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HIV inmitten der russischen Gesellschaft

Oft werden aber HIV-Erkrankte auch in Russland noch stigmatisiert. Auch deshalb beschäftigt sich die Internationale AIDS-Konferenz ab Sonntag vor allem mit der Ausbreitung und dem Umgang mit der Immunschwächekrankheit in Osteuropa.

Von Erik Albrecht | 16.07.2010
    Mittagspause bei der "Allrussischen Vereinigung von Menschen, die mit HIV leben". Alexej Burlak gießt Tee auf. Dann geht er zurück an seinen Schreibtisch. Burlak, selbst HIV-positiv, arbeitet an einem Pilotprojekt, das russlandweit Menschen mit dem Immunschwächevirus bei der Therapie unterstützen will. Denn immer noch ist HIV in Russland stark stigmatisiert.

    "Viele haben einfach Angst, dass das rauskommt. Dass der Arbeitgeber es erfährt, die Familie oder das Umfeld. 70 Prozent der HIV-Positiven haben panische Angst davor. Warum? Die Leute reden ja darüber. Und wenn man dann hört, dass man HIV-Positive am nächsten Laternenpfahl aufhängen sollte, dann werde ich meinen Kopf einziehen und alles tun, damit es niemand erfährt."

    "Patientenschule" heißt das neue Projekt. Das erste, für das die Vereinigung Geld von der russischen Regierung bekommen hat. Etwa eine Million Menschen sind in Russland infiziert. 2009 stieg die Zahl der HIV-Positiven um acht Prozent. Fast alle, die hier in der Nichtregierungsorganisation arbeiten, wissen aus eigener Erfahrung, was es heißt, in Russland mit dem Virus zu leben. Nur langsam ändert sich die Einstellung in der Bevölkerung dazu, sagt Alexej Burlak:

    "Es gibt immer noch Vorurteile, Mythen und Ängste. Da gibt es noch viel Arbeit. Aber dass sich schon viel verändert hat, spüre an mir selbst."
    Erst kürzlich musste Burlak zum Zahnarzt. Der behandelte ihn ohne Weiteres, auch nachdem er von seiner Infektion berichtet hatte.

    "Früher stand 'Achtung – HIV-positiv!' in großen roten Buchstaben auf meinem Krankblatt, sodass es sogar ein Blinder sehen konnte. Jetzt läuft alles viel normaler. Vor vier Jahren wollte ich zum Zahnarzt. Da hat er mich noch abgewiesen."
    Burlak wurde vor knapp zehn Jahren positiv getestet. Wie er sich angesteckt hat, möchte er nicht sagen – aus Angst, Vorurteile zu verstärken.

    "Sobald ich sage, dass ich mich so oder so angesteckt habe und ich einen ganz bestimmten Lebenswandeln hatte, werden die Leute sagen: 'Ich lebe ganz anders. Mir kann das nicht passieren.' Und so entstehen HIV-Infektionen."

    Drogenabhängige, Schwule, Prostituierte – noch immer denken viele Menschen in Russland, dass nur diese Randgruppen von HIV betroffen seien. Dabei ist das Virus längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

    Dennoch: 60 Prozent der Neuinfizierten sind in Russland Drogenabhängige. Burlaks Kollege etwa, Alexej Kropinow, hat sich wahrscheinlich durch dreckige Spritzen beim Drogenkonsum angesteckt. Die Zahl der Infektionen in diesem Bereich ist auch deshalb so hoch, weil es in Russland strafbar ist, saubere Spritzen an Fixer zu verteilen. Neben Aufklärung über den Schutz vor AIDS, ist auch für Kropinow der Kampf gegen die Stigmatisierung von HIV-Positiven besonders wichtig.

    "Solange man noch keine Medikamente nehmen muss, wird dem Virus viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das ist eine normale chronische Erkrankung, auch wenn sie ihre Besonderheiten hat. Wenn man in Therapie ist, kann man relativ lange damit leben. Menschen mit Diabetes müssen sich jeden Tag Spritzen setzen. Menschen mit HIV müssen Tabletten nehmen."

    Während im Westen Experten beklagen, dass immer mehr Menschen AIDS auf die leichte Schulter nehmen, ist Alexej Kropinow wichtig, die Krankheit zu einer Krankheit wie viele andere zu machen, sie "normal" zu machen, damit HIV-Positive in Russland besser damit leben können.