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Hitlers Hand greift immer noch nach Israel

"Ich schreibe Bücher, die sehr viel Aufhebens verursachen" sagt Avraham Burg über sich selbst. Sein Buch "Hitler besiegen. Warum Israel sich endlich vom Holocaust lösen muss" ist vor zwei Jahren in Israel erschienen, nun liegt es auf Deutsch vor. Ein Buch, dass in Israel in der Tat für viel Aufhebens sorgte.

Von Peter Philipp | 21.12.2009
    "Wir sollten nicht länger seltsame Exponate in einem Reservat für Lebewesen sein, die von der Ausrottung bedroht sind; vielmehr müssen wir uns in die gesamte Menschheit integrieren, in der ein Verbrechen gegen das jüdische Volk selbstverständlich ein Verbrechen gegen die Menschheit ist. Es gibt keine separate jüdische Menschheit, und es darf sie nicht geben. Menschheit ist Menschheit, ohne Kompromisse und Ausnahmen. Nicht einmal für uns."

    Der 54-jährige Avraham Burg kommt aus religiösem Haus, der aus Deutschland stammende Vater, Josef Burg, war lange Jahre Mitglied verschiedener israelischer Regierungen und auch dem Sohn schien der Weg vorgezeichnet: Er machte rasch politische Karriere, wenn auch nicht in der nationalreligiösen Partei des Vaters, sondern in der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, und stieg bis zum Parlamentspräsidenten auf. Als unabhängiger Denker engagierte er sich in der Friedensbewegung und wurde der aktuellen Politik seines Landes zusehends überdrüssig. Avraham Burg ist heute sicher einer der pointiertesten Beobachter und Kritiker der Zustände in Israel.

    Eine zentrale Rolle nimmt hierbei der Holocaust ein. In seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch "Hitler besiegen" beklagt Burg, dass Israel sich übertrieben zum Holocaust in Bezug setze. Es empfinde sich als ewiges Opfer und fordere von der Welt Solidarität ein, obwohl es diese ja durchaus erhalte. Und er kritisiert, dass Völkermord anderswo – in Ruanda, Darfur oder einst in Armenien - nur allzu leicht ignoriert und verharmlost werde. Der Holocaust "gehöre den Juden", alle anderen Verbrechen dieser Art seien nicht vergleichbar. Diese egozentrische und selbst bemitleidende Haltung vergleicht Burg mit der in Deutschland vor dem Nationalsozialismus: Die resultierende Selbstgerechtigkeit berge die Gefahr, selbst zum Täter zu werden.

    Thesen, die in Israel unvermeidlich zu heftigen Anfeindungen führten. Sie auch in Deutsch zu publizieren, dürfte für manchen Kritiker erst recht wie eine weitere Provokation vorkommen. Besonders wenn der Autor aus der Allgegenwärtigkeit des Holocaust im israelischen Alltag die "Konfrontationsphilosophie" seines Landes ableitet, die in der Feststellung gipfelt: "Die ganze Welt ist gegen uns". Israel rechtfertige seine Politik gegenüber dem Ausland, vor allem aber gegenüber den Palästinensern, immer wieder mit der Vergangenheit. Dies bedeute aber auch: "60 Jahre nach seinem Selbstmord in Berlin greift Hitlers Hand immer noch nach uns".

    Die breite Öffentlichkeit in Israel teilt diese Meinung nicht: Die Frage, wo seine Kritiker denn irren, weist Burg aber zurück:

    "Das ist eine zu israelische Frage, weil sie zu direkt ist. Die Antwort auf solche Dinge ist komplexer. Was interessant war mit dem Buch: Vom ersten Moment an gab es wirklich heftige Kritik. Meist aber nicht an dem, was da geschrieben war, sondern an dem, der es geschrieben hatte. Viele haben es sich gespart, sich mit dem Inhalt des Buches auseinanderzusetzen."

    Dazu sind die Israelis viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, mit den Problemen des Alltags und der Pflege der althergebrachten Klischees über die eigene Geschichte und Befindlichkeit. Es ist gut, dass Burg den Israelis hier eine neue und andere Sichtweise bietet, die freilich hier und da bereits von den "post-zionistischen" Historikern veröffentlicht und von der israelischen Öffentlichkeit zu nächst angefeindet wurde.

    Burgs Buch ist nun aber doch ein Beststeller in Israel. Obwohl es manchen Israelis auch weiterhin schwerfällt, das Verhältnis zu Deutschland in einem ruhigeren Licht zu sehen.

    "In der Gefängniszelle der Menschheit ist nur noch ein Häftling aus den finsteren Zeiten übrig geblieben, und das ist Deutschland. Es gibt sicher manche, die das rechtfertigen und behaupten werden, Deutschland habe es für immer verdient. Andere verstehen vielleicht, dass es im Interesse der Menschheit ist, die Fesseln zwischen dem jüdischen Wächter und dem deutschen Häftling zu lösen."

    Burg hält es für richtig, dieses Buch, das bereits in fünf andere Sprachen übersetzt sei, auch in Deutsch herauszubringen:

    "Es gibt doch keinen Unterschied zwischen Hebräisch, Englisch oder Deutsch. Alles wird geschrieben und alles wird gesagt. Wenn man sagen würde: Ich schreibe das nicht, ich publiziere das nicht, weil das jemand missbrauchen könnte, dann gäbe man ihm doch ein Vetorecht gegen eigenen Entwicklungsprozess."

    Schwierig für Israelis dürfte vor allem Avraham Burgs Vergleich zwischen Israel und dem "militaristischen Deutschland" der Vergangenheit sein. Etwa, dass beide gleichermaßen ganze Bevölkerungsteile ausgrenzten: die einen die Juden, die anderen die Araber. Auch, dass in Deutschland Millionen Augen und Ohren gegenüber den Ereignissen verschlossen und heute in Israel niemand wissen will, was in den besetzten Gebieten passiert. Oder dass israelische Politiker allzu oft den Gegner von heute mit den Nazis gleichstellen und sogar in eine Sprache verfallen, die der der Nazis beängstigend nahe komme.

    Burg ist weit davon entfernt, für Vergessen zu plädieren. Aber er ist kritisch gegenüber der permanenten Instrumentalisierung des Holocaust zu politischen Zwecken. Verpasst habe Israel auch die Gelegenheit, Jerusalem zu einem internationalen Zentrum für Menschenrechte und gegen Völkermord und ähnliche Verbrechen zu machen. Als Opfer des Holocaust hätte Israel förmlich eine moralische Verpflichtung dazu gehabt. Stattdessen aber habe sich ein anti-arabischer Rassismus entwickelt, der bereits viel Schaden angerichtet hat und noch weiter Schaden anrichten dürfte.

    Eine Lösung kann es nach Meinung Burgs nur geben, wenn Israelis und Palästinenser mittel- bis langfristig in die EU eingegliedert werden, um einem größeren moralischen Rahmen anzugehören, zu dem natürlich auch Deutschland gehöre – so sehr das den einen oder anderen noch stören möge.

    Das mag Zukunftsmusik sein, aber für Avraham Burg war es ein Grund, sich von der Tagespolitik zurückzuziehen. Er will sich mit den größeren Zusammenhängen, dem größeren Bild, beschäftigen. Das Ergebnis ist ein wertvoller Beitrag zum besseren Verständnis des Staates Israels und seinem schwierigen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart.

    Wobei er fest überzeugt ist, dass auch hier der Weg zur Lösung über den Dialog führt. Dieser Dialog - selbst mit "Hamas" und anderen Radikalen in der arabischen Welt – müsse aber im Bereich der "Psychopolitik" beginnen, um beiden Seiten klar zu machen, mit welchen Traumata man konfrontiert ist:

    "Ich habe Ängste und Traumata und die Psychologie meines Gegners – des Palästinensers – basiert auch auf Ängsten und Traumata. Und ich muss seine Ängste berücksichtigen, wie er die meinen berücksichtigen muss. Nur zusammen können wir einander helfen, sie zu überwinden und in eine Welt zu gelangen ohne Ängste und Traumata."

    Über die ersten – durchweg positiven - Reaktionen auf das Buch in Deutschland freut sich Burg. Er würde es auch begrüßen, wenn deutsche Ansichten und Debatten auch in Israel mehr zu hören seien. Das sei in der modernen Welt doch üblich. Wenn jemand das missbrauchen wolle, bitte schön: Wer ihn hasse, der brauche das Buch ebenso wenig als Rechtfertigung wie die, die ihn liebten. Für alle anderen aber ist es sicher ein wertvoller Beitrag zum besseren Verständnis des Staates Israels und seinem schwierigen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart.

    Avraham Burg: Hitler besiegen. campus Verlag Frankfurt, 2009. 276 Seiten. ISBN 978-3-593-39056-7593-39056-7. Euro 22,90