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Historische Reportage von schöner Eindeutigkeit

Richard von Schirach gelingt es in seinem Buch, jener Nacht neue Aspekte abzugewinnen, in der sich zehn deutsche Physiker ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewusst wurden: der Nacht von Hiroshima. Werner von Heisenberg, Otto Hahn und Carl Friedrich von Weizsäcker waren zu der Zeit gemeinsam in England interniert.

Von Michael Schmitt | 14.05.2013
    "Die Nacht der Physiker" - das sind die Stunden nach dem Abwurf der ersten amerikanischen Atombombe über Hiroshima, die quälenden Gedanken von zehn deutschen Physikern und Atomwissenschaftlern angesichts der unfreiwilligen Einsicht in die eigene Zweitrangigkeit und bei einigen von ihnen, nicht nur nebenbei, in ihr moralisches Versagen. Die Wissenschaftler sind seit dem 3. Juli 1945 auf dem Landsitz Farm Hall, nicht weit von Cambridge in Großbritannien interniert, sie werden gut verpflegt, mutmaßlich viel besser als ihre deutschen Angehörigen in der zerstörten Heimat. Sie haben im Dritten Reich an der Nutzung von Atomenergie und an Projekten zur Entwicklung von Atombomben mitgearbeitet und sind nun, soviel haben einige von ihnen durchschaut, weggesperrt worden, damit sie weder den Russen noch den Franzosen in die Hände fallen können. Die Amerikaner und die Briten haben vorher auch schon dafür gesorgt, dass möglichst kein Gramm Uran und kein Teil der deutschen Forschungsanlagen, die zuletzt unter erbärmlichen Bedingungen im schwäbischen Haigerloch betrieben worden sind, den übrigen Verbündeten in die Hände fallen.

    Unter den Deutschen sind Werner von Heisenberg, theoretischer Physiker, Nobelpreisträger des Jahres 1932 und Leiter der deutschen Programme zur Nutzung der Atomenergie seit Kriegsbeginn; Otto Hahn, dem 1938 die Spaltung von Atomkernen gelungen ist, der aber anders als seine Mitarbeiterin Lise Meitner, die möglichen fatalen militärischen Konsequenzen seiner Entdeckung lange nicht erkannt hat; Carl Friedrich von Weizsäcker, der als Schüler von Heisenberg schon mit Mitte Zwanzig bei den deutschen Atomprogrammen mitgearbeitet hat. Einige der Internierten sind reine Theoretiker; neben ihn sind aber auch Pragmatiker in Farm Hall untergebracht worden, neudeutsch also eher "Wissenschaftsmanager"; einer der Anwesenden ist zudem durch seine Mitgliedschaft in der NSDAP belastet. Die zehn Herren in Farm Hall fühlen sich untereinander durchaus nicht als Gleiche unter Gleichen; nur die britischen Bewacher machen keinen Unterschied, hören alle Unterkünfte gleichermaßen und durchgehend ab und nehmen auf ihren Bändern auf, was 1992 als Abschriften der Gesprächsprotokolle schließlich auch veröffentlicht werden wird.

    Die Internierung in "Farm Hall" ist der Punkt, um den herum der 1942 geborene Richard von Schirach, Sohn des ehemaligen Reichsjugendführers Baldur von Schirach, seine Geschichte der deutschen Bemühungen um den Bau einer Atombombe bündelt. Er nutzt die Abhörprotokolle der Briten genauso wie das Wissen um die frühen Erfahrungen einiger dieser Wissenschaftler mit dem Einsatz von Giftgasen an den Fronten des Ersten Weltkrieges; skizziert Beziehungsgeflechte zwischen den Beteiligten und beschreibt parallel dazu, wie unterschiedlich im Deutschen Reich und in den USA im Verlauf des Zweiten Weltkrieges Forschung und Entwicklung vorangetrieben werden. Im Kern ist wenig wirklich neu - auch Schriftsteller wie Michael Frayn in dem Stück "Kopenhagen" haben sich diesen Fragen schließlich schon gewidmet. Aber Richard von Schirach, pendelnd zwischen Einfühlung in persönliche Schicksale, historischen Hintergründen und wissenschaftlichen Fakten, gewinnt dem Thema in seiner historischen Reportage dennoch neue Aspekte ab.

    "Die Bombe verändert alles" galt als Wahrheit damals so, wie es heute gilt, wenn Israel und der Iran oder Indien und Pakistan weltpolitisch in den Blick geraten. Auch die Frage nach der moralischen Verantwortung von Wissenschaft ist von ungebrochener Dringlichkeit. Und nicht zuletzt: die Frage nach der Effizienz von Wissenschaftsmanagement – auch wenn das damals nicht so genannt worden ist. Gerade das ist nämlich der Punkt, an dem von Schirachs Darstellung am eindrücklichsten wird – diese deutschen Forscher versagen nicht nur moralisch, wo sie Hitlers Kriegszielen zuarbeiten; sie scheitern auch als Wissenschaftler und als Manager, da sie falsche Entscheidungen treffen und technische Möglichkeiten übersehen. Weil sie, wie etwa Heisenberg, von ihren theoretischen Vorannahmen und einem erheblichen Dünkel nicht lassen können. Weil den falschen Menschen die Leitung der Projekte übertragen wird, weil das Oberkommando des Heeres anfangs an der Bombe nicht sehr interessiert ist und später dann die kleinteilig skizzierten Projekte der Forscher nicht überzeugend findet.

    Kurz gesagt: Die deutsche Atom-Politik in Dritten Reich ist unter Effizienz-Gesichtspunkten ein Desaster, anders als das "Manhattan-Projekt" der Amerikaner. Unter den gegebenen Umständen hätten die Deutschen wohl gar keine Bombe bauen können - sie fühlen sich aber, mangels besserem Wissen über die amerikanischen Fortschritte, als Pioniere und sozusagen als Klassenprimus. Heisenberg und seine Mitarbeiter dachten in den Dimensionen von Forschungslaboren oder Versuchsreaktoren und nicht in den Kategorien industrieller Produktion von bombentauglichem Uran oder Plutonium wie die Amerikaner seit 1942. Es mutet wie Hohn an, wenn Richard von Schirach herausstellt, wie genau und wie früh die Amerikaner über diese deutschen Schwierigkeiten informiert gewesen sind. Mehr noch: dass das Team um Heisenberg ihnen vorgekommen sein muss, wie der Steinzeit verhaftet.

    Den vielen Ebenen, die von Schirachs Buch behandelt, entsprechen wechselnde Zungenschläge beim Erzählen und auch eine gewisse Sprunghaftigkeit seiner Darstellung. Das Ende der Geschichte aber ist von schöner Eindeutigkeit: Wenn nämlich nach der totalen Niederlage, nach kriegsbedingten Verlagerungen der Forschungseinrichtungen, nach mühevollen Improvisationen unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft und nach dem allmählichen Stillstand aller Arbeiten, Forscher wie Heisenberg und von Weizsäcker alsbald damit beginnen, ihr Scheitern als eine geplante Verschleppung der Bombenentwicklung zu beschreiben, als eine Form von sagen wir mal "latentem Widerstand" gegen die Nazis. Wer heute beispielsweise den Wikipedia-Artikel zu Leben und Werk von Heisenberg durchliest, merkt schnell, wie vorsichtig, wie ausweichend manche Sätze zu diesem Thema immer noch formuliert werden. Richard von Schirachs "Die Nacht der Physiker" setzt sich darüber mit einer gewissen Süffisanz hinweg ohne die früheren und späteren Verdienste all dieser Herren je zu bestreiten -- und das ist eine erfrischende Korrektur des Blicks auf diesen Ausschnitt von Wissenschafts- und Kriegsgeschichte.

    Richard von Schirach: Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe.
    Berenberg Verlag, Berlin 2012, 272 Seiten.