Dienstag, 30. April 2024

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Historische Ghettomusik in Weimar
Elye Bokhers Klänge aus Venedig

Der Jiddish Summer in Weimar ist eines der bedeutendsten Festivals für jüdische Musik und Kultur in Deutschland und Europa. Jedes Jahr gibt es dort spannende Konzerte mit ebenso spannenden Künstlern. Diesmal stellte das Ensemble Lucidarium einen heute kaum noch bekannten Künstler des venezianischen Ghettos um 1500 vor.

Von Blanka Weber | 06.09.2016
    Blick auf den "Campo Ghetto Nuovo", Hauptplatz des Juden-Ghettos in Venedig, das 1516 als eigener Stadtteil eingerichtet wurde
    Wirkungsstätte von Elye Bokher: das alte jüdische Ghetto in Venedig (picture alliance / dpa)
    Das "Sreyfe Lid", um 1500 entstanden, handelt von einer freundlichen, schönen Stadt, die eines Tages von einem Feuer heimgesucht wird. Rialto steht in Flammen - heißt es im Text; vermutlich war es reale Begebenheit im Leben des Elia Levita, besser bekannt in seinem jüdischen Ghetto von Venedig als Elye Bokher oder Elijah Ben Asher Halevi Ashkenazi. Er war ein Mann, den man bislang kaum kannte, sagt die amerikanisch-italienische Musikerin Avery Gosfield:
    "Er war ein Teil der deutschsprachigen jüdischen Community in Venedig. Er war ein großartiger Gelehrter, schrieb biblische Kommentare, unterrichtete Hebräisch, er war ein wichtiger Vertreter der Kunst, der Intellektuellen und auch ein Poet."
    Das "Bovo Bukh", ist die Nachdichtung eines der bekanntesten epischen Gedichte aus dem 16. Jahrhundert - in jenem Umfeld des Elye Bokher.
    "Es war eine sehr, sehr große Arbeit von ihm, im jiddischen heißt die Übersetzung: Bovo tantona."
    Er übersetzte die Texte ins Deutsche, aber auch ins Jiddische. So wird er heute auch gesungen, wenn das Ensemble Lucidarium damit auf der Bühne steht - wie kürzlich beim Jiddish Summer Weimar.
    Heute sprechen nur wenige Menschen Jiddisch in Europa und eben auch in Italien, das weiß auch Avery Gosfield:
    "Wir sagen "klein aber fein" - vielleicht 30 - 45.000 Menschen. Wenn man sich das vorstellen möchte, das ist vielleicht die Hälfte aller Einwohner von Weimar oder ein paar Straßenzüge in Brooklyn, eine echt kleine Community, aber kulturell enorm reich. Wir haben bislang nichts Vergleichbares gefunden."
    Kulturelles Miteinander
    "Unser besonderer Wunsch ist, dass die Menschen verstehen, wie wichtig dieser Mix der Kulturen damals war, auch, wie man eben kommunizierte und diese wunderbaren Sachen teilte. Es gab damals in Venedig Christen, auch eine orthodoxe und eine muslimische Gemeinde und eben die Juden. Ich glaube, das ist wichtig, um es zu verstehen. Es handelt sich nicht nur um eine rein aschkenasische oder sephardischen Kultur, die wir da wiederentdeckten, es betrifft alle."
    Der Italiener Enrico Fink ist Musiker, Wissenschaftler und im Ensemble Lucidarium Sänger der jiddischen, englischen und italienischen Texte:
    "Was wir versuchen, ist, eine Idee davon zu geben, welche Musikstile im Venedig des 16. Jahrhunderts aufeinander trafen. Wir beschäftigen uns natürlich mit jüdischer Musik und der Frage: Was machte damals eine Musik zur jüdischen Musik? Es war mitten in der Renaissance. Was wir sehen, ist, dass die Musik einfach hin und her wechselte - zwischen Christen und Juden, säkularen und religiösen Menschen."
    Es gibt keinerlei Klangaufnahmen aus dieser Zeit, aber, sagt der italienische Musiker, wir haben trotzdem eine Vorstellung davon, wie sie geklungen haben könnte. Denn wir haben Texte entdeckt und wissen, wer die Lieder gesungen hat. Oftmals wurden sie aus dem Hebräischen ins Italienische übersetzt oder in das Altjiddische. Und es gibt eine lange, nachvollziehbare Tradition, Liturgien vorzutragen:
    "Wir genau diese Musik gefunden, zwar nur wenig, aber immerhin so exakt aufgeschrieben, dass wir wissen, wie es geklungen haben könnte, so bekommen wir in etwa ein Vorstellung, wie das vielleicht auch in Synagogen war, auch in der Zeit des Ghettos."
    Erstes jüdisches Ghetto in Venedig
    Vor exakt 500 Jahren entstand in Venedig das erste Ghetto. Selbst der Name "Ghetto" könnte dort seinen Ursprung haben - abgeleitet von einem Begriff, der auf ein Quartier, eine kleine Insel zurück zu führen ist - mitten im Wassergeflecht Venedigs. In einem Senatsdokument von 1516 ist die Rede von den Häusern entlang des Hofes des Geto - dort, wo also die Juden residieren durften bzw. mussten.
    Was im Laufe der Zeit immer mehr ein Quartier voller Einschränkungen wurde, hatte im Ursprung auch etwas Positives, sagt die israelische Wissenschaftlerin Shoshana Liessmann. Denn: Juden konnten erstmals in urbanen Zentren siedeln, zumindest anfangs in Venedig. Und sie haben sich sogar der Kultur widmen können. So wie jene Sara Copio Sullam - eine jüdische Frau, die Ende des 16. Jahrhunderts lebte:
    "Und sie hat das ganz Unerhörte getan, sie hat einen literarischen Zirkel gegründet und geleitet, der sehr viel Zuspruch hatte, von Gelehrten, interessierten Zeitgenossen, jüdischen wie nichtjüdischen. Menschen aus Venedig und von weiter her. Das finde ich eine ganz unerhörte Sache, irgendwie auch feministisch."
    Es sind also nicht nur die Lieder des Elye Bokher, die nun das Ensemble Lucidarium zum ersten Mal wieder rekonstruiert und transkribiert hat. Es gibt vermutlich noch sehr viel mehr in diesem Umfeld zu entdecken, sagt Shoshana Liessmann:
    "Es gab eine musikalische Vereinigung, nennen wir es heute Musikverein. Die haben gemeinsam musiziert, und es war bestimmt die Musik der Zeit. Da ging es auch um Musik, die Nachbarn produziert und praktiziert haben. Wir wissen von sehr vielen Aktivitäten in diesem Ghetto, Festen, Feierlichkeiten."
    Das alte Ghetto in Venedig ist 1943 von den deutschen Nationalsozialisten komplett geräumt worden. Heute kann man es wieder besichtigen und es gibt - wenn auch viel kleiner - erneut jüdisches Leben, jüdischen Alltag und jüdische Kultur.