"Wo warst du am Abend des 9. November 1989, was hast du gemacht?" Diese Frage ist wohl jedem und jeder Deutschen schon mal gestellt worden. Genau wie die Frage "Wie hast du den 11. September 2001 erlebt?", dieses Datum, das ja perfiderweise aus den umgekehrten Zahlen des Mauerfalls besteht.
Diese Daten haben gemeinsam, dass sie emotional intensiv und von großer Tragweite waren und durch die Fernsehbilder kollektiv wahrgenommen wurden. In den Gesprächen darüber geht es also darum, diese wichtigen Momente noch einmal zu durchleben.
Renatus Deckert hat aus Anlass des nahenden 20. Mauerfall-Jahrestages solch ein Gespräch initiiert: Er hat 25 Autorinnen und Autoren aus Ost und West gebeten, von "ihrem 9. November" zu erzählen. Die Texte sind alle exklusiv für das Buch verfasst und lassen den historischen Moment privat noch einmal aufleben.
Man ist das Erinnern an das Wendejahr und die dazugehörige Feuilleton- und Buchmaschinerie ja schon vor dem eigentlichen Stichtag etwas leid, aber diese Anthologie ist eine wahre Fundgrube. Denn die in "Die Nacht, in der die Mauer fiel" zusammengeführten Texte sind sehr verschieden in ihrer Herangehensweise, in ihrer Form und in ihrem Ton, aber alle von ähnlicher gedanklicher Tiefe. Es gibt lediglich zwei inhaltliche Gemeinsamkeiten, eine überraschende und eine erwartbare. Die erwartbare ist die, dass das Wort "Wahnsinn" in fast allen Geschichten auftaucht.
"Die Bilder gingen um die Welt. Gesichter, verzerrt von Fassungslosigkeit und Freude. Fremde, die in der kalten Novembernacht einander in die Arme fallen. Eine Schlange von Trabis, die unentwegt hupend durch ein Spalier begeisterter Menschen knattern, während der Sekt über ihre Kühlerhauben spritzt. Der Jubel der Wagemutigen, die auf die Mauer geklettert sind und kaum die Tränen bemerken, die über ihre Wangen laufen. 'Wahnsinn' war das Wort, das in diesen Stunden in aller Munde war. In diesem Ausruf entlud sich die ganze Sprachlosigkeit angesichts des unerhörten Ereignisses, an das zu glauben auch denen schwerfiel, die unmittelbar dabei waren."
So beginnt das Vorwort des Herausgebers Renatus Deckert.
Katja Lange-Müller war gerade zu einer Podiumsdiskussion von Berlin nach Bochum gereist:
"Und dann sahen wir gemeinsam fern, am Telefon, kommentierten abwechselnd und gleichzeitig die 'Wahnsinn! – Wahnsinn!'-Rufe der Ostberliner, die einander die Räuberleiter machten."
Das "Wahnsinns"-Zitat aus Thomas Rosenlöchers Geschichte zur Mauernacht leitet über zur zweiten, überraschenden Gemeinsamkeit aller Texte:
"Kein Wunder war [ ... ] die plötzliche Sprachlosigkeit im deutsch-deutschen Umarmungsprozess. Die immerhin auch schon eine gesamtdeutsche Sprachlosigkeit war. So dass wir Deutschen ausgerechnet in Form von Sprachlosigkeit erstmals wieder eine gemeinsame Sprache fanden. Indem die Sprache Schillers und Goethes in einem einzigen Wort kollabierte: Ich meine das Wort 'Wahnsinn', das bis nach Ohio zu hören gewesen sein soll. [ ... ] Jedenfalls habe ich laut Tagebuch erst am 10. November vom 9. November erfahren. Da mich meine Frau früh mit dem Ruf: 'Die Grenzen sind offen!' von der Matratze hochriss. 'Liebes Tagebuch, mir fehlen die Worte!' schrieb ich in mein Tagebuch – was auch nichts anderes als 'Wahnsinn' heißt."
Fast alle Autoren von "Die Nacht in der die Mauer fiel" wissen nicht mehr, was sie in jener Nacht taten. Ihre Erinnerung an den 9. November '89 ist geprägt von den immer wiederholten Fernsehbildern. Dennoch hat die Anthologie 240 Seiten, weil dann natürlich doch Geschichten darüber entstanden sind, warum sie sich nicht erinnern oder wie sie begannen, sich eine eigene Geschichte über den 9. November zurechtzulegen. Für Marcel Beyer ist das sogar das eigentliche Thema:
"Die Geschichte, die ich erzähle, ist, glaube ich, die Geschichte vom Misstrauen der Übereinstimmung von eigener Erinnerung und historischem Datum. Und das ist etwas, was mich immer umtreibt, auch beim Schreiben von Roman und beim Schreiben von Gedichten. [ ... ] Das Erinnerte verändert sich im Erinnern. Das ist eine Erkenntnis, die ist uns allen klar. Aber das für mich Interessante ist, dass ich es an mir selber erleben kann, während ich das bei anderen eigentlich versuche herauszufinden."
Marcel Beyer lebte damals im Rheinland und hatte zu Ostdeutschland fast keine Verbindung, außer das seine Freundin eine Sorbin war:
"Ich bin nicht dabei gewesen. Nehme ich den 9. November 1989 als historisches Datum in den Blick, sehe ich mich nicht. Nehme ich mich selbst an diesem Tag in den Blick, sehe ich mich nicht. Nehme ich mich selbst an diesem Tag in den Blick, bleiben die historischen Ereignisse ausgespart. Die kleine Dachwohnung in Köln, der taubengraue Teppichboden, der Fernseher, ein Geschenk von Freunden: Ich saß diesseits des Bildschirms, während sich jenseits der gewölbten Glasscheibe Geschichte ereignete. Jetzt, in diesem Augenblick."
"Ich habe in meinen Tageskalendern geschaut, das haben ja auch andere Beiträger der Anthologie gemacht, und es ist wirklich ganz eigentümlich: Ich weiß, was ich am Montag und am Dienstag und am Mittwoch gemacht habe. Ich war Student, ich habe in Siegen studiert und bin da zu Veranstaltungen gefahren. Und dann, eine Woche drauf oder zehn Tage später, stand eine Wienreise bevor. Und auf die richtete sich eigentlich alles in der Zeit. Plötzlich zwischendurch, am Donnerstag, oder in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, geschah halt etwas, das unglaublich war, unfassbar, aber einen richtigen Platz in diesem Wochenablauf oder auch im eigenen Lebensablauf, wie man ihn gesehen hat, hat es natürlich nicht sofort gefunden."
Das Erinnern ist auch Ulrich Peltzers Thema. Er hebt die 20 Jahre Distanz fast nicht auf, sondern kommentiert seine Tagebuch-Einträge von damals nur vorsichtig:
"Ich müsste mich bei jemandem erkundigen. Ich erinnere mich nicht. Nichts als ein paar Zeilen in einem kleinen blauen Notizbuch. Als würde ich heute in einem anderen Leben sein, dessen Vergangenheit ich mir erfinden muss wie alle Vergangenheiten. Ist es so gewesen? Es könnte sein. Oder auch nicht."
Ulrike Draesner schrieb im November '89 im fernen München an ihrer Dissertation:
"Ich erinnere mich nicht an den 9. November 1989."
Antje Ravic Strubel ging es in Potsdam ähnlich:
"Ich erinnere mich nicht. Mein Gedächtnis für diese Nacht ist leer. Und das kann nur heißen: Ich habe tief geschlafen."
Renatus Deckert hat eine schlicht kommunikationstechnologische Erklärung dafür, dass so viele seiner Beiträger den Abend des 9. November verschliefen:
"Es gibt eine erstaunliche Anzahl von Leuten – was aber vielleicht gar nicht so erstaunlich ist -, die das Datum schlichtweg verpasst haben. Das war ja so am Abend und erst am späten Abend hat sich herauskristallisiert, dass es wirklich die Grenzöffnung geben wird. Und dann muss man bedenken: Damals war das Zeitalter von Handy und Internet noch nicht angebrochen, das heißt, die Leute haben sich keine SMS geschickt und gesagt: Schalt mal den Fernseher an. Von heute aus gesehen ist es schon ganz merkwürdig: Es ist zwar erst 20 Jahre her, aber kommunikationsmäßig fast eine Vorzeit."
Die Geschichten der Autoren aus der DDR in "Die Nacht, in der die Mauer fiel" sind meist bewegender, wärmer, mit mehr Herzblut geschrieben. Herausgeber Deckert erklärt sich das so:
" Für die Autoren aus dem Osten war dieser Mauerfall doch eine ganz existenzielle Geschichte. Die waren 28 Jahre oder weniger abgeschirmt gewesen von dieser anderen Welt, vom Westen oder von der ganzen übrigen Welt im Grunde genommen. Und es war ja nicht nur, dass die Mauer fiel, sondern der Mauerfall war ja der Beginn des Endes der DDR. Ein Jahr später war die DDR Geschichte, und damit war auch das System zu Ende, und eine völlig neue Gesellschaft begann da. Was eine riesige Umstellung, ein riesiger Schock gewesen ist. Während für viele Westdeutsche das sicher erstmal ein sehr schönes Ereignis war, was sich auch geschichtlich einordnen ließ, aber so viel hat sich ja zunächst nicht geändert in München oder in Köln."
Michael Lentz hat genau darüber die frechste Geschichte für die Anthologie geschrieben, nämlich über einen 9. November vor einem Münchner Fernsehgerät und das beleidigte Wiedervereinigungs-Desinteresse eines verwöhnten westdeutschen Wohlstandskindes, das die DDR nie besucht hatte.
Volker Braun hat den einzigen politischen und wende-kritischen Text beigesteuert; andere Autoren, deren Tenor vielleicht ähnlich gewesen wäre, haben Renatus Deckert abgesagt.
Deckert erzählt seine eigene Geschichte zur Nacht, in der die Mauer fiel, übrigens nicht im Buch. Aber im Interview liefert er sie nach:
"Ich war 12, als die Mauer fiel, ich war dazu auch noch in Dresden, das hieß ja damals nicht nur "Tal der Ahnungslosen", sondern die Abkürzung war ARD, "Außer-Raum-Dresden", weil es gab kein Westfernsehen. Und insofern muss ich gestehen, dass ich die Nacht, in der die Mauer fiel, auch verschlafen hab."
Renatus Deckert (Hg.): Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989. Suhrkamp (Taschenbuch), 240 Seiten, 8,90 Euro
Diese Daten haben gemeinsam, dass sie emotional intensiv und von großer Tragweite waren und durch die Fernsehbilder kollektiv wahrgenommen wurden. In den Gesprächen darüber geht es also darum, diese wichtigen Momente noch einmal zu durchleben.
Renatus Deckert hat aus Anlass des nahenden 20. Mauerfall-Jahrestages solch ein Gespräch initiiert: Er hat 25 Autorinnen und Autoren aus Ost und West gebeten, von "ihrem 9. November" zu erzählen. Die Texte sind alle exklusiv für das Buch verfasst und lassen den historischen Moment privat noch einmal aufleben.
Man ist das Erinnern an das Wendejahr und die dazugehörige Feuilleton- und Buchmaschinerie ja schon vor dem eigentlichen Stichtag etwas leid, aber diese Anthologie ist eine wahre Fundgrube. Denn die in "Die Nacht, in der die Mauer fiel" zusammengeführten Texte sind sehr verschieden in ihrer Herangehensweise, in ihrer Form und in ihrem Ton, aber alle von ähnlicher gedanklicher Tiefe. Es gibt lediglich zwei inhaltliche Gemeinsamkeiten, eine überraschende und eine erwartbare. Die erwartbare ist die, dass das Wort "Wahnsinn" in fast allen Geschichten auftaucht.
"Die Bilder gingen um die Welt. Gesichter, verzerrt von Fassungslosigkeit und Freude. Fremde, die in der kalten Novembernacht einander in die Arme fallen. Eine Schlange von Trabis, die unentwegt hupend durch ein Spalier begeisterter Menschen knattern, während der Sekt über ihre Kühlerhauben spritzt. Der Jubel der Wagemutigen, die auf die Mauer geklettert sind und kaum die Tränen bemerken, die über ihre Wangen laufen. 'Wahnsinn' war das Wort, das in diesen Stunden in aller Munde war. In diesem Ausruf entlud sich die ganze Sprachlosigkeit angesichts des unerhörten Ereignisses, an das zu glauben auch denen schwerfiel, die unmittelbar dabei waren."
So beginnt das Vorwort des Herausgebers Renatus Deckert.
Katja Lange-Müller war gerade zu einer Podiumsdiskussion von Berlin nach Bochum gereist:
"Und dann sahen wir gemeinsam fern, am Telefon, kommentierten abwechselnd und gleichzeitig die 'Wahnsinn! – Wahnsinn!'-Rufe der Ostberliner, die einander die Räuberleiter machten."
Das "Wahnsinns"-Zitat aus Thomas Rosenlöchers Geschichte zur Mauernacht leitet über zur zweiten, überraschenden Gemeinsamkeit aller Texte:
"Kein Wunder war [ ... ] die plötzliche Sprachlosigkeit im deutsch-deutschen Umarmungsprozess. Die immerhin auch schon eine gesamtdeutsche Sprachlosigkeit war. So dass wir Deutschen ausgerechnet in Form von Sprachlosigkeit erstmals wieder eine gemeinsame Sprache fanden. Indem die Sprache Schillers und Goethes in einem einzigen Wort kollabierte: Ich meine das Wort 'Wahnsinn', das bis nach Ohio zu hören gewesen sein soll. [ ... ] Jedenfalls habe ich laut Tagebuch erst am 10. November vom 9. November erfahren. Da mich meine Frau früh mit dem Ruf: 'Die Grenzen sind offen!' von der Matratze hochriss. 'Liebes Tagebuch, mir fehlen die Worte!' schrieb ich in mein Tagebuch – was auch nichts anderes als 'Wahnsinn' heißt."
Fast alle Autoren von "Die Nacht in der die Mauer fiel" wissen nicht mehr, was sie in jener Nacht taten. Ihre Erinnerung an den 9. November '89 ist geprägt von den immer wiederholten Fernsehbildern. Dennoch hat die Anthologie 240 Seiten, weil dann natürlich doch Geschichten darüber entstanden sind, warum sie sich nicht erinnern oder wie sie begannen, sich eine eigene Geschichte über den 9. November zurechtzulegen. Für Marcel Beyer ist das sogar das eigentliche Thema:
"Die Geschichte, die ich erzähle, ist, glaube ich, die Geschichte vom Misstrauen der Übereinstimmung von eigener Erinnerung und historischem Datum. Und das ist etwas, was mich immer umtreibt, auch beim Schreiben von Roman und beim Schreiben von Gedichten. [ ... ] Das Erinnerte verändert sich im Erinnern. Das ist eine Erkenntnis, die ist uns allen klar. Aber das für mich Interessante ist, dass ich es an mir selber erleben kann, während ich das bei anderen eigentlich versuche herauszufinden."
Marcel Beyer lebte damals im Rheinland und hatte zu Ostdeutschland fast keine Verbindung, außer das seine Freundin eine Sorbin war:
"Ich bin nicht dabei gewesen. Nehme ich den 9. November 1989 als historisches Datum in den Blick, sehe ich mich nicht. Nehme ich mich selbst an diesem Tag in den Blick, sehe ich mich nicht. Nehme ich mich selbst an diesem Tag in den Blick, bleiben die historischen Ereignisse ausgespart. Die kleine Dachwohnung in Köln, der taubengraue Teppichboden, der Fernseher, ein Geschenk von Freunden: Ich saß diesseits des Bildschirms, während sich jenseits der gewölbten Glasscheibe Geschichte ereignete. Jetzt, in diesem Augenblick."
"Ich habe in meinen Tageskalendern geschaut, das haben ja auch andere Beiträger der Anthologie gemacht, und es ist wirklich ganz eigentümlich: Ich weiß, was ich am Montag und am Dienstag und am Mittwoch gemacht habe. Ich war Student, ich habe in Siegen studiert und bin da zu Veranstaltungen gefahren. Und dann, eine Woche drauf oder zehn Tage später, stand eine Wienreise bevor. Und auf die richtete sich eigentlich alles in der Zeit. Plötzlich zwischendurch, am Donnerstag, oder in der Nacht von Donnerstag auf Freitag, geschah halt etwas, das unglaublich war, unfassbar, aber einen richtigen Platz in diesem Wochenablauf oder auch im eigenen Lebensablauf, wie man ihn gesehen hat, hat es natürlich nicht sofort gefunden."
Das Erinnern ist auch Ulrich Peltzers Thema. Er hebt die 20 Jahre Distanz fast nicht auf, sondern kommentiert seine Tagebuch-Einträge von damals nur vorsichtig:
"Ich müsste mich bei jemandem erkundigen. Ich erinnere mich nicht. Nichts als ein paar Zeilen in einem kleinen blauen Notizbuch. Als würde ich heute in einem anderen Leben sein, dessen Vergangenheit ich mir erfinden muss wie alle Vergangenheiten. Ist es so gewesen? Es könnte sein. Oder auch nicht."
Ulrike Draesner schrieb im November '89 im fernen München an ihrer Dissertation:
"Ich erinnere mich nicht an den 9. November 1989."
Antje Ravic Strubel ging es in Potsdam ähnlich:
"Ich erinnere mich nicht. Mein Gedächtnis für diese Nacht ist leer. Und das kann nur heißen: Ich habe tief geschlafen."
Renatus Deckert hat eine schlicht kommunikationstechnologische Erklärung dafür, dass so viele seiner Beiträger den Abend des 9. November verschliefen:
"Es gibt eine erstaunliche Anzahl von Leuten – was aber vielleicht gar nicht so erstaunlich ist -, die das Datum schlichtweg verpasst haben. Das war ja so am Abend und erst am späten Abend hat sich herauskristallisiert, dass es wirklich die Grenzöffnung geben wird. Und dann muss man bedenken: Damals war das Zeitalter von Handy und Internet noch nicht angebrochen, das heißt, die Leute haben sich keine SMS geschickt und gesagt: Schalt mal den Fernseher an. Von heute aus gesehen ist es schon ganz merkwürdig: Es ist zwar erst 20 Jahre her, aber kommunikationsmäßig fast eine Vorzeit."
Die Geschichten der Autoren aus der DDR in "Die Nacht, in der die Mauer fiel" sind meist bewegender, wärmer, mit mehr Herzblut geschrieben. Herausgeber Deckert erklärt sich das so:
" Für die Autoren aus dem Osten war dieser Mauerfall doch eine ganz existenzielle Geschichte. Die waren 28 Jahre oder weniger abgeschirmt gewesen von dieser anderen Welt, vom Westen oder von der ganzen übrigen Welt im Grunde genommen. Und es war ja nicht nur, dass die Mauer fiel, sondern der Mauerfall war ja der Beginn des Endes der DDR. Ein Jahr später war die DDR Geschichte, und damit war auch das System zu Ende, und eine völlig neue Gesellschaft begann da. Was eine riesige Umstellung, ein riesiger Schock gewesen ist. Während für viele Westdeutsche das sicher erstmal ein sehr schönes Ereignis war, was sich auch geschichtlich einordnen ließ, aber so viel hat sich ja zunächst nicht geändert in München oder in Köln."
Michael Lentz hat genau darüber die frechste Geschichte für die Anthologie geschrieben, nämlich über einen 9. November vor einem Münchner Fernsehgerät und das beleidigte Wiedervereinigungs-Desinteresse eines verwöhnten westdeutschen Wohlstandskindes, das die DDR nie besucht hatte.
Volker Braun hat den einzigen politischen und wende-kritischen Text beigesteuert; andere Autoren, deren Tenor vielleicht ähnlich gewesen wäre, haben Renatus Deckert abgesagt.
Deckert erzählt seine eigene Geschichte zur Nacht, in der die Mauer fiel, übrigens nicht im Buch. Aber im Interview liefert er sie nach:
"Ich war 12, als die Mauer fiel, ich war dazu auch noch in Dresden, das hieß ja damals nicht nur "Tal der Ahnungslosen", sondern die Abkürzung war ARD, "Außer-Raum-Dresden", weil es gab kein Westfernsehen. Und insofern muss ich gestehen, dass ich die Nacht, in der die Mauer fiel, auch verschlafen hab."
Renatus Deckert (Hg.): Die Nacht, in der die Mauer fiel. Schriftsteller erzählen vom 9. November 1989. Suhrkamp (Taschenbuch), 240 Seiten, 8,90 Euro