
In den letzten Jahrzehnten stand immer der Zweite Weltkrieg mit den Greueltaten des Naziregimes im Mittelpunkt unserer Auseinandersetzung. Die Fragen nach dem Warum, nach dem Widerstand, nach Mitläufertum und nach Schuld. Nun jährt sich zum 100. Mal der Beginn des Ersten Weltkrieges und mehr denn je treten die Verbindungen und Folgerungen der beiden Kriege zu Tage.
Wie aber soll ein Jugendlicher den Ausbruch des Ersten Weltkrieges oder die Eskalation des Antisemitismus im Zweiten Weltkrieg überhaupt verstehen? Die Generation der Zeitzeugen, die uns ein lebendiges Zeugnis geben, verstirbt. Viele Menschen waren erst spät, im Alter, in der Lage, über das, was sie erlebt haben, sei es an der Front oder in der Heimat, zu sprechen. Viele wollten vergessen, um weiterzuleben, und dachten, das Schweigen könne ihnen helfen, den Schmerz oder auch Schuldgefühle hinter sich zu lassen. Zum Glück gab es jedoch ebenso viele, die ihre persönlichen Erlebnisse mitteilen wollten, damit nachfolgende Generationen aus der Geschichte lernen.
Zum Glück gibt es Schriftsteller, die Kontakt zu Zeitzeugen suchen und historische Ereignisse in fiktionalisierten Geschichten thematisieren. Der Name Elisabeth Zöller ist unweigerlich verknüpft mit dem Begriff des historischen Jugendromans.
Im Jahr 2005 ehrte man Sie für das Buch "Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens" mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis. Ein Buch über einen durch einen Unfall verletzten Jungen, der trotz seiner Behinderung die Schikanen, Strapazen und Erniedrigungen der Hitlerzeit überlebte.
Elisabeth Zöller, in den letzten Jahren sind fünf Romane von Ihnen über die Zeit des Nationalsozialismus erschienen. Sie selber sind ein Nachkriegskind, geboren 1945. Welche Kindheitserinnerungen verbinden Sie noch mit Kriegsnachwehen?
Elisabeth Zöller: Ich hab Erinnerungen an meine Eltern, die unter Nazideutschland gelitten hatten, die sich in Nazideutschland überhaupt nicht zu Hause fühlten und deshalb auf Konfrontation zu den allgemein üblichen oder zu den offen diskutierten Meinungen standen. Und solche Elternhäuser müssen erst ihr Leid abschütteln, auch wenn ich das als Kind gar nicht verstanden habe. Aber als sie sich langsam öffneten, anfingen zu reden und uns in diese Zeit durch Erzählungen führten, da habe ich angefangen zu verstehen.
Ute Wegmann: Ihre Romane basieren oft auf wahren Begebenheiten. In "Anton oder Die Zeit des unwerten Lebens" geht es um Ihren Onkel. In "Vaters Befehl oder ein deutsches Mädel" - ein Roman über eine Mädchenfreundschaft Jüdin/Nicht-Jüdin und den daraus resultierenden Vater-Tochter-Konflikt, der bis zum Bruch geht - in diesem Fall hat eine ältere Dame Ihnen ihre persönliche Geschichte erzählt.
Den Roman über die Edelweißpiraten nennen Sie einen "Tatsachen-Thriller". Basierend auf der Biografie des Kölner Edelweißpiraten Fritz Thielen, der nicht in Ehrenfeld gehängt wurde, sondern dank eines mutigen Freundes fliehen konnte.
Brauchen Sie die wahre Begebenheit als Aufhänger?
Zöller: Brauch ich nicht, aber sie ist beim Schreiben sehr nützlich, weil ich die Person ja vorher schon kennen gelernt habe, während ich bei einer fiktiven Person das Gesamtbild erstmal entstehen lassen muss.
Wegmann: Kann man denn sagen, wie viel fiktiv oder wie viel wahr ist?
Zöller: Ich kann es nicht in Prozenten. Aber die Grundlinien sind immer wahr. Das Ausgeschmückte nehme ich aus Recherchen. Vieles stimmt, die anderen Details müssen dazu entwickelt werden.
Wegmann: Einen historischen Roman zu schreiben, bedeutet vor allem viel Recherche. Immer enthalten Ihre Romane ein Glossar mit Begriffserläuterungen, Daten und Namen. Wie erarbeiten Sie das jeweilige Thema?
Zöller: Das mache ich seit einigen Jahren mit Hilfe von zwei Mitarbeiterinnen, die eine Historikerin, die andere hat Philosophie-Theologie studiert. Wir teilen die Arbeit auf und schon hab ich innerhalb von zwei, drei Monaten den Stoff aufgearbeitet. Danach kniee ich mich selbst hinein. Das heißt, ich habe also das gesamte Bühnenbild schon vor mir stehen.
Wegmann: Die beiden Mitarbeiterinnen leisten sozusagen die Vorrecherche, die ja viel zeit in Anspruch nimmt.
Zöller: Die erste Recherche mache ich selber. Die zweite Recherche, die Detailrecherche machen die beiden. Dann setzen wir uns zusammen und ich muss langsam begreifen, was sich abspielt.
Wegmann: Man findet in Ihren Bücher oft sehr akribische Beschreibungen - basierend auf dem historischen Material, von Gegenständen, Handlungen, Umgebung, all das dokumentiert auch den Rechercheaufwand. Dadurch wird aber in der ein oder anderen Situation auch allzu große Emotionalität verhindert. Ist das ein Stilmittel?
Zöller: Ich glaube ja. Ich glaube, dass ein Autor, der gleichzeitig in die Emotionen einsteigt, sich meist ein Stück vergibt, weil er die Emotionen des Lesenden zu sehr lenkt. Während wenn eine gewisse Kühle auftritt, der Lesende seine Emotionen an der kühlen Fläche entzünden kann.
Wegmann: Ist Ihnen die Versachlichung und somit ein gewisser Lehreffekt bei der Vermittlung in Romanform wichtig?
Zöller: Lehreffekt, dazu hab ich mir noch keine Gedanken macht. Es hat einen emotionalen Effekt. Das kommt durch mein eigenes Lesen. Ich konnte immer Bücher, Romane, die emotionsloser sind, besser lesen als emotionsgeladene, die mir die Gefühle aufdrängen.
Wegmann: Im Jahr 2007 waren Sie eine von 2.417 Bundesbürgern, die das Bundesverdienstkreuz am Bande bekommen haben. War das für die Vermittlungsarbeit der historischen Themen oder als Schriftstellerin?
Zöller: Für zwei Dinge: Für die Vermittlung der historischen Themen und für meine Konzepte zur Gewaltprävention. Ich hatte zwölf Jahre vorher dazu Bücher geschrieben.
Wegmann: Kommen wir zurück zum Krieg. Diesmal zum Ersten Weltkrieg, dessen Beginn sich dieses Jahr 2014 zum 100. Mal jährt.
"Der Krieg ist ein Menschenfresser" lautet der Titel des neuen Romans.
Die Geschichte ist vielschichtig: Es geht um die allgemein bekannte Kriegsbegeisterung, fast Euphorie der jungen Männer 1914, die als Helden für ihr Vaterland in den Krieg ziehen wollen, um die schnelle Ernüchterung durch die Brutalität an der Front. Es geht um erste zarte Bande, um die erste Liebe, um Kriegsverbrechen, falschen Gehorsam und Schuld.
Vor allem aber auch hier - wie in den anderen Büchern - geht es neben Alltagssituationen während des Krieges um den Widerstand.
Was war für Sie das Wichtigste in diesem Buch?
Zöller: Wichtig, sehr wichtig war, die Rollenbilder darzustellen: Der Mann, als Held geplant, möglichst gefühllos, immer intakt, mit glatter Oberfläche, glänzend stark. Die Frau dagegen still, bescheiden, klein, sich duckend, gehorsam. Das waren zwei Dinge, jetzt bin ich schon beim Widerstand, gegen die ich mit diesem Buch Widerstand leisten wollte. Das heißt, wir sind alle Menschen. Als Menschen zogen die Männer in den Krieg. Als Mensch nimmt Sophie den Max wieder auf, möchte ihm durch Zuhören wieder helfen.
Wegmann: Jetzt sind sie schon ein wenig in die Geschichte hineingegangen: Wir haben Sophie, eine Rahmenfigur. Wir haben zwei Protagonisten: Ferdinand, der in den Krieg zieht und der von den Eltern angeleitet wird, alles aufzuschreiben, was er sieht, obwohl er das eigentlich nicht dürfte. Der mit einer Tasche ausgestattet ist, in der er eine Kamera versteckt und seine Notizen aufbewahrt. Und wir haben Max. Die beiden werden sich an der Front begegnen. Da will ich nicht mehr verraten.
Wir hören jetzt einmal hinein in die Geschichte "Der Krieg ist ein Menschenfresser". Es liest die Autorin Elisabeth Zöller, heute zu Gast im Büchermarkt.
"Zwischen zwei Hügeln dehnte sich eine Talsenke. Mittendrin lag ein Schutthaufen. Vielleicht ein ehemaliges Dorf. Die Erde war aufgerissen. Sie schwärzten sich Gesicht und Hände mit Schuhcreme. In der Dunkelheit krochen sie auf einen Hügel. Vom Feind war nichts zu sehen. Sie rutschten auf dem Bauch in einen Granatentrichter. Max schmeckte Dreck. Und es roch muffig nach feuchtem, modrigem Laub, nach Moos und fauliger Baumrinde. Der Feldwebel tippte ihm mit den Fingern auf die Schulter und wies nach vorne. Zwischen abgebrannten, zersplitterten Baumstümpfen öffnete sich eine Lichtung. Sie war vielleicht 200 Meter entfernt. Max schaute Pfals an. Der nickte mit dem Kopf. Sie waren also am Ziel.
Im Osten stiegen Signalraketen auf. Max sah fragend zu Pfals hinüber und deutete auf den herabfallenden Lichtschein der Raketen.Aber der Feldwebel legte den Finger auf die Lippen, deutete auf die Lichtung und nickte.
Die Messingenden der Patronen fühlten sich eiskalt an. Max lud sorgfältig und drückte eine Patrone aus dem Ladestreifen in die Kammer der Mauser 98 K. Genau so, wie Pfals es ihm gezeigt hatte.Sie machte ein hohles, knackendes Geräusch. Er sah durch das Fernrohr und wartete. Plötzlich tauchte ein Schatten auf, eine Gestalt lief in gebückter Haltung im Zickzack von ihm weg. Dann bemerkte er schemenhaft zwei weitere Gestalten. Er legte das Gewehr an. Dann holte er tief Luft. Er spürte seinen Herzschlag.Ruhig und gleichmäßig.
Pfals schoss und Max sah die Silhouette eines aufrecht stehenden Mannes fallen. Die zwei anderen stoppten. Er hörte, wie Pfals nachlud. Und dann schoss er auch. Die Schatten fielen um.'Feuerschutz, gib mir Feuerschutz!' Der Feldwebel sprang auf und rannte gebückt auf die Lichtung. Durch das Visier sah Max, wie die Konturen des Feldwebels mit dem Boden eins wurden.
Dann kam er gebückt zurück. In der Hand hielt er eine lederne Tasche, wie sie die Melder trugen. In der anderen eine Pistole. Er ließ sich neben Max in den Trichter fallen. 'Weg hier!', keuchte Pfals. Und Max lief gebückt hinter ihm her. Kurz darauf verschwanden sie in einem Verbindungsgraben.
Dann passierte es. Max wurde schwarz vor Augen. Die Beine sackten unter ihm weg. Alles schien sich im Bruchteil einer Sekunde zuzutragen Etwas hob ihn und schleuderte ihn zu Boden. Er verlor jeden Halt, klammerte sich an sein Bewusstsein, wollte es nicht verlieren.
Als er aufwachte, starrte er in den Himmel. Er lag schweißgebadet auf dem Rücken. Schmerz pochte in seinem Oberkörper. Sein Atem ging keuchend. Er hatte Durst.
Der Himmel verfärbte sich. Gleich würde es dunkel. Er hustete und sah zu Feldwebel Pfals hinüber. Der lag stumm auf der Seite und bewegte sich nicht. Max kroch zu ihm. Einen Augenblick überlegte er, ob er nicht Pfals’ Körper in den Trichter in Deckung ziehen sollte. Aber dann wurde ihm klar, dass er ihn da nicht wieder herausbekommen würde. Er hob vorsichtig den Kopf und sah hinüber auf den Grabenrand hinter dem Stacheldrahtverhau. Waren die Schüsse, die sie getroffen hatten, von dort gekommen? Es war niemand zu sehen. War das überhaupt der französische Graben? Woran sollte er sich orientieren? Pfals’ Gewehr steckte mit der Mündung im Matsch. Der Kolben warf einen langen dünnen Schatten. Jetzt kannte Max wenigstens die Richtung, in die sie kriechen mussten.
Er brauchte einige Minuten, um sich zurechtzufinden. Er lag in einem fremden Bett. Es dämmerte, er hörte Vogelgezwitscher und die Glocken einer Kirchturmuhr. Er erinnerte sich wieder: Er war in einem Lazarett.
Die Erinnerungen an die vergangenen Tage waren nichts als bruchstückhaftes Durcheinander. Er hatte den Feldwebel nicht liegenlassen. Und er wollte die lederne Umhängetasche nicht herausrücken. Die Tatsache, dass Pfals sie unter Lebensgefahr von der Lichtung geholt hatte, machte sie zu etwas Besonderem. Nachdem Max einen Blick hineingeworfen hatte, konnte er sich sogar einen Reim auf das Ganze machen. Doch die Tasche gehörte jetzt ihm. Aber eigentlich war es ganz anders. Die Tasche gehörte weder ihm noch Pfals. Sie gehörte dem Mann, den sie auf der Lichtung erschossen hatten.
Als er sich unbeobachtet fühlte, untersuchte er den Inhalt. Trommelfeueraufnahmen, Bordellbilder, Fliegerabstürze folgten in unsortierter Reihenfolge. Dann zwei Aufnahmen, die zusammengehörten. Auf der einen stand: Vorher. Sie zeigte einen jungen Soldaten mit einer Handgranate, wurfbereit. Die zweite Fotografie zeigte eine Zeltbahn mit blutigen Körpern. Am Rand stand geschrieben: Nachher.
Das war das Übliche. Sie waren im Krieg. Sollten sie Blumen fotografieren? Oder war es doch mehr? Da war offenbar einer, der wollte dieses Grauen festhalten. Damit es nicht vergessen wurde.Der wollte vielleicht Fragen stellen. Das war es! Max begriff. Und da schauderte es ihn. Öffentlichkeit - war unerwünscht! Fragen - bloß nicht! Krieg fand unter Geheimhaltung statt. Mit der Pflicht zu schweigen. Und mit strengem Gehorsam.
Schon blätterte er weiter.Als Absender las er: Ferdinand Frenzel. Vor den Briefen fürchtete Max sich. Was würde er erfahren über diesen Ferdinand Frenzel aus Leipzig? Es war ein deutscher Soldat, der die Fotos zusammengetragen hatte. Und den er erschossen hatte. Er oder Pfals. Drei Menschen hatten sie erschossen. Keine Feinde, sondern eigene Leute.
Max Quinte war ein Mörder."
Wegmann: Elisabeth Zöller, die Autorin des historischen Jugendromans "Der Krieg ist ein Menschenfresser". Alle Angaben zu den Büchern können Sie auch im Internet nachlesen unter www.deutschlandradio.de
Elisabeth Zöller, Faktentreue ist ein wesentlicher Aspekt des Genres. Aber auch Einzelschicksale müssen deutlich zu Tage treten, müssen den jugendlichen Leser ansprechen. Erzählen Sie aus diesem Grund oft aus wechselnden Perspektiven?
Zöller: Ja, ich möchte natürlich viele junge Menschen ansprechen. Deshalb wechsle ich dreimal die Perspektive. Von Ferdinand, zu Max, zu Sophie.
Und auch innerhalb dieser Abschnitte, um immer ganz nah bei den Personen zu sein. Nah bei Ferdinand in der Schlacht, wo er begreift: Der Krieg ist ein Menschenfresser, wie das sein Vater gesagt hat. Nah bei Sophie, die sich Max annähert.
Wegmann: Nun gehen wir ja hier in der Geschichte hundert Jahre zurück in der Zeit. Wie finden Sie denn den Ton Ihrer jugendlichen Protagonisten?
Zöller: Das ist natürlich ein Balanceakt. Ich darf nicht so sprechen wie heute. Ich darf aber auch nicht so sprechen, wie man vor hundert Jahren gesprochen hätte. Respektvolle Äußerungen gegenüber Amtspersonen zum Beispiel, d as würde heute unterwürfig erscheinen. Also ich muss mich auf einem schmalen Grat dazwischen bewegen, der sowohl für den heutigen Leser glaubhaft bleibt, als auch das Gefühl für die damalige Zeit glaubhaft vermittelt. Da nähere ich mich ja selber an, das habe ich ja auch nicht gesprochen. Ich kann das nur nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit überlegen.
Wegmann: nun haben Sie jedem Buch ein Glossar angefügt, wo Begriffe erklärt werden. Es ist Ihnen schon wichtig, dieses alte Vokabular in den Text einfließen zu lassen und auch die Wörter, die uns nicht mehr bekannt sind, weil wir sie nicht mehr benutzen.
Zöller: Auf jeden Fall. Weil sonst die Sprache und auch die Zeit nicht authentisch dargestellt werden. Der Roman soll ja die Zeit spiegeln. Und Fachbegriffe zum Krieg musste ich selber nachschauen. Ich musste mich einlesen. So ist das Ganze eine Komposition aus Sprachfetzen.
Wegmann: Wir wissen aus vielen Sachbüchern und Berichten, dass dieser Krieg ein unglaublich brutaler Krieg war. Ein Krieg, der mit sehr unfairen Waffen geführt wurde, mit Senfgas, es gab viele brutale Verletzungen der Soldaten, viele Verstümmelungen. Sie beschreiben ja nicht nur Alltagssituationen zu hause, sondern auch an der Front. Und sie schreiben von Frontkämpfen, aber die Beschreibungen sind nicht bis zum Letzten in ihrer Brutalität ausgereizt. Vermeiden Sie das absichtlich?
Zöller: Ja. Weil ich denke, es muss auch auszuhalten sein. Wenn ich die letzte Brutalität, die ich in Bildern und in Berichten gesehen habe, herauskitzeln wollte, wäre es nicht die Absicht meines Buches. Mein Buch ist nicht geschrieben, um das Kampfgetümmel darzustellen. Nicht nur hinsichtlich der Brutalität, sondern auch im Hinblick auf die Langeweile. Mein Buch ist eher ein schmales Beobachtungsband, das ich anhand von meinen beiden Figuren Ferdinand und Max entlang erlebe und beobachte.
Wegmann: Man spürt beim lesen, dass Sie sich sehr für psychische Verletzungen interessieren, die viele Soldaten erlitten haben. In dem Fall ist es Max, der aus dem Krieg zurückkommen wird, nach dem Erlebnis, das wir vorhin in der Lesung gehört haben und der unter einem Trauma leidet, der nicht mehr spricht. Wir kennen das Versinken in Sprachlosigkeit, das ist ein wichtiges Thema, was den ersten Weltkrieg betrifft.
Zöller: Es ist für mich ganz wichtig. Es geht um Max Entwicklung, aber auch um Ferdinand. Man muss sich ja die Frage stellen, warum war er viel unverletzbarer. Weil er in einer Familie aufwuchs, in der gesprochen wurde, wo Kommunikation stattfand. Deshalb ist er in seinem Innern stabiler als Max, der aus einem absolut autoritären Elternhaus kommt, in dem befohlen wird. Das ist vereinfacht, aber in der Tendenz stimmt es.
Wegmann: Ferdinand steht für mich für den Widerstand. Widerstand - ist das herausragende Thema aller Ihrer Bücher, die sich mit dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg beschäftigen. Er wird genau deshalb ermordet, wie wir vorhin gehört haben.
Verdichtet haben Sie das Thema in einem Kinderroman: "Das Monophon". Eine Parabel. Das Monophon, ein Instrument, das nur einen Ton erzeugen kann, als Symbol der Eindimensionalität, als Symbol für diktatorische Unterbindung von Meinungsfreiheit und Vielfalt.
Zöller: Das Monophon stellt jemanden dar, der von oben herab alle kontrollieren will bis in die Gefühle, bis in das Innere hinein.
Wegmann: Ein Mädchen beobachtet Veränderungen in der Heimatstadt, ein Monophon soll gute Stimmung verbreiten, es wird getanzt, parallel werden neue Regeln für das alltägliche Leben aufgestellt. Menschen werden willkürlich nach äußerlichen Kriterien ausgesondert - die mit den Sommersprossen, die mit den roten Haaren - zusammengetrommelt und verschwinden. Gegner tun sich zusammen und überwinden diese Diktatur, den Terror, nachdem sie das System entlarvt haben.
Eine Utopie, die zeigt, wie es hätte sein können, wenn mehr Menschen den Mut aufgebracht hätten, sich dem System zu widersetzen?
Zöller: Mit Sicherheit. Ein Utopie, die natürlich vergeben wurde. Man hat sie nicht genutzt oder nicht nutzen können, weil das wirkliche Naziregime mit einer weitaus größeren Brutalität vorging. Ich wollte nur Kindern hier zeigen: Wenn es euch nicht richtig erscheint, was geschieht, dann reflektiert und tut euch zusammen und redet, und wenn es euch weiter nicht richtig erscheint, dann leistet Widerstand , dann sagt Nein. Das kann sich beziehen auf religiöse Fanatiker oder autoritäre Systeme, denen wir weltweit begegnen. Sagt Nein!
Wegmann: Ferdinand hat ja auch Widerstand geleistet auf seine ganz eigene Art. Und hat dafür mit dem Leben bezahlt.
Zöller: Ich denke jeder Widerstand ist mit Risiken verbunden. Jeder. Aber auch jedes langweilige, angepasste Leben, jedes von oben befohlene Leben ist mit Risiken verbunden. Bei dem einen verliere ich mich selbst, bei dem anderen kann ich mein Leben aufs Spiel setzen. Und deshalb sehe ich keinen so großen Unterschied. Denn wenn ich mich anpasse und dabei aufgebe, bin ich auch nicht mehr da, nur auf eine völlig andere Art und Weise als wenn ich als Widerständler umgebracht werde.
Wie Ferdinand!
Wegmann: Eine letzte Frage zu Ihrem Leben als Autorin. Sie haben sich den neuen, sozialen Netzwerken nicht verweigert. Im Gegenteil, vor Erscheinen des Romans waren schon Textzitate auf Ihrer Facebook-Seite zu finden. Ist das für Sie eine neue Form, mit Jugendlichen in Kontakt zu treten? Oder vielmehr mit Lesern?
Zöller: Mir ist das ganz wichtig, mit Lesern in Kontakt zu sein. Früher immer über Email. Über Facebook habe ich eine ganz andere Nähe hergestellt und kann auf diese Dinge spontan reagieren. Und ich sehe vor allem auch die Stimmung, die gegenüber meinem Buch vorhanden ist.
Wegmann: Gibt es auch so etwas wie einen pädagogischen Anspruch?
Zöller: Danach werde ich häufiger gefragt. Ich habe bis heute keine richtige Antwort darauf gefunden. Ich glaube, wenn wir als Menschen in der Welt agieren, beeinflussen wir immer andere. Eine direkte pädagogische Intension würde ich - außer zur Information - eher verneinen, weiß aber nicht, ob ich damit Recht habe.
Wegmann: Elisabeth Zöller war heute Gast im Büchermarkt. Wir sprachen über: "Anton oder die Zeit des unwerten Lebens" und "Vaters Befehl oder ein deutsches Mädel", Fischer Schatzinsel, "Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife", "Das Monophon", "Der Krieg ist ein Menschenfresser", alle erschienen im Hanser Verlag.
Bücherliste:
"Anton oder die Zeit des unwerten Lebens", Fischer Schatzinsel, 6,95 Euro
"Vaters Befehl oder ein deutsches Mädel", Fischer Schatzinsel, 12,99 Euro
"Wir tanzen nicht nach Führers Pfeife", Hanser Verlag, 16,90 Euro
"Das Monophon", Hanser Verlag, 12,90 Euro
"Der Krieg ist ein Menschenfresser", Hanser Verlag, 15,90 Euro