Hans Griepentrog tritt normalerweise in klassischen Konzerthäusern auf. Jetzt steht er im Kultursaal der Berliner Jugendstrafanstalt und trägt jungen, teilweise kriegerisch tätowierten Männern Schuberts "Winterreise" vor. Drei Monate haben Hans Griepentrog und die Rapper Flowin Immo und Kronstädta mit knapp 20 Gefangenen gearbeitet – dreimal in der Woche, jeweils fünf Stunden.
"Wir haben uns ganz langsam angenähert und haben erst einmal wie Deutschunterricht eine Textanalyse gemacht, haben musikalisch das erst einmal wirken lassen, das Original. Haben die Berührungsängste Schritt für Schritt versucht, abzubauen und eine Toleranz zu schaffen."
Erklärt Jörn Hedtke, alias Kronstädta, der schon seit sieben Jahren mit jugendlichen Gefangenen Rapmusik macht. Das Neue am "Winterreise"-Projekt ist, dass Klassik ins Spiel kommt:
"Die haben uns den Song gezeigt und erklärt, dass wir den umarbeiten sollen zu einem Rapsong. Ich fand das voll geil, weil das voll viel Aussage hat. Da kann man viel draus machen."
Was die Jugendlichen an Schuberts "Winterreise" sofort fasziniert hat, ist der Text. Es geht um enttäuschte Liebe und Einsamkeit – Themen, mit denen jeder Gefangene in Berührung kommt.
"Dieses ganze Liebesding und kaputte Liebe und verlorene Liebe. Darüber kann man viel und schöne Sachen schreiben."
Jörn Hedtke: "Es geht ganz viel um Sehnsucht, um Heimweh, Fernweh, Ängste, Liebesleid. Also etwas, was auch im Rock und HipHop-Bereich viel besungen wird. Und zeitgleich hat auch die Komposition sehr viel atmosphärische Verwandtschaft. Es ist alles ein bisschen düster, also street- oder gangstarap-affin."
Die Gefängnisrapper nutzen andere Worte als Schubert, aber ihre Themen sind dieselben. Es passiert ziemlich häufig, dass Gefangene ihre Freundinnen verlieren:
"Welche Frau wartet zwei Jahre auf jemanden, der Scheiße baut? Das sind alles echte Texte, die wir selber geschrieben haben. Wir hatten eine Vorlage: Die Liebe liebt das wandern und darauf sollten wir einen Text schreiben. Und das haben wir auch gemacht."
Der Song wechselt geschickt die Stilebenen. Klassik und Hip-Hop gehen fließend ineinander über - das wirkt nicht gewollt oder aufgesetzt, sondern durch und durch professionell. Beim ersten Auftritt der Gefängnisband am vorigen Donnerstag gab es tosenden Applaus. Auch Herbert Grönemeyer, der die Schirmherrschaft über das Projekt übernommen hat, zeigte sich beeindruckt:
"Wenn man sieht, wie die hier aufgetreten sind. Die haben tierisch gesungen. Und auch der Stolz, den die haben – die kriegen, denke ich, zum ersten Mal im Leben Applaus. Ich finde das ist ein wunderbares Projekt."
Grönemeyer ging nach dem Konzert auch auf die Rapper zu, um ihnen persönlich zu gratulieren. Da gab es viele strahlende Gesichter:
"Es ist schon geil, von jemandem, der schon so lange im Geschäft ist, zu hören, dass das gut ist und dass er sich vorstellen kann, wenn wir draußen damit weitermachen, dass das funktionieren kann."
Wobei es unwahrscheinlich ist, dass die Band in derselben Zusammensetzung auch draußen auftreten wird – erstens, weil sie im Gefängnis willkürlich zusammengestellt wurde, zweitens, weil die Entlassungsdaten der einzelnen Mitglieder recht weit auseinanderliegen. In der Strafanstalt läuft das Projekt aber weiter. Zum vorliegenden Song soll ein Video produziert werden und später vielleicht ein Theaterstück.
"Das ist das Schöne, dass wir ein dreijähriges Projekt über die EU finanziert bekommen haben. Also, es baut schon aufeinander auf. Es gibt uns die Stabilität, hier Strukturen aufzubauen, auch mit der Anstalt zu vereinbaren: Was geht, was geht nicht?"
Erklärt Sibylle Arndt vom Gefangenentheater "aufBruch", die das Projekt koordiniert. Die Künstler versuchen nicht, an der Gefängnisleitung vorbei zu planen. Die Gefängnisleitung stellt Räume und Personal zur Verfügung. Der organisatorische Aufwand für das Projekt ist hoch. Doch das hört man der Musik nicht an. Die "Winterreise" im Jugendgefängnis ist ein durch und durch gelungenes Crosscultureprojekt.
Mehr Infos: winterreise.gefaengnistheater.de