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Hitler - ein begabter Schauspieler

Hitler, der charismatische Führer: Das war nach 1945 eine willkommene Deutung, schließlich schien sie die Tatsache, dass Millionen von Deutschen dem Völkermörder hinterhergelaufen waren, elegant zu entschuldigen. Gab es dieses Charisma? Der Historiker Ludolf Herbst hat sich der Frage angenommen.

Von Otto Langels | 26.07.2010
    Zeitgenossen, die den jungen Adolf Hitler kennenlernten, beschrieben ihn als weitgehend ungebildet, allenfalls durchschnittlich intelligent und sozial bindungslos. Wie aber konnte eine derart mittelmäßige Person, deren Biografie den üblichen bürgerlichen Bildungs- und Karrieremustern widersprach, innerhalb weniger Jahre zu einem Heilsbringer aufsteigen? Oder mit den Worten des Hitler-Biografen Ian Kershaw: Wie lässt sich erklären, dass ein Mensch mit so geringen geistigen Gaben und sozialen Fähigkeiten eine so gewaltige historische Wirkung entfalten konnte, dass die ganze Welt den Atem anhielt? Der Berliner Historiker Ludolf Herbst hat dazu eine detaillierte und kenntnisreiche Analyse vorgelegt. Trotz einer schweren Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselt, nahm er die Strapazen auf sich, sein Buch bei einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin vorzustellen. Hitler habe bis zum Ende des Ersten Weltkriegs keine außergewöhnlichen Begabungen erkennen lassen, meinte Herbst. Aber er habe Erfahrungen gesammelt, was das Charisma eines Menschen ausmache.

    "Hitler ist ein begabter Schauspieler und ein begabter Inszenierer. Er hat seine Zeit in Wien und in München ganz wesentlich damit verbracht, von einer Opernaufführung in die andere zu laufen, Theateraufführungen zu sehen. Das heißt, er hat in diesen Theater- und Opernbesuchen etwas gelernt. Er hat auch das Parlament in Wien besucht und dort die Gestik der Redner verfolgt. Ohne irgendetwas von den Texten, von den Inhalten dieser Reden überhaupt zu verstehen, hat er sich auf die Gestikulation, auf die Aufführung konzentriert."
    Um Hitlers Charisma zu analysieren, bedient sich Ludolf Herbst der Kategorien Max Webers. Wer eine eingehende Einführung in Webers Herrschaftssoziologie und in den Typus der charismatischen Persönlichkeit bekommen möchte, wird hier fündig. Erst dann wendet sich der Autor dem eigentlichen Thema zu: der Stilisierung des "Führers" zum deutschen Messias. In seinen Münchener Jahren ab 1919/20 fand Hitler zu seiner Rolle als Agitator, zunächst im Dienst der Bayerischen Reichswehr. Er schulte sein rhetorisches Talent, übte bestimmte Gesten und ein markantes Mienenspiel ein. Er verschanzte sich nicht wie andere Politiker hinter dem Rednerpult, sondern wandte sich mit seinem ganzen Körper dem Publikum zu und entwickelte ein Gespür für die Stimmung im Saal. Aber das allein machte aus dem "Trommler und Sammler" der braunen Bewegung noch keinen charismatischen Führer. Entscheidend, so Herbst, war der Umstand, dass die heillos zerstrittenen völkischen Splittergruppen nach dem gescheiterten Putsch des Jahres 1923 eine Integrationsfigur brauchten. Und in Hitlers Umgebung sah man in ihm den geeigneten Anführer.

    "Es gab eine Wechselbeziehung zwischen Führererwartung und Aufbau dieses Hitlers zum Führer, zum Messias, die er selbst auch durch 'Mein Kampf' stimuliert hat. Er hat sich dort ja zum Messias erklärt. Und der Antisemitismus ist die Mission, die er erfüllen will."
    Den Erfolg Hitlers beim Publikum schreibt Herbst insbesondere den Propagandatechniken der NSDAP zu. Dem Vorbild Mussolinis folgend, inszenierte und ritualisierte die Partei den Führerkult. Das professionelle Politikmarketing der NSDAP, der ersten modernen Volkspartei Deutschlands, baute Hitler systematisch zum künftigen Retter Deutschlands auf.

    "Was die Nationalsozialisten gemacht haben: Die haben in geschlossenen Auditorien gesprochen, das heißt, sie haben die Leute vor ausgewählt, sie haben eine Eingangskontrolle durchgeführt, Gesichtskontrolle, und sie haben dann später Reisegesellschaften zusammengestellt. Wer nach Nürnberg zum Parteitag wollte, musste verdienter Parteigenosse sein, musste sich auf einer Liste eintragen. Da kam nur hin, wer eine klare Disposition zum Jubeln hatte."
    Wenn aber die Einheit zwischen Führer und Volk womöglich nur vorgetäuscht war und längst nicht alle Deutschen dem vermeintlichen Charisma Hitlers erlagen, was machte dann seinen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg möglich? Man habe es, so Herbst, mit einer Mischung verschiedener Strukturen zu tun.

    "Mit einem hoch entwickelten bürokratischen Apparat und einer Organisationsfähigkeit, die in der Lage war, das, was in der Bevölkerung oder in dem jeweiligen Bevölkerungspublikum an Erwartungen herrschte, aufzunehmen und manipulativ umzusetzen. Man darf die Regie nicht unterschätzen. Dazu gehört die Bürokratisierung, in die der Terror ebenso wie die Propaganda eingebettet ist. Ohne diese Grundstrukturen kann man sich dem System nicht annähern."
    Der Autor beschränkt sich in seiner Darstellung weitgehend auf die Zeit vor 1933, auf die sogenannte Kampfzeit der NSDAP. Vernachlässigt werden die Jahre nach der Machtübernahme, in denen der Diktator vom Amtsbonus des Reichskanzlers und den politischen Anfangserfolgen des NS-Regimes ebenso profitierte wie vom Nimbus des erfolgreichen Feldherrn in den ersten Kriegsjahren. Der eingespielte Personenkult der Partei wurde Teil der öffentlichen Staatspropaganda. Nachdrücklich warnt Ludolf Herbst davor, unreflektiert ein Bild zu übernehmen, das von den Nazis in Umlauf gebracht wurde. Was sich aus den Quellen nicht belegen lasse, könne auch nicht als gesicherte historische Erkenntnis gelten. Insofern ist Herbsts Darstellung auch ein Plädoyer für einen kritischen Umgang mit den Quellen.

    "Abstinenz ist das Allerbeste. Man muss nicht über alles reden, frei nach Wittgenstein: Worüber man nicht reden kann, davon muss man schweigen. Es gibt Dinge, die kann der Historiker nicht exakt feststellen und soll den Mund halten und soll sagen, dass er das nicht genau sagen kann."
    Überzeugend verweist Ludolf Herbst die Vorstellung vom charismatischen Führer ins Reich der Legenden. Ungeachtet dessen stellt sich aber die Frage nach der Relevanz des Themas: Ist es wirklich unerlässlich zu ergründen, ob sich die Popularität der nationalsozialistischen Bewegung dem vermeintlichen oder dem tatsächlichen Charisma Hitlers verdankt? Die Geltung des Charismas hängt, so Max Weber, von der aus Begeisterung oder Not geborenen Hingabe der Beherrschten an den Führer ab. Wichtig ist der Glaube an die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Herrschers. Ob Hitler der geborene charismatische Führer war oder nur ein talentierter Hochstapler, ist letztlich sekundär.

    Ludolf Herbst: "Hitlers Charisma – Die Erfindung eines deutschen Messias". Das Buch ist bei S. Fischer erschienen. Für 22 Euro 95 gibt es 330 Seiten, ISBN: 978-3-10033-186-1.