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Historische Sitzung

Vor 20 Jahren fiel in Berlin die Mauer. Das weiß in Deutschland fast jedes Schulkind. An der Universität Leipzig gibt es heute aber einen anderen Grund zum Feiern. Vor 20 Jahren wurde dort der "StudentInnenrat" gegründet, die erste demokratisch legitimierte Studierendenvertretung in der damaligen DDR. Und diese Art der Vertretung ist mittlerweile gesetzlich verankert.

Von Wolfgang Lenders | 09.11.2009
    Eigentlich sollte es an der Uni Leipzig ein Semesterbeginn wie in jedem Jahr werden: mit der sogenannten "Roten Woche", der politischen Orientierungswoche. Doch im Herbst 1989 herrschte in Leipzig Aufbruchstimmung. Peer Pasternack studierte damals Politikwissenschaft. Heute ist er Forschungsdirektor am Institut für Hochschulforschung der Universität Halle-Wittenberg. Er erinnert sich noch genau an die Stimmung.

    "Das brodelte und kochte also vor den Toren der Universität. Und innerhalb der Universität tat der Großteil der Universitätsangehörigen, der Lehrenden, tat so, als ob alles so weitergeht wie bisher. Gleichzeitig vielen aber Lehrveranstaltungen aus, weil plötzlich auch Lehrkräfte nicht mehr aus dem Urlaub zurückkamen, sondern über die offene ungarische Grenze entfleucht waren."

    An der Uni sollte die DDR-Jugendorganisation, die FDJ, die Interessen der Studierenden vertreten. Doch mit der wollten viele nichts mehr zu tun haben - und trafen sich zu Arbeitsgruppen. In einer ging es darum, wie eine studentische Interessenvertretung aussehen könnte:

    "Es gab acht Modelle, eines chaotischer als das andere, die dort vorgestellt wurden. Ich hatte auch eins mitgebracht, dass ich mir auch vorher von meiner Fachschaft als unseren Vorschlag für die studentische Interessenvertretung hatte absegnen lassen."

    Nach Peer Pasternacks Konzept sollten die Fachschaften der Uni Vertreter in den StudentInnenrat "StuRa" schicken. Der sollte dann Sprecher wählen, um die Interessen der Studierenden nach außen zu vertreten. Das Modell setzte sich gegen die anderen Vorschläge durch. Und am 9. November 1989 traf sich dann der "StuRa" zum ersten Mal. Den Mauerfall zur gleichen Zeit bekamen die Versammelten aber erst mal nicht mit, erinnert sich Pasternack:

    "Weil in die Versammlung, die konstituierende Sitzung des Stura, zwar jemand hineinplatzte und rief 'Die machen grad die Mauer auf', wir waren aber gerade in der Abarbeitung einer hoch, eh, aus unserer Sicht jedenfalls hochinteressanten Tagesordnung. Und haben das also für ein Gerücht, wie man in diesen Tagen ständig irgendwelche Gerüchte hörte, also jajajaja, und haben unsere Tagesordnung fortgesetzt und haben das nicht weiter ernst genommen, ja."

    Dass die Mauer wirklich offen war, erfuhr Peer Pasternack erst am nächsten Tag. Mit der Maueröffnung war auch die Position des neuen "Sturas" gestärkt. Die Studierendenvertreter verhandelten mit dem Rektor der Uni - und erreichten Einiges:

    "Dass unsere wesentlichen akuten Forderungen erfüllt wurden, nämlich die Abschaffung des, ähm, marxistisch-leninistischen Grundlagenstudiums, die Abschaffung der verpflichtenden Russischausbildung und die Abschaffung des Pflicht-Studentensports."

    Dass es solche Pflichtveranstaltungen an ihrer Uni einmal gab, können sich viele Studierende heute nicht mehr vorstellen. Auch Stura-Mitgliedern wie Annika Schindelarz fällt es schwer, sich in die Situation vor 20 Jahren hineinzuversetzen.

    " Ganz schwer. Ich bin Westkind, ich war damals acht. Aber, manchmal kommt's dann ja doch. Also, ich hab auch mal Praktikum im Uni-Archiv gemacht, und wenn man sich dann so einliest, dann entsteht natürlich ein Bild im Kopf. Aber wie nah das an der Realität ist, das ist natürlich schwierig zu sagen."

    Mit dem Modell des Studentinnenrats sind die meisten Studierenden aber zufrieden. So auch Bastian Lindert. Er ist einer von drei Sprechern des Sturas in Leipzig:

    "Man wird halt gewählt, in dieses Amt, und geht dann los, und fängt halt an zu machen. Und muss nicht irgendwie mit zwanzigtausend anderen Leuten sich darauf einigen, welche Agenda man nun verfolgt. Und dann, wenn man ein Ziel hat, geht man halt in den Stura, ins Plenum, und sucht für seine Ideen eine Mehrheit. Aber da muss man nicht Fraktionen überzeugen, sondern muss man die einzelnen Leute überzeugen."

    Nach Ansicht von Bastian Lindert funktioniert das Stura-Modell besser, als das an den meisten westdeutschen Hochschulen übliche Modell eines direkt gewählten Studierendenparlaments und eines AStAs. In Sachsen ist das von Peer Pasternack und einigen anderen Studierenden entwickelte Modell inzwischen im Hochschulgesetz festgeschrieben.