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"Hirudin" von Austra
Toxische Liebe und queere Partys

Katie Stelmanis alias Austra gab sich in ihrer Musik bislang so tanzbar wie politisch. Ihr neues Album „Hirudin“ ist nun allerdings ein sehr persönliches geworden: ungewohnt minimalistisch beschreibt Stelmanis darauf eine qualvolle Trennung. Ein Album, mit dem Stelmanis emotional berühren will.

Von Bernd Lechler | 02.05.2020
Die kanadische Musikerin Katie Stelmanis alias Austra steht auf dem Dach eines Gebäudes
Auf ihrem neuen Album "Hirudin" zeigt sich Katie Stelmanis alias Austra ungewohnt offen und verletzlich (imago images / ZUMA Press)
"Hirudin is a peptide that leeches leave in your body when they suck your blood" - selten klingen Erläuterungen von Albumtiteln so naturwissenschaftlich. Hirudin ist also ein Peptid, das Blutegel beim Saugen in unseren Adern hinterlassen, erklärt Katie Stelmanis alias Austra. Der mächtigste Blutverdünner in der Natur, weshalb Blutegel auch als Heilmittel Verwendung fanden. Und eben eine perfekte Metapher für ein Popalbum, das von toxischen Liebesbeziehungen handelt und mit den Worten beginnt: "Du machst mich so wütend, ich liebe dich."
Andere Zeilen aus anderen Songs: "Ist mir egal, was du sagst, denn morgen geh ich." Oder: "Ich weiß, ich sollte es hier und jetzt beenden, aber ich habe zu viel Angst. Und ich spüre dich überall, Mädchen, ich kann das nicht riskieren."
"Ich will die Leute emotional erreichen"
Bedenkt man, dass das letzte Austra-Album "Future Politics" hieß, ist dieser Schwenk ins Persönliche bis Private durchaus bemerkenswert. Auch Themen wie Feminismus oder ihre Queerness bringt Stelmanis diesmal eher beiläufig unter.
"Ich habe viel darüber nachgedacht, was man mit Musik erreichen kann. Und mir wurde klar, dass Musik Menschen hilft, sich mit ihrer verletzlichen Seite zu verbinden. Mit ihrem Menschsein. Und deswegen wollte ich weniger von Politik reden und eher etwas machen, was die Leute emotional erreicht. Denn ich glaube, das hilft einem, mit der Welt und anderen Menschen klarzukommen."
Noch nie habe ihr die Studioarbeit so viel Spaß gemacht, sagt Katie Stelmanis über die Aufnahmen zu "Hirudin". Erstens, weil sie sich, statt allein zu basteln, Unterstützung geholt hat: Musikerinnen und Musiker, die sie zuvor nicht persönlich kannte, alle gut im Improvisieren, alle aus der Gegend um Toronto. Der zweite Spaßfaktor war, dass sie auch die Produktion erstmals nicht ganz allein übernahm, sondern die Zügel ein Stück weit abgab: an den Schotten Rodaidh McDonald, der schon mit Bands wie The XX oder Vampire Weekend gearbeitet hat, und den kanadischen Komponisten und Saxophonisten Joseph Shabason.
Austra geht klanglich neue Wege
"Das Tolle war: Ich musste die Zügel gar nicht abgeben. Es war Teamarbeit! Immer, wenn ich mit einer Idee nicht weiterkam, hatte der Produzent eine Idee. Die brachte wiederum mich auf Ideen, und am Ende kommt man so seiner Vision viel näher. Von daher: mit Produzenten zu arbeiten ist super! Ich weiß nicht, warum ich mich so lang dagegen gewehrt habe."
Am deutlichsten werden diese neuen Wege im Song "Mountain Baby", mit Breakbeat, Klavier und kanadischem Kinderchor. Auf diesem Song klingt Austra tatsächlich wie nie zuvor. Schade, dass Katie Stelmanis, als sie sich für die abschließende Bearbeitung all des musikalischen Materials nach Spanien aufs Land zurückzog, letztlich doch wieder viel auf ihre vertrautes Keyboardinstrumentarium zurückgegriffen hat. Die Beiträge ihrer Sessionmusiker sind vielfach im Mix versteckt oder in kleine Interludes ausgelagert. Es hätte ein klanglich noch viel spannenderes Album werden können.
Gelungen ist "Hirudin" trotzdem, auf typische Austra-Art, die manche als "Doom Disco" bezeichnen: expressiver Gesang, oft zum Kammerchor arrangiert und dann mit Housebeat oder Synthesizer-Arpeggios kombiniert. Diesmal sind die Song allerdings weniger tanzbar als zuletzt, stattdessen eher introspektiv, ohne in Emo-Kitsch abzudriften. Und da an offensiv queeren Popstars von Frank Ocean und Janelle Monae bis Lady Gaga und Sam Smith derzeit kein Mangel herrscht, kann Katie Stelmanie dieses Thema ja auch mal etwas hintanstellen.
"Mit queeren Leuten hat man einfach mehr Spaß"
"Das ist cool zu sehen. Als ich 2011 anfing, kannte ich viele Künstler, die queer waren und das geheimhielten. Da hat sich das Klima definitiv verändert. Queerness im Pop ist heute fast eher ein Pluspunkt als etwas, wofür man sich schämen müsste."
Sie selbst hat sich schon früh als homosexuell geoutet und ihre Sexualität thematisiert, was einen schönen Nebeneffekt hatte: ein diverses Publikum.
"Am Anfang wollte ich vor allem, dass Queers in meine Konzerte kommen. Queere Partys sind nämlich die besseren Partys. Ich meine, ein Abend ganz ohne Queers, da denkt man: 'Was ist das denn?!' Mit queeren Leuten hat man einfach mehr Spaß. In jeder Hinsicht."