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Historische Erzählung und problemorientierte Analyse

So zurückhaltend wie Richar J. Evans hat sich schon lange kein Historiker mehr über das Ausmaß der Übereinstimmung zwischen Volk und Führer im Dritten Reich geäußert. Der Deutschlandexperte von der Cambridge University hat in seiner Gesamtdarstellung des Dritten Reichs einen Ansatz der Vielschichtigkeit gewählt, mit dem er der politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen gerecht werden will.

    Mit fast 1100 Seiten ist der jetzt erschienene Doppelband noch um ein gutes Stück dicker als der erste Band, und schon jetzt lässt sich voraussagen, dass der abschließende dritte Band auch diesen Umfang noch übertreffen wird. So werden wir, wenn das Werk vollendet ist, über eine Gesamtdarstellung verfügen, wie es sie in diesen Dimensionen noch nicht gegeben hat.

    Was die Darstellungsweise betrifft, so ist Richard J. Evans bei dem bewährten Muster geblieben. Auf gekonnte Weise verbindet er historische Erzählung und problemorientierte Analyse. Immer wieder bringt er anschauliche Beispiele, um einen Sachverhalt zu verdeutlichen, und wo immer es möglich ist, wird der Text durch Anekdoten aufgelockert. Darüber hinaus lässt Evans in Tagebüchern und Erinnerungen ausgiebig Zeitgenossen zu Worte kommen.

    Der Schwerpunkt des zweiten Bandes liegt eindeutig auf der inneren Geschichte des "Dritten Reiches". Ihr gehören sechs Großkapitel; der Außenpolitik ist hingegen nur ein, nämlich das abschließende siebte Kapitel gewidmet. Innerhalb der einzelnen Kapitel handelt Evans systematisch die wichtigsten Politikfelder ab: Überwachung und Unterdrückung, Kultur und Propaganda, Religion und Bildung, Wirtschaft und Gesellschaft, Antisemitismus und Rassenpolitik. Das erinnert an ein Lehrbuch, und tatsächlich richtet sich das Werk in erster Linie an das angelsächsische Publikum, dem ein fundierter Überblick geboten werden soll. Doch auch für deutsche Leser ist dieses Kompendium interessant, weil der Autor kräftige Akzente setzt und auch pointierte Urteile nicht scheut.

    In neueren Darstellungen ist Hitlers Regime als eine populistische Diktatur beschrieben worden, die weniger auf Zwang und Gewalt als vielmehr auf Konsens und Zustimmung beruht habe. Evans warnt jedoch entschieden davor, das Ausmaß des Terrors für das Funktionieren der nationalsozialistischen Herrschaft zu unterschätzen. Im langen ersten Kapitel, überschrieben "Der Polizeistaat", schildert er den systematischen Ausbau des Repressionsapparats, nachdem der gewalttätige Aktionismus der SA in der "Nacht der langen Messer" vom 30. Juni 1934 zurückgedrängt worden war. Dazu gehörte die Einführung einer Sondergerichtsbarkeit gegen Regimegegner, der Aufbau eines Systems von Konzentrationslagern, in denen die Häftlinge auf Gnade und Ungnade der SS ausgeliefert waren, schließlich auch die zunehmende Macht der Gestapo, die sich in ihrer Arbeit auf ein blühendes Denunziantenwesen stützten konnte. Überwachung und Kontrolle erstreckten sich bis auf die Ebene der Blockwarte, die häufig die erste Anlaufstelle für Denunzianten waren. Die ständig lauernde Gefahr, wegen einer unbedachten Äußerung angezeigt zu werden, schuf ein Klima der Einschüchterung und der Angst, von dem wir uns heute - so der Autor - nur noch schwer einen Begriff machen können.

    "Je weiter das 'Dritte Reich' vor uns in die Vergangenheit zurückweicht, desto schwieriger wird es für die Historiker, die in demokratischen politischen Systemen und Kulturen leben, in dem die individuellen Menschen- und Bürgerrechte geachtet werden, die notwendige Vorstellungskraft aufzubringen, um das Verhalten von Menschen und Staaten wie dem 'Dritten Reich' zu verstehen, wo jedem Folter, Zuchthaus, Lager oder gar Tod drohte, der es wagen sollte, auch nur die leiseste Kritik am Regime und seinen Führern zu äußern."

    Allerdings verkennt Evans nicht, dass die Nazi-Diktatur nicht nur auf passive Unterwerfung, sondern auch auf aktive Unterstützung angewiesen war. Unter der Überschrift "Geistige Mobilisierung" beschreibt er, welche Anstrengungen das Regime unternahm, um Presse, Rundfunk und Verlage gleichzuschalten und Bildende Künste, Architektur und Musik nach den eigenen ideologischen Bedürfnissen auszurichten. Das Ganze lief auf eine Art "Kulturrevolution" hinaus, die das Denken und Fühlen der Bevölkerung grundlegend verändern und einen "neuen Menschen" im Sinne der rassistischen Zielutopie des Regimes schaffen sollte. Doch mit diesem Vorhaben stießen die Nationalsozialisten, wie gezeigt wird, rasch auf Grenzen.

    "Bei all seiner Dynamik, Professionalität und seinem totalitären Anspruch konnte Goebbels' Propagandaapparat die Menschen nicht dazu bringen, ihre ihnen lieb und wichtig gewordenen Werte und Überzeugungen in der schönen neuen Welt von Hitlers 'Drittem Reich' aufzugeben. Außerdem fanden viele Menschen sehr bald die ständigen Forderungen des Regimes nach einer Zustimmung der Bevölkerung zu seiner Politik und zu seinen Führern ermüdend."

    Diesem Ermüdungseffekt suchte Gobbels entgegenzuwirken, indem er neben der Propaganda verstärkt auch den Bedürfnissen nach Unterhaltung Rechnung tragen ließ. In den Kinos wurden überwiegend unpolitische Kostümfilme und Liebeskomödien gezeigt; im Rundfunk ermöglichten die beliebten Wunschkonzerte eine Flucht aus dem Alltag; in den Spätsendungen wurden sogar die verpönten Jazz- und Swingstücke zugelassen; auf dem Theater hielten sich weiterhin Aufführungen der Klassiker; und Bücher ausländischer Autoren, wie Margaret Mitchells "Vom Winde verweht", erreichten auch in Nazi-Deutschland ein Massenpublikum. Widersprüche, wie er sie für die Kulturpolitik ausmacht, konstatiert Evans auch in anderen Bereichen, etwa im Verhalten gegenüber den Kirchen oder in der Hochschul- und Bildungspolitik. Auch hier war das Regime zu vielfältigen Kompromissen gezwungen, die den totalitären Zugriff begrenzten.

    Die entscheidende Bewährungsprobe des Regimes war indes die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Mit diesem Versprechen war Hitler angetreten, und daran wollte er sich messen lassen. Tatsächlich konnte seine Regierung gerade auf diesem Felde erstaunliche Erfolge verbuchen - 1937 lag die Zahl der Arbeitslosen bereits unter einer Million. Allerdings schränkt Evans die Rede von Hitlers "Wirtschaftswunder" ein: Der Nazi-Führer sei zu einem für ihn "denkbar glücklichen Zeitpunkt ins Amt gekommen". Ende 1932 waren die Zeichen für eine konjunkturelle Erholung bereits unübersehbar; überdies hatten die Vorgängerregierungen Pläne für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ausgearbeitet, die nun umgesetzt werden konnten. Dennoch verlief der Wirtschaftsaufschwung nach 1933 langsamer, als es die geschönten Statistiken erkennen ließen, und er vollzog sich vor allem zu Lasten der Arbeiterschaft. Deren Löhne stagnierten und konnten nur durch reichliche Überstunden aufgebessert werden.

    Mit diesem Befund widerspricht der britische Historiker seinem deutschen Kollegen Götz Aly, der in seinem vieldiskutierten Buch "Hitlers Volksstaat" die These aufgestellt hat, dass das "Dritte Reich" egalisierend gewirkt und vor allem die Interessen der "sozial Schwachen" bedient habe. Die Klassengegensätze wurden laut Evans nach 1933 keineswegs aufgehoben, allenfalls abgemildert.

    "Auch im 'Dritten Reich' gab es noch immer Reiche und Arme, so wie sie es seit jeher gegeben hatte. Am Ende blieb die Macht des Adels über den Boden unangetatstet, und jüngere Adelige fanden sogar eine neue Führungsrolle in der SS, der zukünftigen politischen Elite Deutschlands... Große und kleine Geschäftsleute führten ihre Geschäfte weiter nach dem üblichen kapitalistischen Gewinnprinzip."

    Die vielzitierte "Volksgemeinschaft" war, so gesehen, eher eine Fiktion denn Realität. Zwischen sozialen Verheißungen und sozialer Wirklichkeit tat sich eine breite Kluft auf: Auf der einen Seite gaben sich die NS-Führer mit Einrichtungen wie "Kraft durch Freude" oder das Winterhilfswerk den Anschein der Volksnähe und der Fürsorglichkeit; auf der anderen Seite bereicherten sie sich schamlos - am schamlosesten Hermann Göring, der sein Jagdhaus Carinhall in der Schorfheide zu einer Luxusresidenz auf Kosten der Steuerzahler ausbauen ließ. In der weitverbreiteten Korruption sieht Evans "das Bindemittel, welches das ganze System zusammenhielt".

    So einleuchtend diese Zusammenhänge entfaltet werden - es bleiben einige Probleme offen. So fragt sich, ob Evans das Bild der deutschen Gesellschaft vor 1939 nicht verzeichnet, wenn er quer durch alle gesellschaftlichen Schichten ein großes Potential an Ernüchterung und Enttäuschung feststellt. Die gegenläufigen Tendenzen, etwa die ungebrochene Popularität Hitlers, werden, wie es scheint, zu gering veranschlagt. Zwar stellt der Autor zutreffend das hohe Maß der Indoktination in der Hitler-Jugend fest, doch insgesamt gelangt er zu einer Unterschätzung des Rückhalts, dessen sich das Regime in großen Teilen der übrigen Bevölkerung erfreute. Ohne diese breite gesellschaftliche Basis wäre auch die enorme politische Dynamik, die das Regime entfaltete, kaum zu erklären.

    Evans betont stark die Rolle Hitlers als "treibende Kraft". Damit wendet er sich gegen die lange Zeit vorherrschende Tendenz in der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, die Radikalisierung der NS-Politik allein aus Struktur und Funktionsweise des Herrschaftssystems selbst zu erklären.

    "Bei aller seiner Irrrationalität und Instabilität wurde das 'Dritte Reich' in erster Linie von oben geführt, von Hitler und seinen wichtigsten Paladinen... Das heißt nicht, dass alles, was im 'Dritten Reich' geschah, von Hitler veranlasst worden wäre, wohl aber, dass er am Steuer saß und die allgemeine Richtung vorgab, wohin die Reise gehen sollte."

    Das galt nach Ansicht des Autors auch für die antijüdische Politik des Regimes. Doch neuere Arbeiten wie etwa die Hitler-Biografie Ian Kershaws, haben deutlich gemacht, dass ohne die Bereitschaft der vielen, dem Mann an der Spitze zuzuarbeiten, die verbrecherischen Pläne nicht bis zum Stadium ihrer Realisierung hätten vorangetrieben werden können. Nicht selten waren es die untergeordneten Instanzen, die, um einen vermeintlichen "Führerwillen" zu erfüllen, mit eigenen Initiativen vorpreschten - und damit die Führung unter Zugzwang setzten.

    Zu Recht betont Evans, dass Krieg der "alles überragende Imperativ" gewesen sei, dem alle anderen Ziele untergeordnet wurden. Doch hätte der Diktator den Weg in den Krieg nicht so entschlossen beschreiten können, wenn er nicht auch hier viele Helfer gefunden hätte, unter anderem in der Generalität, die sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, als erstaunlich willfährig erwies.

    Diese Einwände sollten nicht davon abhalten, das umfangreiche Werk aufmerksam zu lesen. Mit ihm hat Richard J. Evans eine anspruchsvolle Synthese vorgelegt, die Schneisen schlägt ins Dickicht einer kaum noch überschaubaren Forschungsliteratur. Wenn der hoffentlich bald erscheinende dritte Band sich auf der Höhe des zweiten hält, wird man diese Gesamtgeschichte des "Dritten Reiches" als einen großen Wurf bezeichnen können.

    Volker Ullrich über Richard J. Evans:
    "Das Dritte Reich. Diktatur." Udo Rennert hat das Werk aus dem Englischen übersetzt. Der Doppelband hat insgesamt 1083 Seiten, kostet 69,90 Euro und ist erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München.