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"Historians without Borders"
Gegen die Instrumentalisierung von Geschichte

Die "Ärzte ohne Grenzen" sind bekannt - was aber machen "Historiker ohne Grenzen"? Der ehemalige finnische Außenminister Erkki Tuomioja hat das internationale Netzwerk gegründet, um gegen den Missbrauch von Geschichte anzugehen und Geschichte als nationales Anliegen zu überwinden.

Von Jenny Genzmer | 14.09.2018
    Der damalige Außenminister Finnlands Erkki Tuomioja bei einem Treffen am 6.3.2017 mit EU-Kollegen in der lettischen Hauptstadt Riga
    Initiator der "Historians without Borders": der frühere Außenminister Finnlands, Erkki Tuomioja (picture alliance / dpa / Valda Kalnina)
    21. März 2014. Der kremltreue Sender Russia Today überträgt Putins Ratifizierung eines neuen Gesetzes. Die Krim, so die Erzählung, wurde in einem verfassungswidrigen Akt durch Chruschtschow 1954 von Russland getrennt. Mit dem Krim-Referendum nun, habe die Bevölkerung der Halbinsel ihren freien Willen geäußert, zu Russland zu gehören. Und mit Putins Unterschrift wird sie wieder Teil der Russischen Föderation. Das ist die eine Geschichte. Die andere ist: Annexion der Krim.
    Jan Claas Behrends: "Wenn man da genauer hinschaut, dann sieht man eben gerade bei der Krim, dass es eine Geschichte ist von enormer Komplexität, die viel zutun hat damit, wie die Geschichte dieses gesamten Raumes, über den wir hier reden, ein Grenzgebiet ist zwischen Europa und Asien, wo türkische Geschichte mit reinspielt, Tartaren, die auf der Krim gesiedelt haben, aber auch Griechen, Armenier, Ukrainer, Russen, Deutsche. Dass es eine extrem komplexe Geschichte ist und sozusagen die Augen dafür wieder zu öffnen, für die Komplexität und diese Mythen ein Stück weit zu dekonstruieren, das wäre natürlich unser Anspruch."
    Russlands Präsident Wladimir Putin (links) und Ministerpräsident Dimitri Medwedew sitzen sich in Sewastopol an einem Tisch gegenüber.
    Historische Mythen dekonstruieren: Russlands Präsident Putin und Ministerpräsident Medwedew bei einem Treffen auf der Krim. (picture alliance / dpa / TASS / Alexei Druzhinin)
    Jan Claas Behrends ist Osteuropa-Historiker am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Und er ist Teil des Organisationskomitees von "Historians without Borders" - "Historiker ohne Grenzen". Kein primär wissenschaftliches Projekt, wie er sagt, sondern eins, das sich an die Öffentlichkeit richtet. Gegründet hat das Netzwerk der ehemalige finnische Außenminister, Erkki Tuomioja:
    "Mein Hintergrund hat es mir erleichtert, weil viele Kollegen, zum Beispiel mein Kollege, der ehemalige schwedische Premier Carl Bildt selbst, stark in dem Vermittlungsprozess auf dem Westbalkan involviert waren. Viele Diplomaten und andere in den Internationalen Beziehungen sind deshalb sensibilisiert dafür, was für eine Rolle Geschichte gespielt hat, Lösungen zu finden. Es hätte eine positive sein können, aber durch den Missbrauch von Geschichte, ist sie zu einer negativen geworden."
    Aktive Rolle bei der Friedensbildung
    Tuomioja und Behrends argumentieren, dass es nicht die Historiker sind, die Geschichte instrumentalisieren, sondern dass es ihre Arbeit ist, die instrumentalisiert wird. Dass etwa viele russische und ukrainische Kollegen die Politik ihres Landes kritisch sehen. Auch in Deutschland ist das der Fall. Es wäre gar wünschenswert, lautere Historikerstimmen zu politischen Themen wie Migration und kolonialer Vergangenheit zu hören.
    Aber wie stellt sich das in anderen Ländern dar, in der Türkei, Polen oder Ungarn, wo die Freiheiten der Wissenschaft zunehmend unter Druck gerät? Wie kann es dort auch in Zukunft noch gelingen unterschiedliche Interpretationen von Geschichte und Propaganda mit Geschichte voneinander zu trennen? Also, "das Narrativ der anderen Seite", wie Erkki Tuomioja es ausdrückt, öffentlichkeitswirksam zu berücksichtigen?
    Erkki Tuomioja: "Geschichte wird sehr national und lokal unterrichtet und erforscht. Es gibt viel zu wenig Interaktion. In Finnland wurde der erste Lehrstuhl für Globalgeschichte zum Beispiel erst letztes Jahr hier an der Universität eingerichtet. Geschichte war bisher also ein sehr nationales, fast sogar nationalistisches Anliegen. Das zu überwinden und in unserer Welt von gegenseitigen Abhängigkeiten wieder mehr zu interagieren, ist vielleicht unsere größte Herausforderung."
    Internationale Vernetzung von Einzelprojekten
    Die "Historiker ohne Grenzen" verfolgen mit ihrem Anliegen, die Uneindeutigkeit oder sogar den Missbrauch von Geschichte herauszustellen, keinen vollkommen neuen, aber einen wichtigen Ansatz.
    Ein Ansatz, der an vielen historischen Instituten und Forschungseinrichtungen in Einzelprojekten bereits verfolgt wird. Diese zu vernetzen, auch international, wäre eine Chance der "Historians without Borders". Denn ein solidarisches Netzwerk von Historikern ist nicht nur für das Überschreiten von Grenzen unverzichtbar, sondern auch für die Sichtbarkeit. Um öffentlichkeitswirksame Debatten anzustoßen, braucht es mehr als einen großen Namen.