wird es, so Kermani, wenn man sich diesen Überschwang, diese Überhöhung kollektiver Zugehörigkeit auf der politischen und gesellschaftlichen Bühne vorstellt. Nationalismus und Patriotismus kann ignorant und immun gegen individuell bessere Einsicht machen, warnt Kermani. Und so hält es Kermani als deutscher Patriot – und dieses Attribut, dieses Bekenntnis ist ihm wichtig - lieber mit Lessing, der schrieb, dass "das Lob eines eifrigen Patrioten das allerletzte ist, wonach ich geizen würde; des Patrioten nämlich, der mich vergessen lehrt, dass ich ein Weltbürger sein sollte."

    Aus Vaterlandsliebe ein notorischer "Widersprecher" und "Nestbeschmutzer". Ein waghalsiger, aber doch ein schlauer und gelungener Spagat, mit dem Kermani die Skepsis gegen all zu viel patriotischen Überschwang zurück in die Mitte der Gesellschaft führen will. Absolut lesenswert, auch weil bei Kermani geradezu selbstverständlich und harmonisch Literaturinterpretation und politische Intervention verschmelzen.

    Navid Kermani: Vergesst Deutschland. Eine patriotische Rede.
    Ullstein Verlag, 47 Seiten, 3,99 Euro
    ISBN: 978-3-550-08021-0