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Hitler und die Deutschen - Volksgemeinschaft und Verbrechen

Eine zentrale Frage bewegt die Schau im Historischen Museum: Wie kam es, dass die NS-Diktatur bis in die letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges hinein so kompromisslos von den meisten Deutschen mitgetragen wurde?

Von Michael Kuhlmann | 14.10.2010
    Im Frühjahr 1933 durchlebte Joseph Goebbels Wochen der Euphorie. Für den nationalsozialistischen Propagandachef war die Machtübernahme allerdings nur ein erster Schritt.

    "Am 5. März hat das deutsche Volk mit einer überwältigenden Mehrheit der nationalen Revolution seinen Segen erteilt. Und von da an beginnt nun der legale Umformungsprozess des deutschen Volkes in allen Gebieten und in allen Einzelteilen."

    Beim Betrachten dieses Prozesses erlebte die Ausstellungskuratorin des Deutschen Historischen Museums, Dr. Simone Erpel, eine Überraschung:

    "Das war jetzt auch eine Erkenntnis, die ich beim Kuratieren hatte, wie schnell das eigentlich geht, dass sich Menschen oder die Bevölkerung an neue Machtsysteme, an neue Verhältnisse eigentlich anpassen! Das ist ja in einer rasenden Geschwindigkeit gegangen, bis 1934 war der Staat konsolidiert; und weite Teile der Gesellschaft haben da ja mitgewirkt; haben sich ja selbst gleichgeschaltet."

    Das Miteinander von Regime und Bevölkerung steht im Blickpunkt der Ausstellung Hitler und die Deutschen. Illustriert wird es anhand von 560 Exponaten – vor allem Zeugnissen der braunen Herrschaft.

    "Die Exponate waren eine wirkliche Herausforderung – wie können die inszeniert werden, wie werden sie kontextualisiert?"

    Denn die meisten Stücke sind durch und durch suggestiv. Die martialische SA-Standarte, die weihevollen NS-Wochensprüche – die finster-spießigen Blut-und-Boden-Gemälde – oder auch die vergoldete Mokkatasse mit Hakenkreuz. Aber die Kuratoren haben es geschafft, dass daraus gerade keine Pilgerstätte für Ewiggestrige geworden ist.

    Denn die zweifelhafte Aura der braunen Hinterlassenschaft wird in der Ausstellung sofort gebrochen – durch Zeugnisse vom allgegenwärtigen Terror der Diktatur, und auch von ihrer Profanität: Da zeigt ein Foto die Massenfabrikation von Hitlerbüsten, die dadurch alle Aura einbüßen. Ein anderes Bild zeigt das Reichsparteitagsgelände am Tag nach der Massenveranstaltung: übersät mit Müll. Der Betrachter kann aber lebhaft nachvollziehen, wie das gesamte öffentliche Leben ab 1933 vom Regime infiltriert wurde. Im Mittelpunkt dabei: die Person Adolf Hitler.

    "Er hat sich zu einem begnadeten Redner entwickelt – und hat es geschafft, sich selbst eine unanfechtbare Stellung innerhalb der Partei aufzubauen, der NSDAP, also die in eine Führerbewegung umzuorganisieren, am Anfang hat er sich ja selber als Trommler einer größeren Idee gesehen, und selber war er dann die Verkörperung."

    Das war er bereits lange, bevor er Reichskanzler wurde. Und schon 1932 stellte er klar, was er mit den Deutschen vorhatte.

    "Dieses Volk ist ein wilder Mustang! Und wer dieses Pferd zähmt, kann es auch allein reiten!"

    Wie gut das dem Diktator gelang, ist in der Ausstellung mit Händen zu greifen. Davon zeugt auch jener Unbekannte, der Hitler 1938 als Redner erlebte.

    "Diese Stimme! Ja, diese Stimme! Voll und tönend, mahnend. Keinem Deutschen fremd. Durch die Schar der Jungen und der Alten geht heiß bewegt ein Atmen! Es erfasst mich wie ein Sturm, seltsam und geheimnisvoll. Eine Macht rührt an die Seele, die uns wehrlos macht!"

    Diese Macht war allerdings vor allem inszeniert. Die Propaganda konnte nicht allein auf Hitlers tatsächliche Ausstrahlung bauen. Sie musste ihn gezielt vergöttern. 1941 tat das Robert Ley, der Chef der Deutschen Arbeitsfront.

    "Adolf Hitler ist der größte Staatsmann, den wir je hatten! Der größte Redner und Volks-Führer, den wir je hatten! Der am meisten weiß, am meisten kann, am fleißigsten ist, am kühnsten ist, am mutigsten ist, er ist der größte Feldherr, der größte Soldat, aber das alles macht ihn noch nicht aus! Das größte ist: Adolf Hitler, der Künstler!"

    Der notorische Alkoholiker Ley wurde in der Bevölkerung auch als "Reichstrunkenbold" verspottet. Nicht nur er war weit weniger beliebt als Hitler. Auch viele andere Vertreter der Partei. Aber die Diktatur schwächte das nicht, wie Simone Erpel erklärt – im Gegenteil:

    "Das hat ja oft funktioniert als Herrschaftsstrategie! Dass Dampf abgelassen wurde: 'Die Parteibonzen, was haben die sich jetzt da wieder überlegt, wenn das der Führer wüsste' – und ich denke, dass er über die eigentlichen Parteigänger einen viel größeren Sympathisantenkreis hatte; und er war ja spätestens seit den 30er Jahren nicht mehr nur der Parteiführer, sondern auch der Führer der Nation. Und ich denke, er ist eher in dieser Rolle wahrgenommen worden als in der Rolle des Parteiführers."

    So schrieben die "Volksgenossen" wahre Huldigungsadressen. Zu den bedrückendsten Teilen der Ausstellung gehört eine Sammlung von Briefen, die Hitler zu seinem Geburtstag 1932 erreichten: darunter Briefe von Kindern, illustriert mit Fotos, auf denen sie mit dem Hitlergruß posieren. Bedrückend schließlich auch die Räume, die sich der Diktatur im Krieg widmen. Geht man nach den Berichten des Sicherheitsdienstes der SS, dann blieben große Teile der Bevölkerung aber selbst nach der Kriegswende 1943 noch loyal. Auch die Patientinnen eines Krankenhauses, die ein Radioreporter besuchte, am Tag nach dem Anschlag vom 20. Juli 1944.

    "Als wir gestern Abend von dem Attentat auf den Führer hörten, waren wir zunächst starr vor Schrecken. Zum Bewusstsein kam uns nach einer kurzen Weile aber doch der erlösende Gedanke: Er lebt! Das machte uns alle so glücklich zu wissen, dass die göttliche Vorsehung ihn uns erhalten hatte! Unseren Führer!"

    "Dass der Führer lebt, ist für uns das wichtigste! Den feigen Anschlag auf den Führer beantwortet das deutsche Volk mit einem neuen Bekenntnis zu seinen nationalsozialistischen Idealen, Tugenden und Pflichten!"

    Die Folgen dieses Bekenntnisses sind in der Ausstellung zu sehen: Vernichtungskrieg und Völkermord. Simone Erpel:

    "Wir haben uns hier auch bemüht, im Ausland, speziell war das jetzt in Russland, aus St. Petersburg Exponate zu bekommen, die aus Majdanek stammen, die von sowjetischen Kriegsgefangenen stammen, aber auch aus der Gedenkstätte Theresienstadt ein Kinderalbum, also, wir wollen hier eben auch die Opfer würdigen."

    Dieses Element rundet die Ausstellung ab. Sie wäre unvollständig, würde sie etwa neben SS- und HJ-Uniformen nicht auch Häftlingskleidung aus den KZ zeigen. Oder den Rasierer eines unbekannten sowjetischen Kriegsgefangenen. Auf die Frage, wie die Menschheitskatastrophe Nationalsozialismus möglich war, kann diese Ausstellung zwar nur mit vielen Mosaiksteinen antworten. Aber sie führt eindringlich vor Augen, wie allgegenwärtig einmal in Deutschland die wohl menschenverachtendste Ideologie der Geschichte war.