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"Hiob" mit Samuel Koch
Die Bühne als Spiegel der Gesellschaft

Wie Menschen schwere Schicksalsschläge ertragen – darum geht es in dem Roman "Hiob" von Joseph Roth. Die Theaterversion der Familiengeschichte des jüdischen Lehrers Mendel Singer am Theater Bonn entfaltet große emotionale Kraft - nicht nur, weil sich das Leiden des Schauspielers Samuel Koch mit der von ihm gespielten Figur verquickt.

Von Christiane Enkeler | 06.02.2015
    Samuel Koch
    Samuel Koch verleiht dem geistig behinderten Menuchim in "Hiob" mit viel Zurückhaltung eine Komik - auch mit Schrecken. (dpa / picture alliance / Karlheinz Schindler)
    "Guten Abend! Entschuldigen Sie bitte: Man hat mir gesagt, dass ein gewisser Mendel Singer aus Zuchnow sich bei Ihnen aufhält." – "Ja. Das bin ich."
    Am Ende ist er müde geworden, Mendel Singer, der in Joseph Roths gleichnamigem Roman den "Hiob" vertritt. Alles hat er verloren. Den Glauben, die Heimat und die Familie: einen Sohn ans Militär. Den zweiten Sohn an einen Krieg, wo er noch vor seinem Bruder stirbt. Seine Frau Deborah, die darüber tot umfällt. Seine Tochter Mirjam, die den Verstand verliert. Mirjams Mannstollheit war der Grund – oder die Ausrede, nach Amerika auszuwandern. Die Singers zahlen einen hohen Preis dafür. Sie lassen ihren jüngsten Sohn zurück: Menuchim.
    "Er ist nicht normal." – "Er ist zum Lachen." – "Er gleicht einem Tier." – "Er wird ein Epileptiker."
    Dass Menuchim der Familie Last ist, wird in Bonn auf der Bühne sehr deutlich. Seine Mutter hält den erwachsenen, querschnittsgelähmten Samuel Koch als Menuchim im Arm. Sie könnte es nicht so lange, wenn die anderen nicht hülfen. Wenn Mendel Singer nicht manchmal übernähme. Oder wenn sie den Sohn nicht manchmal auf dem Rücken der Tochter abstützen könnte.
    Komik mit Schrecken
    Schon bei Joseph Roth behandeln die Geschwister Menuchim so arg, dass sie seinen Tod riskieren. Auch Samuel Koch auf der Bühne wird weiß Gott nicht wie ein rohes Ei behandelt. Die große Stärke dieser Inszenierung ist, wie viel mehr sie noch erzählt. Sandra Strunz inszeniert, mit einer starken Sophie Basse als Mendels Frau Deborah, die unbedingte Liebe der Mutter gerade zu ihrem kranken Kind.
    Sie inszeniert die Probleme von Migration und Assimilation, mit denen Vater Mendel in Amerika zu kämpfen hat. Sie zeigt einen geistig behinderten Menuchim, dem Samuel Koch mit viel Zurückhaltung eine Komik auch mit Schrecken verleiht: Wenn Mirjam aus Todesangst um einen anderen Bruder schrill kreischt – und Menuchim sie spaßeshalber nachäfft, den Ernst der Situation gar nicht begreifend.
    Die Regisseurin arbeitet mithilfe zweier Choreografen und zweier Musiker rhythmisch und körperbetont. Dort liegen auch die Stärken von Mareike Hein, die als Mirjam wie eine läufige Katze über die Bühne zuckt und zittert, schleift und streicht. Im Takt arbeitet Mirjam dann mit den anderen in Amerika. Mendel Singer findet keinen Einstieg. Seine Frau Deborah verliert den Anschluss. Sie steht in der Reihe, die Arme ausgebreitet, als trüge sie noch einen Sohn darin. Doch sie blickt ins Leere.
    Die Inszenierung hat auch Schwächen. In der ersten Hälfte dehnt sich die eine oder andere Szene; manche Übergänge wirken holprig. Die körperliche Spielweise wird holterdiepolter eingeführt; die Kinder wirken eindimensional. Aber bald stemmen die konzentrierten Schauspieler viele Themen gleichzeitig. Zusammen mit zwei Livemusikern zeigen sie eine Ensemble-Leistung, die große emotionale Kraft entfaltet.
    "Ich hab auch noch einen armen, kranken Sohn namens Menuchim. Was ist aus ihm geworden?"
    Inklusion auf der Bühne
    Das Publikum wird mit Scheinwerfern geblendet, und als es wieder sehen kann, sitzt auf der Bühne Samuel Koch als Menuchim, der seinem Vater nur langsam seine Identität enthüllt.
    "Menuchim lebt. Er ist gesund. Es geht ihm sogar sehr gut." – "Menuchim lebt!"
    Dies ist der einzige Moment, in dem das Gelähmt-Sein des Schauspielers zum interpretierbaren Zeichen werden könnte. Wie weit es wirklich wichtig wird, das hängt vom Zuschauer ab und ist so offen wie Joseph Roths Romanende. Wollen wir glauben, dass Menuchim ein berühmter Musiker geworden ist und einfach die ganze Szene über nicht aufstehen will, weil es nicht nötig ist? Wollen wir mitdenken, dass Samuel Koch eben nicht aufstehen wird, weil es nicht möglich ist? Oder sehen wir von vornherein Mendels Traum, der sich den Sohn, erfolgreich und gesund, in seine Nähe wünscht?
    "Ich kann mich an Mama erinnern. Ihr Gesicht war groß und rund, wie eine ganze Welt." – "Groß und rund!" – "Ja. Wie die ganze Welt!"
    In einer Gesellschaft, die versucht, sich dem Thema Inklusion zu stellen, bewegt die Bühne als Spiegel dieser Gesellschaft hier sehr viel. Spannend wird jetzt auch sein, wie weit Publikum, Rezeption und Kritik in der Lage sind, sich zu bewegen.