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Hitler und Berlin

War es wirklich so, wie Biograf Joachim Fest vermutete, dass Adolf Hitler ein "lebenslanges Ressentiment" gegen Berlin, gegen die Großstadt überhaupt hegte? Und wie verhielt sich die Reichshauptstadt zum Nationalsozialismus? Diese Fragen untersucht Thomas Friedrich in seinem Buch "Die missbrauchte Hauptstadt". Rezensent Henry Bernhard meint, dass der Autor manche Antwort schuldig bleibt.

    Anfang Februar 1933, die NSDAP hatte soeben erfolgreich nach der Macht in Deutschland gegriffen, die SA-Folterkeller waren voller Kommunisten, das liberale Deutschland in Angst und Schrecken, Adolf Hitler hatte gerade eine Woche als Reichskanzler regiert, da meldete die Pressestelle der NSDAP in München, dass der "Führer" für einige Zeit aus Berlin abgereist sei.

    "Der Besuch des Führers in München dient zunächst privaten Zwecken, dann aber auch der Vorbereitung der Reichstagswahl. Wie bekannt, verbleibt die Leitung der nationalsozialistischen Bewegung auch für die Zukunft in München. Adolf Hitler, der auch persönlich außerordentlich an München hängt, behält hier seine eigentliche Wohnung."

    Da hatte er Jahre um die Macht gekämpft, nur um sich dann überstürzt aus der Reichshauptstadt davonzumachen? War es Taktik? Oder eine Flucht? Hitlers Verhältnis zu Berlin ist immer ambivalent gewesen, zerrissen zwischen Faszination und Abscheu. Auf der einen Seite die Architektur der Kaiserzeit, die klassischen Museen, auf der anderen Seite "entartete" Kunst und das schnelllebige, flirrende, "amerikanisierte" Großstadtleben.

    Was hatten die Nationalsozialisten überhaupt für ein Verhältnis zu Berlin? Und wie stellte sich Berlin zu den Nazis? Diesen Fragen widmet sich nun das Buch "Die missbrauchte Hauptstadt. Hitler und Berlin" von Thomas Friedrich. Der Autor ist Ausstellungsmacher und Spezialist für die Stadtgeschichte Berlins.

    Der Band beginnt mit der geradezu verführerisch elegant geschriebenen Geschichte von einem 28-jährigen Gefreiten, der im September 1917 seinen Fronturlaub, den ersten Urlaub seines Lebens, in Berlin verbringt. Er wohnt bei Eltern eines Kameraden. Am vierten Tag seines Aufenthaltes schreibt er einem Freund eine Ansichtskarte.

    "Lieber Schmidt! Die Stadt ist großartig. So richtig eine Weltstadt. Der Verkehr ist auch jetzt noch gewaltig. Bin fast den ganzen Tag fort. Habe jetzt endlich Gelegenheit die Museen etwas besser zu studieren. Kurz: Es fehlt mir nichts. Es grüßt dir dein A. Hitler."

    Diesen Besuch, diese Begeisterung, auch Besuche in den Folgejahren, sollte Hitler fortan in seiner Biographie verschweigen beziehungsweise ihnen einen politischen Anstrich geben. Ein "Führer" geht nicht ins Museum, er studiert die soziale Lage des Volkes. Er geht nicht ins Kino und schwärmt nicht vom Autofahren, sondern beklagt die "Verjudung" der Großstadt. Der Autor Thomas Friedrich widerspricht jedoch sehr deutlich Joachim Fests Verdikt vom "lebenslangen Ressentiment" Hitlers gegen Berlin. Er führt aus, dass Hitlers Zuneigung nicht der Stadt als solcher galt, sondern ihrer Funktion, Hauptstadt des geliebten Deutschen Reiches zu sein. Vor diesem Hintergrund - Berlin als Symbol, als Metapher für die Zentralmacht, als Stein gewordene Versinnbildlichung deutscher Größe - sei Hitlers ganzes Verhältnis zu Berlin zu verstehen. So erklärte er im September 1923 im Münchner Zirkus Krone:

    "Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder marschiert Berlin und endet in München, oder München marschiert und endet in Berlin."

    Die Ausdehnung der NSDAP nach Norden in den 20er Jahren gestaltete sich jedoch schwierig: München blieb für Hitler selbstgewählte Heimat und Machtbasis. Hier gab es eine breite völkisch-nationale Szene, hier war er als "Führer" anerkannt, hier konnte er München als unabänderlichen Parteisitz festschreiben. Die Berliner Rechtsextremen dagegen waren zersplittert und politisch irrelevant. Der Aufbau der Berliner NSDAP-Ortsgruppe ist eine Geschichte von Fehlschlägen. Wenn Hitler regelmäßig nach Berlin reiste, dann zunächst hauptsächlich, um vor sympathisierenden Kreisen Vorträge zu halten und Geld für die Partei und den "Völkischen Beobachter" zu sammeln. Trat er öffentlich auf, machte sich die Hauptstadtpresse über ihn lustig.

    "Im Frühjahr 1927 vermochten die Journalisten jenseits der äußersten Rechten in Hitler nur mehr einen jener Sektengründer zu sehen, von denen es während dieser Jahre in der Weimarer Republik geradezu wimmelte","

    schreibt der Autor schöpfend aus einer immensen Fülle von Quellen. Hier zeigt sich jedoch auch das Hauptproblem des Buches: Zu jedem Fakt finden sich Zahlen und Zitate. Woran es fehlt, ist die einordnende Analyse, der essayistische Ansatz. Stattdessen muss sich der Leser nach vielen präsentierten Fakten noch durch die Goebbels'sche Interpretation derselben quälen. Will man diesen ermüdenden, verlogenen, selbstgefälligen und weinerlichen Schwulst wirklich noch in diesem Umfang lesen?

    Joseph Goebbels, zuvor Ruhrgebiets-Gauleiter der NSDAP, war 1926 von Hitler gegen seinen Willen nach Berlin geschickt worden, um die Führung der zerrütteten und zersplitterten Partei zu übernehmen, in einer Zeit, in der, so der Autor, "die Epoche der 'politisierten Militärs'" abgelöst wurde von jener "der 'militarisierten Politik'". Goebbels war ein begabter Redner und Organisator, der die zerfallenden rechten Splittergruppen zu einen wusste. Programmatisch jedoch hatte er der Münchener Parteizentrale nichts entgegenzusetzen. Leider wird das Missverhältnis zwischen Berlin und München, zwischen Gauleiter Goebbels und dem immer wieder an ihm vorbei agierenden Parteichef Hitler nicht klar ausgelotet. Die Rolle von Goebbels' Konkurrenten Göring, Hitlers politischem Statthalter, wird zwar gelegentlich erwähnt, seine Bestimmung im Berlin vor 1933 bleibt jedoch nebulös.

    So erscheint Goebbels' Berlin als eine Stadt des pausenlosen Aktivismus, der SA-Aufmärsche und Saalschlachten, der antisemitischen Gewalttaten und pausenlosen Kampfreden im Sportpalast und anderswo. Der Goebbels-Mitarbeiter Eugen Hadamovsky begründete die Rolle der Gewalt in der Politik so:

    ""Propaganda und Gewalt sind niemals absolute Gegensätze. Die Gewaltanwendung kann ein Teil der Propaganda sein. Die wirksamste Kraft der Massenkundgebung ist jede sinnfällig werdende Form von Machtäußerung, also zunächst die Zahl der Teilnehmer, der Umfang der Kundgebung, Bewaffnete, Uniformierte, Waffen in jeder Form. Alle Macht, ja mehr Macht, als vielleicht vorhanden ist, muss gezeigt und demonstriert werden."

    Der Autor lässt die Berliner SA vor dem Auge des Lesers immer wieder und immer brutaler gegen Rotfrontkämpferbund, KPD und Juden agieren, lässt ihn aber über die inneren Beweggründe der SA im Unklaren. Weder deren Führung noch das Fußvolk gewinnen auf den 500 Seiten Profil. Hier gerät das Buch wieder zu narrativ, zu wenig analytisch. Den Ausbau der politischen Dimension der NSDAP in Berlin zwischen den frühen 20er Jahren und 1933 beschreibt der Autor jedoch ausführlich, ihr Lavieren zwischen Legalität und SA-Gewaltakten, die Bekämpfung des sozialrevolutionären Parteiflügels um die Strasser-Brüder. Aber auch das Verhältnis zwischen SA und NSDAP bleibt unklar. Spannungen werden erwähnt, aber nicht näher erläutert.

    Wenn es jedoch um Zahlen geht, um Wahlergebnisse in verschiedenen Berliner Stadtbezirken, um die wachsende politische Bedeutung der NSDAP in Berlin und im Reich, dann ist das Buch übervoll und präzise. Dabei wird deutlich, dass die Wahlergebnisse der Nazis in Berlin immer ein wenig unter dem Reichsdurchschnitt liegen, jedoch reicht diese geringe Differenz nicht aus, von einem breiten Widerstand zu sprechen. Auch Berlin verfällt in den späten 20ern und frühen 30ern den Nazis.

    "Ich bin zu stolz, als dass ich in ehemalige Schlösser hineingehe, das tu ich nicht, das neue Reich wird sich seine Räume und seine Bauten selber erstellen. Ich gehe nicht in Schlösser!

    Ich habe nun den Ehrgeiz, dem neuen deutschen Volksreich Bauten hinzustellen, deren es sich auch diesen anderen ehemaligen fürstlichen Werken gegenüber nicht zu schämen hat. Vor allem aber: Ich will diese Stadt wirklich zu einer Repräsentantin der deutschen Nation machen!"

    Mit dieser Rede auf dem Richtfest der Neuen Reichskanzlei 1938 machte Adolf Hitler klar, worauf es ihm beim Bauen in der Reichshauptstadt ankam: Nicht länger die jüdischen Kaufhäuser, sondern die Regierungsbauten sollten das moderne Gesicht Berlins prägen. Kein Zweifel sollte mehr daran bleiben, dass es Berlin mit London, Paris und Wien aufnehmen könne. Außerdem, so Hitler, sei sein Berlin bedeutungsmäßig ohnehin nur mit Rom und Babylon vergleichbar. Architektur als gebautes Selbstbewusstsein.

    Schon kurz nach der Machtübernahme kümmerte sich Hitler intensiv darum, Berlin seinen architektonischen Stempel aufzudrücken. Der verhinderte Architekt Hitler hatte dafür sehr konkrete Pläne im Kopf: Eine Nord-Süd-Achse sollte geschlagen werden, ein gigantischer Triumphbogen gebaut, Gedenkhallen, monumentale Ministerien, Parteigebäude, Museen, eine Versammlungshalle für 250.000 Menschen. 20 Jahre lang sollten jährlich 60 Millionen Reichsmark in Berlin verbaut werden - ein gigantisches Investitionsprogramm. "Die Berliner Herren zeigten sich begeistert", konstatiert der Autor, der Hitler einige Kompetenz in architektonischen Fragen zuspricht, wenn auch weder Maß noch Geschmack.

    Die Genehmigungsverfahren verliefen sehr schnell: Hitler genehmigte immer sofort. In Albert Speer sollte er bald seinen kongenialen Baumeister finden. Wenn andere Bauten auch länger dauerten oder uns ihre Verwirklichung ganz erspart blieben, in den Anlagen für die Olympischen Spiele 1936 konnte sich das Dritte Reich erstmals architektonisch repräsentieren. Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess würdigte dies auf dem Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg 1936.

    "Niemals wären die Olympischen Spiele nach Deutschland gelegt worden, wenn die Abstimmung über ihren Ort stattgefunden hätte, nachdem wir an der Macht waren. Ebenso bedeutungsvoll war aber, dass der Zeitpunkt der Spiele nicht kurz nach der Machtübernahme lag. Und wir hätten ja auch niemals mit einem Reichssportfeld wie dem jetzigen aufwarten können, einem Sportforum, das dem nationalsozialistischen Gestaltungs- und Kulturwillen Ausdruck verleiht, weil uns einfach die Zeit gefehlt hätte, es zu bauen."

    Der Band "Die missbrauchte Hauptstadt. Hitler und Berlin" ist zwar keine Mogelpackung, aber er weckt im Titel falsche Erwartungen. So nehmen die Jahre nach 1933 gerade einmal 70 Seiten ein. Zuvor geht es aber über 400 Seiten um den Kampf der Nationalsozialisten um die Macht in Deutschland - unter besonderer Berücksichtigung der schwierigen Berliner Verhältnisse. Und auch Hitlers Verhältnis zur Reichshauptstadt scheint dem Autor merkwürdig fremd geblieben zu sein.

    Die Schilderung der ersten Herrschaftsmonate der Nazis in Berlin jedoch mit einer exzessiv agierenden SA, mit 200 "wilden" Konzentrationslagern und Folterkellern, gerät ihm sehr lebendig. Dies und auch die minutiöse Rekonstruktion von Goebbels' Kampf um die Herzen der Berliner machen es doch zu einem lesenswerten Buch.


    Thomas Friedrich: Die missbrauchte Hauptstadt. Hitler und Berlin
    Propyläen Verlag, Berlin 2007
    623 Seiten, 26 Euro