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Historische Schätzchen

Sie klingen vielleicht etwas schmutzig und so gar nicht wie die Hochglanzproduktionen der Lang Langs und Netrebkos von heute: Doch die Wiederauflagen historischer Aufnahmen von Meistern wie Fritz Wunderlich oder Glenn Gould sind nicht nur etwas für Enthusiasten und Experten.

Von Norbert Hornig | 17.10.2010
    "Friedrich von Flotow
    Aus: Martha
    "Ach so fromm" (3. Akt)
    Fritz Wunderlich (Tenor)
    Berliner Symphoniker
    Leitung Berislav Klobucar
    LC 06646 EMI Classics 6 29528 2"

    Man braucht kein Gesangsexperte zu sein, um dieses unverwechselbare Timbre einem einzigen Sänger zuordnen zu können. Diese Stimme ist Kult, sie gehört natürlich dem großen Tenor Fritz Wunderlich. Er wäre am 26. September 80 Jahre alt geworden. EMI Classics widmet dem Sänger aus diesem Anlass eine Box mit sechs CDs in der historischen Reihe "Icon", die berühmte Künstler-Ikonen des EMI-Katalogs porträtiert. Darin enthalten sind Aufnahmen, die irgendwann schon einmal auf CD erhältlich waren, in anderen Zusammenstellungen, mit anderen Covern und meist zu einem deutlich höheren Preis. Die Icon-Box mit Fritz Wunderlich stellt Highlights aus dem Bereich Oper, Operette und Lied zusammen, die der Sänger Anfang der 60er-Jahre für EMI Electrola eingespielte. Sie wendet sich mehr an ein breiteres Publikum als an Gesangs- und Opernexperten, die ohnehin die meisten Wunderlich-Aufnahmen bereits im Schallplattenregal stehen haben.

    Wer sich aber einen Grundstock von legendären Aufnahmen Wunderlichs aus dem EMI-Archiv zulegen will und nicht auf Vollständigkeit bedacht ist, kann hier zugreifen, er wird überrascht sein, wie wenig er dafür ausgeben muss. Eine luxuriöse Aufmachung gibt es allerdings nicht. Jede CD steckt in einem Pappschuber, auf dem immer dasselbe Porträt des Sängers abgebildet ist. Immerhin hat man der Edition ein dreisprachiges Textheft spendiert. Zu den aktuellen Neuheiten der Icon-Reihe gehören weiterhin sämtliche EMI-Aufnahmen von Emil Gilels und Alicia de la Rocha, Pierre Fournier, Edwin Fischer und eine Box, die dem Dirigenten Rudolf Kempe gewidmet ist.

    Besonders an Musikenthusiasten, die der guten alten Vinyl-Langspielplatte nachtrauern und die oft künstlerisch anspruchsvoll gestalteten Cover zu schätzen wissen, wendet sich Sony Classical mit einer besonderen historischen Reihe, der "Jacket Collection". Das diskografische Erbe großer Künstler des Labels ist hier in handlichen Boxen aus Karton verpackt, wobei jede CD in eine Miniaturkopie des Originalcovers geschoben wurde. Zur Musik kommt hier der Reiz des Nostalgischen, den Begleittext auf der Rückseite kann man allerdings nur mit der Lupe lesen. Sämtliche Aufnahmen mit Glenn Gould sind in dieser Reihe erschienen, ferner legendäre Einspielungen unter anderen von Bruno Walter, Igor Strawinsky, Eugene Ormandy, Vladimir Horowitz, Jascha Heifetz oder Itzhak Perlman.
    Die jüngste Veröffentlichung im Rahmen der "Jacket Collection" ist dem Cellisten Pablo Casals gewidmet. Die Box enthält zehn CDs mit Aufnahmen von Columbia Masterworks, wobei es sich vor allem um Kammermusikaufnahmen von den Casals-Festivals in Prades und Perpignan aus den 50er-Jahren handelt.

    "Franz Schubert
    aus Klaviertrio Nr. 1 B-Dur op. 99
    2. Satz (Andante un poco mosso)
    Eugene Istomin (Klavier)
    Alexander Schneider (Violine)
    Pablo Casals (Violoncello)
    LC 06868 Sony&BMG 88697656902-05"

    Eugene Istomin, Klavier, Alexander Schneider Violine und Pablo Casals, Violoncello waren das mit einem Ausschnitt aus dem Klaviertrio Nr. 1 von Franz Schubert in einer Live-Aufnahme vom Casals-Festival in Prades 1951. Celloenthusiasten dürften diese Aufnahmen mit Casals noch als Original-Langspielplatte besitzen. Nun haben sie die Möglichkeit, ihre alten Schätze in einer klanglich optimierten Version neu zu entdecken. Große traditionsreiche Plattenlabel wie EMI, Deutsche Grammophon oder Decca haben die meisten dokumentarisch wertvollen Aufnahmen aus ihren Archiven bereits auf CD wiederveröffentlicht, zum Teil sogar mehrfach. Wirkliche Neuheiten im Bereich der historischen Aufnahmen kommen in den letzten Jahren vor allem aus den Archiven europäischer und amerikanischer Rundfunkanstalten und von kleineren Firmen.

    Einen einzigartigen Katalog von historischen Raritäten hat das neue kanadische Label West Hill Radio Archives aufgebaut, das in Deutschland über den Vertrieb Note 1 erhältlich ist und in Koproduktionen mit dem amerikanischen Label Music & Arts arbeitet. Hier findet der ambitionierte Sammler tatsächlich Aufnahmen, die noch nie auf einem kommerziellen Tonträger erschienen sind, unter anderem von großen Dirigenten wie Charles Munch, Otto Klemperer, Goerge Szell oder Pierre Monteux.

    "The Art of Gregor Piatigorsky" heißt eine neue Editon mit sechs CDs und einer zusätzlichen DVD, die den russischen Meistercellisten in noch nie veröffentlichten Studio- und Live-Aufnahmen sowie Mitschnitten des amerikanischen Rundfunksenders NBC vorstellt. Die Einspielungen entstanden zwischen 1924 und 1955, detaillierte Erläuterungen dazu findet man in einem reich bebilderten, englischsprachigen Booklet. Neben Repertoireklassikern wie den Konzerten von Schumann, Elgar und Saint-Saens, enthält die Box auch eine Aufnahme des Cellokonzertes von Paul Hindemith mit dem Komponisten als Dirigenten und eine Reihe von romantischen Miniaturen und Encore-Stücken, die Piatigorsky für Cello bearbeitete - wie etwa diese Romanze von Alexander Skriabin:

    "Alexander Skriabin
    Romanze op. post (Arr. Piatigorsky)
    Gregor Piatigorsky (Violoncello)
    Ralph Berkowitz (Klavier)
    LC 11637 West Hill Radio Archives CD WHRA-6032"

    In Deutschland sind es vor allem die Label Orfeo und Audite, seit einigen Jahren auch Profil Edition Günter Hänssler und Hänssler Classic, die in Koproduktion mit den Rundfunkanstalten deren Archive auswerten und künstlerisch besonders wertvolle Interpretationen auf CD veröffentlichen. Zusammen mit dem Österreichischen Rundfunk hat Orfeo in der Reihe "Festspieldokumente" seit den 80er-Jahren annähernd 200 CDs mit Live-Mitschnitten von den Salzburger Festspielen veröffentlicht. Fast alle Künstler mit Rang und Namen in der Welt der klassischen Musik sind hier vertreten. Mit einem ganzen Stapel von Neuveröffentlichungen weckt Orfeo in diesem Herbst die Neugier von Sammlern, die das Besondere suchen, die vielleicht sogar das ein oder andere hier dokumentierte Konzert in Salzburg selbst miterlebt haben - etwa eines der Orchesterkonzerte mit Bruno Walter, Leonard Bernstein, Raffael Kubelik oder Lorin Maazel, einen der Liederabende mit Nicolai Gedda oder Elisabeth Schwarzkopf, vielleicht auch einen der bejubelten Auftritte der Pianisten Edwin Fischer oder Géza Anda.

    Anda eröffnete das Konzertprogramm der Salzburger Festspiele 1965 mit einem außergewöhnlichen Chopinabend. Er spielte alle Préludes op. 28 sowie die Etüden op. 10 und op. 25. In den Salzburger Nachrichten war danach unter anderem zu lesen:

    "Dieser Chopin-Abend brachte es insgesamt - mit den stümrisch erklatschten Encores - auf über fünfzig Kompositionen des Meisters. So bleibt zu guter Letzt nur noch einmal den Hut zu ziehen vor seinem Interpreten. Géza Anda ist einer der großen Chopin-Spieler und die Geschichte wird ihn nach Cortot als solchen annehmen."

    Die Etüden op. 10 hat Géza Anda übrigens nie in einer Studioaufnahme vorgelegt. Dieser Mitschnitt aus Salzburg von 1965 ist seine einzige Aufnahme des Zyklus', die hier erstmals auf CD erscheint:

    "Frédéric Chopin
    Etüde op. 10 Nr. 5 Ges-Dur
    Géza Anda (Klavier)
    LC 08175 Orfeo CD C 824 102 B"

    In seiner historischen Reihe "Legendary Recordings" hat das Label Audite in den vergangenen Monaten erneut eine ganze Reihe von künstlerisch wertvollen Aufnahmen aus Archiven des ehemaligen RIAS auf CD herausgebracht, unter anderem Orchesterlieder von Richard Wagner und Richard Strauss mit Kirsten Flagstadt sowie rare Klavieraufnahmen mit den Pianisten Solomon Cutner und Wilhelm Backhaus. Von besonderem Interesse ist ein diskografisches Großprojekt, das dem Dirigenten Hans Knappertsbusch gewidmet ist. Auf fünf CDs liegen bei Audite jetzt sämtliche Aufnahmen vor, die der Dirigent Anfang der 50er-Jahre mit den Berliner Philharmonikern für den RIAS einspielte. Einige dieser Aufnahmen kursieren bereits als nicht autorisierte Raubpressungen. Für die Veröffentlichungen von Audite wurden ausschließlich die Originalbänder verwendet und mit größter Sorgfalt digitalisiert. So sind diese Aufnahmen in einer nie dagewesenen Klangqualität zu hören. Anfang der 50er-Jahre, vor der Ära Karajan, arbeitete Knappertsbusch noch einmal intensiver mit den Berliner Philharmonikern zusammen. Die RIAS-Aufnahmen zeigen ihn als souveränen Sachwalter der großen Sinfonik von Haydn, Beethoven, Schubert und Bruckner, aber auch als einen genussvollen Dirigenten von leichterer Musik, etwa von Johann Strauss. Die Edition erlaubt außerdem einen interessanten Interpretationsvergleich der 9. Sinfonie von Anton Bruckner, die in einer Studio- und in einer Live-Einspielung dokumentiert ist:

    "Anton Bruckner
    Aus: Sinfonie Nr. 9
    2. Satz: Scherzo (Bewegt, lebhaft)
    Berliner Philharmoniker
    Leitung Hans Knappertsbusch
    CD 1 Track 002
    LC 04480 Audite CD 21405"

    Die Neue Platte im Deutschlandfunk - Es wurden Veröffentlichungen aus dem Bereich "Historische Aufnahmen" vorgestellt, die bei EMI Classics, Sony Music, West Hill Radio Archives, Orfeo und Audite erschienen sind. Die Sendung ging zu Ende mit einem Ausschnitt aus dem Scherzo der Sinfonie Nr. 9 von Anton Bruckner in einer Einspielung mit den Berliner Philharmonikern unter Hans Knappertsbusch. Die Sinfonie ist bei Audite in einer Editon sämtlicher Aufnahmen erschienen, die Orchester und Dirigent Anfang der 50er-Jahre für den RIAS einspielten.