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Hochburg der Störche

Auf den ersten Blick ein ganz normales Dorf, Wiesen voller Pusteblumen und Schmetterlinge, in der Ferne Baumalleen, ganz weit oben am Himmel ein Flieger. Ein Kirchturm reckt sich in den blauen Himmel. Eine alte Scheune steht offen. Wäsche flattert im Frühlingswind. Ein Hund bellt und im Hintergrund kreischt eine Säge.

Von Tabea Weitz |
    Doch irgendetwas ist anders. Für ein Dorf der Größe Rühstädts sind die drei Kneipen verdächtig gut besucht, und immer wieder stehen Familien wie angewurzelt am Wegesrand und blicken in die Höhe. Der Grund sind die Vögel mit den langen roten Schnäbeln und den langen roten Beinen: Die Weißstörche. Ihretwegen sind die Radfahrer und Wanderer hergekommen:

    " Wir machen eine Radtour an der Elbe, und ja, sind wir hierher gekommen und das ist so ein kleiner Abstecher wegen der Störche. Da oben putzt sich ein Storch da in dem Nest. Das ist glaub ich ein Altstorch. Ich habe gerade überlegt, wo der schon überall war, das ist ja ganz beeindruckend eigentlich.

    Es sieht toll aus einfach, auch wenn man die so in der Natur sieht und die dann ihre Frösche fangen.

    Ich komme aus Kanada. Absolutely fantastisch. Einmal sind wir große Naturfreunde, und das hat uns ganz ausgezeichnet gefallen hier, ja. Haben alle Storchennester angeguckt, sind ein bisschen rumgelaufen, eine ganz einzigartige Atmosphäre hier.

    Wir waren schon mal hier, und mit meinem Mann und mein Mann ist nur leider verstorben und nun bin ich mit guten Freunden aus Bremen hier, und für die war es natürlich ein Ereignis hier. Die haben das noch gar nicht gesehen. So viele Störche hier, und dass es überall klappert und das Dorf so schön ist. "
    Die Gäste schätzen die Natürlichkeit des Ortes. Die Backsteinhäuser sind sehr gepflegt, das Kopfsteinpflaster ist ein wahres Schmuckstück. Es gibt ein altes, ehrwürdiges Fachwerkhaus. Schlangenartig windet sich die Hauptstraße durch den Ort, vorbei an einer schönen Backsteinkirche, deren grüne Tür einladend geöffnet ist.

    Doch so mancher Wanderer geht daran vorbei und deutet mit seinem Spazierstock schon auf das nächste Storchennest. Im Umkreis von 50 Metern gibt es hier vier Nester, und jedes ist ein Spektakel für sich: Der eine Storch steht, der andere sitzt, von einem sieht man den Kopf, vom anderen nur den Schnabel. Dort hinten stakst ein Adebar auf dem Nestrand entlang. Die meisten Störche sind allein im Nest und gucken völlig desinteressiert. Auf dem Feuerwehr- und Gemeindehaus sitzt ein Storch in einem auffallend kleinen Nest und putzt sich ausgiebig. Seine schwarzen Federn flattern ein bisschen im Wind. Es ist, als stehe die Zeit still. Den Grund dafür kennt Jürgen Herper. Er ist Bürgermeister der Gemeinde Rühstädt und Mitarbeiter der Naturwacht.

    " Der Ort Rühstädt gibt eigentlich noch das Bild, das er vor 60 Jahren schon gehabt hat. Nicht verschlafen, sondern etwas nostalgisch. Die Leute sind sehr konservativ hier und halten auch am Althergebrachten fest. Die Traditionen mit Bräuchen, Osterfeuer und Erntefeste, das wird immer noch hochgehalten und da ist auch die ganze Gemeinde dran beteiligt.

    Der Storchenverein ist natürlich hier in Rühstädt der Verein, der das kulturelle Leben auch bestimmt. Oder eben man setzt sich ganz einfach zusammen und spielt und klönt. Das ist schon angenehm, hier zu leben. "

    Rühstädt liegt in einer großen Schleife der Elbe, die den Ort fast kreisförmig umfließt. Hier gibt es riesige Überschwemmungsflächen - und die sind ein Gourmet-Restaurant für den Weißstorch.

    Mitte März beginnt hier die Storchensaison. Ungefähr 35 Brutpaare kommen jedes Jahr nach Rühstädt. In diesem Jahr sind es schon 28 Paare und einige horstbesetzende Einzelstörche, die noch auf einen Partner warten. Störche sind nicht ihrem Partner treu, sondern ihrem Horst. Jedes Jahr kehren sie zur gleichen Stelle zurück, und wenn das alte Nest dann schon besetzt ist, kann es zu dramatischen Kämpfen kommen. Für Kathleen Awe, Biologin und seit 11 Jahren Leiterin der Weißstorchausstellung des NABU-Landesverbandes, ist dies ein gewohntes Bild:

    " Dann fliegen die dann also an, mit Bein vor, und es gibt heftige Schnabelhiebe. Der Schwächere verlässt dann das Nest. Und wenn dann eben ein neuer Storch das Nest erobert hat, dann werden auch noch alle Eier, und auch wenn da Jungstörche drin sind, werden die Jungstörche rausgeschmissen und dann beginnen die wieder von vorne. Und der Partner bleibt eben bei dem Stärkeren. Das kommt hier relativ häufig vor, und das ist auch nicht so das Problem, wenn es bis Mitte Mai abgeschlossen ist. "

    Denn dann bleibt nach einem Monat Brutdauer und zwei Monaten Nestlingsdauer noch genügend Wachstumszeit für die Jungstörche.

    214 Einwohner zählt Rühstädt, und wenn die jungen Weißstörche geschlüpft sind, kommt auf jeden Einwohner zahlenmäßig ein Storch. Für viele Touristen ist das der einzige Grund für ihren Besuch in Rühstädt, doch vor Ort merken sie schnell, dass die Geschichte des Dorfes und seine historischen Bauten sich nicht unter den Störchen verstecken müssen. Bürgermeister Jürgen Herper:

    " Rühstädt ist ja ein sehr altes Dorf, also 1384 erwähnt, als die Familie von Quitzow diesen Ort gekauft hat, die ja im Mittelalter die Geschichte der Mark Brandenburg bestimmt hat, war ja die mächtigste Familie in der Mark, die hatte eines ihrer Hauptsitze hier in Rühstädt und ihre Hauptbegräbniskirche ist ebenfalls die Rühstädter Kirche. "

    Deshalb vermutet man, dass der Ortsname Rühstädt auf das Wort "Ruhestätte" zurückgeht, und sich auf die Bestattung der Familie von Quitzow in der lokalen Kirche bezieht.

    " Mit der Familie von Quitzow ist der Ort natürlich auch als bedeutender Ort aufgestiegen, weil die Rühstädter Elbfähre ein bedeutendes Geschäft war für die Bischöfe von Havelberg und für die Familie und ihren Reichtum haben sie auch in Rühstädt begründet.

    Und haben die Kirche natürlich sehr kostbar ausgestattet. Die Rühstädter Kirche hat eine komplette Ausstattung von etwa 1450. Mit Schnitzaltar und noch komplett erhaltenen Wandgemälden. Und nach dieser Familie von Quitzow, die eben das ganze Mittelalter hier in der Region bestimmt hat, ist ein neues Schloss gebaut worden, das Schloss der Familie von Jago, das jetzt noch steht, 1782 errichtet als spätbarocker Bau noch. Das ganze Ensemble ist unter Denkmalschutz gestellt. "

    Seit 1996 sind auch die Störche offiziell mit der Geschichte Rühstädts verbunden. Denn seit damals darf sich Rühstädt Europäisches Storchendorf nennen. In ganz Europa gibt es nur acht davon, und Rühstädt ist das einzige in Deutschland. Die Auszeichnung bekommt ein Ort, der viele Störche hat und auch etwas dafür tut, dass es so bleibt. Seit 30 Jahren kümmern sich die Rühstädter um die Störche und die Nahrungsgebiete. Nach der Wende wurde ein Naturschutzgebiet eingerichtet und das Besucherzentrum eröffnet. Auch einen Aussichtspunkt gibt es.

    Die Rühstädter sind stolze Storchennestbesitzer, und dazu gehört auch die regelmäßige Sanierung der Nistplätze. Denn die Horste können mit einem Gewicht von weit über einer Tonne, einem Durchmesser von drei Metern, und anderthalb Metern Höhe auch für das eigene Haus zum Verhängnis werden:

    " Sieht man von unten den Nestern immer nicht an, aber ist mitunter schon ein Problem für die Dächer hier, und da muss man schon gegensteuern. Und wenn die zu schwer werden, muss auch mal was abgetragen werden von den Horsten. Der höchste Horst den wir hier jemals hatten, der ist vor drei, nee vier Jahren abgestürzt, der hatte eine Höhe 2,20m und wog über 3 Tonnen."

    Die Störche sorgen deshalb indirekt dafür, dass die Rühstädter ihre Dächer immer in ausgezeichnetem technischen Zustand halten. Aber nicht jede Nisthilfe findet sofort einen rotschnabeligen Interessenten. So mancher Storch hat da seine eigenen Vorstellungen vom trauten Heim. Kathleen Awe:

    " Also wir haben etwa 40 Nisthilfen und immer über 30 Paare im Ort, also es gibt immer genügend Nisthilfen. Aber ein Storch war besonders Individualist und hat selbst gebaut. Und zwar auf dem Schornstein des Pfarrhauses, da gibt es zwei nebeneinander. Und er hat natürlich auf dem gebaut, wo die warme Luft rauskam, also wo das Heizungsrohr rauskam. Und der Pfarrer, der wollte doch noch mal warm duschen, vielleicht hätte er sogar auf die Heizung verzichtet, ich weiß es nicht. Jedenfalls dann wurde das Nest umgesetzt auf den zweiten Schornstein und wurde dann auch angenommen."

    Prinzipiell greifen die Rühstädter jedoch nicht in die Brutabläufe der Störche ein. Sie geben ihnen keine Namen, und päppeln schwache Jungtiere nicht auf. Der Rühstädter Respekt vor der Natur scheint auch auf die Touristen Einfluss zu nehmen. Sie fügen sich in das Dorfbild ein, fast nimmt man die Besucher gar nicht wahr. Störche besuchen, das ist kein Tourismus, sondern ein Lebensgefühl. Von völliger Ruhe kann man dennoch nicht dafür sorgt das laute Klappern der Adebars. Denn die eleganten Schreitvögel mit den schwachen Stimmbändern setzen bei der Kommunikation auf Fauchen und eben Klappern.

    " Klappern ist sowohl Begrüßung, also wenn der Partner kommt, dann wird heftig geklappert, und dann ist das also vor der Paarung häufig dass sie eben klappern. Selbst die Jungstörche klappern, bloß das ist ganz leise am Anfang, weil die Schnäbel, die sind noch nicht richtig ausgehärtet. Das ist so eine weiche Hornplatte, und da es ganz leise, das Klappern. Das löst aber den Würgereflex bei den Altstörchen aus, die dann das mitgebrachte Futter ins Nest würgen. Also Betteln ist auch Klappern. Und dann ist es aber auch, wenn fremde Altstörche rumfliegen oder so kurz vor einem Horstkampf, dann klappern die im Nest sitzenden Altstörche auch und sagen hier ist mein Revier, also es ist auch Abschreckung."

    Moment! Klappert der Storch nicht auch, wenn er die Menschenkinder bringt? Wenn in der alten Mär ein wenig Wahrheit steckt, müsste es in Rühstädt doch einen großen Kindersegen geben. Trifft das zu?

    " Ja und nein muss man sagen. Also wir würden uns schon mehr Kinder wünschen, aber es sind Gott sei Dank auch schon noch genügend Kinder da. Selbstverständlich haben wir das Problem, wie alle anderen Orte, die so abseits gelegen sind auch, dass viele Jungendliche unsere Orte verlassen und der Arbeit hinterherziehen. Und dem wollen wir eigentlich dadurch entgegensteuern, dass wir über touristische Angebote hier auch Arbeitsplätze schaffen, und dahingehend auch unsere Region entwickeln, dass auch ein Teil der Jugendlichen Arbeit finden hier vor Ort. "

    Die Bedeutung der Störche für den Tourismus und die Schaffung von Arbeitsplätzen ist allgegenwärtig. Auch der Gasthof Storchenhof wäre ohne die Rotschnäbel vermutlich wirtschaftlich nicht so gut aufgestellt. Den Gasthof gibt es schon seit 13 Jahren. Uwe Tilse ist der Lebenspartner der Wirtin.
    " Für uns sind die Störche ganz wichtig. Durch die Störche hat sich hier der Tourismus entwickelt, der sanfte Tourismus, auch der Fahrradtourismus durch den Elbradweg. Wir leben von und mit den Störchen, kann man sagen. [...]

    Das sind immer wieder nette Leute die hier kommen. (zu einem Gast rufend) Tschüss, machen Sie's gut, schauen Sie wieder rein!

    Die kommen von weit und von nah, es ist jung und alt, eigentlich quer durch. Auch beim Fahrradtourismus, von 7 bis 70 würde ich sagen fahren die Leute mit dem Fahrrad. Und hier dieser Tagestourismus, das sind auch ganze Familien oder auch ältere Leute mit Enkelkindern, das ist sehr bunt gemischt. "

    Im "Storchenhof" gibt es heute wieder frischen Kuchen und Brot aus dem Buschbackofen und frischen Prignitzer Spargel mit Schinken. Die Gäste sitzen unter den blauen Sonnenschirmen und haben die nahen Storchennester fest im Blick. Der Storch auf dem Feuerwehrhaus putzt sich noch immer. Auf der anderen Straßenseite ist im Schatten Keramikware ausgestellt. Hier töpfert Manuela Kunik. Die Störche bringen auch ihr die Kundschaft, und ihre Keramiktöpferei im Schafstall trägt den Namen nicht ohne historischen Grund:

    " Schafstall heißt Schafstall, weil das ganze Gebäude ein Gebäude vom ehemaligen Rittergut ist, und es war eben ein Schafstall. Zuerst haben die Quitzows hier gelebt, und zuletzt die von Jagos. Den Schafstall haben mein Mann und ich erworben und dann ein Teil davon ausgebaut.

    Ich mag die Störche sehr gerne, und ich erwarte sie auch immer schon sehnsüchtig. Unserer ist dieses Jahr ein bisschen später gekommen. Und das berührt mich schon. Ich will einfach, dass es denen gut geht.

    Ich hab Krüge, Tassen, Vasen, Schalen, Vogeltränken, Öllämpchen und Storcheneier auch mit einem Storch drauf. und meine Glasuren sind verschiedenfarbig, in der Regel Naturtöne."

    An der letzten Straßenbiegung im Ort steht eine große dicke Eiche, und zwei Spaziergänger sitzen in ihrem Schatten auf einer Bank und essen ein Eis. Eine dicke Hummel fliegt vorbei. Weiter hinten stehen zwei Radfahrer vor einer Holztafel. Solche Tafeln hängen vor vielen Häusern. Auf ihnen haben die Rühstädter für jedes Jahr akribisch vermerkt, wann ihre Hausstörche aus Afrika zurückkommen, wie viele Junge sie großziehen, und wann sie wieder abziehen.

    Soeben hat der Storch auf dem Feuerwehrhaus seine Federpflege abgeschlossen. Er sitzt versteinert und blickt in die Ferne. Ende August wird er wieder nach Afrika fliegen, getrennt von seinen Jungen, und 10.000 km von Rühstädt entfernt überwintern. Und im nächsten Jahr wird er vielleicht wieder auf demselben Horst sitzen, und auf die Rühstädter und ihre Gäste hinabblicken.