van Rossum: James Salter, Sie haben heute vor 80 Jahren Ihr Erdendasein unter dem Namen James Horowitz aufgenommen. Gibt es jenen James Horowitz heute noch?
Salter: Nein, nicht wirklich. Sehen Sie unter dem Namen James Salter lebe und schreibe ich jetzt schon seit langem. Er steht sozusagen für mein zweites Leben. Ich vermute, bloß mit archäologischen Mitteln wäre da was zu machen.
van Rossum: Warum haben Sie Ihren Namen geändert?
Salter: Nun, ich habe damals ein völlig neues Leben begonnen. Das war das eine. Und dann gab es noch einen ganz praktischen Grund: Ich war Pilot bei der Luftwaffe, ein Offizier. Und ich wollte sozusagen diese Karriere nicht mit rüberziehen, nicht anstecken mit der anderen, neuen Existenz eines Schriftstellers, der ich dann wurde.
van Rossum: Wenn man den Namen wechselt, wechselt man dann auch seine Identität.
Salter: Nein, es ist ein wenig so wie umziehen oder neue Kleider. Doch andererseits ist es natürlich auch eine Art Maske. Es gibt ja eine ganze Reihe von Schriftstellern, die sich einen neuen Namen gegeben haben - meistens aus dem selben Grund: nämlich um sich zu befreien, um das Gepäck ihres Lebens hinter sich zulassen und um frei die Bühne zu betreten, wie ein Schauspieler. Ich glaube, daran ist nichts Künstliches. Es befreit einen bis zu einem bestimmten Grad.
van Rossum: Nun waren Sie ja zwölf Jahre als Kampfpilot im Einsatz für die Army. Wenn Sie heute noch mal die Gelegenheit hätten, mit so einem Flugzeug selbst zu fliegen, wären Sie an Bord?
Salter: Ja, ich habe es kürzlich gemacht. Vor vielleicht anderthalb Jahren rief mich ein General an, den ich gar nicht kannte, der sich aber als großer Bewunderer meines Romans über die Fliegerei vorstellte. Und dieser General sagte: 'Sir, hätten Sie nicht Lust noch mal zu fliegen?' Klar, ich sagte 'ja'. Und dann haben wir ein Datum ausgemacht, und ich bin nach Fort Worth unten in Texas gefahren. Die Maschine war eine F 16 und sie hatte für Ausbildungszwecke einen zweiten Platz. Es war fabelhaft. Der Pilot war sehr nett. Und als wir in der Luft waren, fragte er, ob ich mal selbst fliegen wollte. Und ich habe natürlich 'ja' gesagt. Und er sagte: Na dann los! Übernehmen Sie den Knüppel. Zuerst habe ich nur eine paar Runden geflogen, und schließlich habe ich auch noch einen Loop gemacht. Ich habe das so oft in meinem Leben gemacht. Das verlernt man nicht. Das ist wie schwimmen. Und es war herrlich. Aber das Schönste für mich war, als der Pilot sagte: Das war großartig, großartig. Und da fühlte ich mich ein kleiner Junge, der in der Schule gelobt wurde.
van Rossum: Wer die jüngst erschienen Erzählungen von James Salter liest, wird auch mit archäologischen Mitteln keine Spur von einem tollkühnen Piloten finden, kein Spurenelement des Militärischen. Von James Horowitz scheint tatsächlich wenig geblieben. Stattdessen: reiner Salter. Und das heißt: hochfeine Prosa voller Spannung und Poesie. Das heißt aber auch: nichts ist wie es scheint. Und insofern wäre es dann für diesen Schriftsteller ganz normal, wenn auf einmal ein gediegener Vertreter des amerikanischen Mittelstandes sich als Zeitgenosse voller überraschender Abgründe und Seitenpfade herausstellt.
Etwa so, wie es in der Erzählung "Gabe" geschieht. Auf nur zehn Seiten enthüllt sich uns, dass ein glücklich verheirateter Mann ein leidenschaftliches und inniges homoerotisches Verhältnis zu einem so neurotischen wie hinreißenden Dichter unterhält. Doch vielleicht ist gar nicht so sehr die Enthüllung das Aufregende dabei, sondern vielmehr rauben die Umstände der Enthüllung einem den Atem. Es ist nämlich seine Frau, die an ihrem 31. Geburtstag von ihm verlangt, dass sexuelle Verhältnis mit dem anderen Mann aufzugeben. Als ob sie schon lange davon gewusst hätte. Das Erstaunliche an dieser wie aber auch an anderen Geschichten von Salter ist, dass wir nach zehn Seiten, die aus einer losen Folge von Szenen bestehen, meinen, man sei in die ganze Komplexität eines Lebensgefüges, in die Tiefenschichten eingedrungen.
Doch wenn man versucht, den "Plot" der Geschichte zusammenzufassen, dann hat man stets das Gefühl, man hätte das Entscheidende vergessen. Steht die Enthüllung im Vordergrund? Oder dass der Mann, die Tatsache bestreitet? Handelt die Geschichte vom gefälschten Einvernehmen des Ehepaares? Oder von der erzwungenen Trennung? Ganz nebenbei beschreibt Salter noch die Intimität der homoerotischen Beziehung. Etwa wenn er beschreibt wie sich der Ehemann in ein Gedicht des zukünftigen Geliebten verliebt - noch bevor er ihn kennengelernt hat.
"Ich habe das Gedicht gelesen, zumindest ein Drittel davon, in einem Buchladen im Village, im Stehen. Ich erinnere mich an diesen Nachmittag, bedeckt und still, und ich erinnere mich auch daran, dass ich fast aus mir heraustrat, aus der Person, die ich war, aus meiner üblichen Art, die Dinge zu sehen, aus meiner Betrachtung der - es gibt kein anderes Wort dafür - Tiefe des Lebens, und über alldem die Erregung der aufeinander folgenden Zeilen. Das Gedicht war eine Arie, zerrissen und ohne Abschluss. Sein Ton machte es zu etwas Besonderem - als wäre es aus dem Schattenreich heraus geschrieben. Da lag das Delta, da die brennenden Arme... , so begann es, und ich hatte sofort das Gefühl, dass es nicht um mündende Flüsse, sondern um Sehnsucht ging. Es enthüllte sich nur langsam, wie in einer Art Traum, Das Licht auf den Palmwedeln zitternd, mit Namen und Hauptwörtern, Neapel, abgenutzten Bänken, Luxor und den Königen, Saloniki, kleinen Wellen, die auf Stein schlugen. Es gab Wiederholungen, sogar einen Refrain. Zeilen, die unzusammenhängend erscheinen, werden allmählich Teil einer Beichte, in deren Zentrum Räume in der brennenden Augusthitze stehen, Räume, in denen etwas geschehen ist, offensichtlich etwas Sexuelles, aber das sind auch die leeren Strassen von Texas, Chausseen, vergessene Freunde, das Schlagen der Hände auf Gewehrriemen und gegabelte Banner, sonnengebleichte Autos, schmutzige Speisekarten mit Schreibfehlern, eine Art Scheiterhaufen, auf den er sein Leben gelegt hatte. Deshalb erschien er so rein - er hatte alles gegeben. Jeder lügt, was das eigene Leben betrifft, aber er hatte nicht gelogen. Er hatte ein großes Klagelied daraus gemacht, durch das sich die Erkenntnis zieht, dass du etwas gehabt hast, dass du es immer haben wirst, es aber nie haben kannst. "
van Rossum: Und fast möchte man glauben, jener Dichter stehe der Poetologie von James Salter ziemlich nahe. Auch wenn der keine Arien schreibt, aber "sein Ton macht es zu etwas Besonderem":
Salter: Wenn ich das Buch eines Schriftstellers lese, dann vernehme ich zuerst die Stimme. Da ist eine Stimme auf dem Papier, man kann sie erkennen, man kann sie hören. Und wenn es eine markante Stimme ist, etwa wie die Stimme von Saul Bellows, dann brauchen Sie nicht zu wissen, was auf dem Umschlag steht, dann wissen Sie nach einem Absatz, wer es geschrieben hat. Die Stimme kommt zuerst, und dann entscheidet sich, ob sie einem gefällt oder nicht, ob sie sich angezogen fühlen oder ob man gleichgültig bleibt. Allerdings muss ich leider sagen, nicht alle bedeutenden Schriftsteller haben eine Stimme, die mich anzieht. Nehmen Sie Milton. Das ist ein großer Dichter, aber man ist heilfroh, dass seine Gedichte nicht länger sind als sie sind.
van Rossum: Salters Geschichten handeln nicht davon, dass die Idylle der Anständigen eher ziemlich unanständig ist. Bei ihm erscheinen die Idylle, die Lebensrituale, die Routine der Lebensanordnung eher als der Rahmen für die Wonne, die Ekstase, die Pein der Unordnung, des Seitensprungs von sich selbst, der Alterität mitten im eigenen Herzen. Doch niemals wirkt seine Prosa deshalb selbst zerrissen oder außer Atem. Ganz im Gegenteil, und nicht zu Unrecht steht er deshalb im Rufe eines Poeten, als hielte die Schönheit seiner Sprache die Zerrissenheit des Realen zusammen.
Salter: Das sind alles ziemlich neue Geschichten. Vielleicht ist die älteste sieben Jahre alt, aber die meisten sind jüngeren Datums. Und diesmal habe ich mich darum bemüht, das Gewicht der Sprache, die Schönheit der Sprache auf ein Minimum zu reduzieren. Schönheit ist vielleicht nicht das richtige Wort, das klingt nach Kosmetik und Ähnlichem. Ich liebe einfach den Klang der Sprache, die Anmutung der Wörter. Das ist etwas, das mich von jeher angezogen hat und mich immer noch anzieht. Doch bei diesen Erzählungen habe ich einmal versucht, etwas anders vorzugehen. Es gibt einfach Sachen, da weiß man, das man das kann, und dann reizt es einen, etwas Neues auszuprobieren. Und so habe ich diesmal die Sprache etwas reduziert, um mich auf das Wesentliche, die Tiefe der Dinge, zu konzentrieren und mich ganz einfach kurz zu fassen. - Viele der jungen Autoren heute sind so unglaublich begabt im Umgang mit der Sprache, das es mir manchmal so vorkommt, Ihr Schreiben selbst sei die Story, Ihnen ginge es nur um das Schreiben selbst. Und das wollte ich nicht.
van Rossum: Und so finden zehn Erzählungen auf etwa 150 Buchseiten Platz, allerdings enthält jede dieser Erzählungen Stoff für einen umfangreichen Roman, ohne jemals überladen zu wirken. Jede dieser Geschichten ist auf ihre Art ungeheuer spannend. Wer einmal einen Text des amerikanischen Schriftstellers gelesen hat, weiß, dass jeden Moment etwas vollkommen Überraschendes passieren kann und dass deshalb alles bislang erfahrene seinen Sinn verändert. Als wollte Salter uns daran erinnern, was es heißt ein Mensch zu sein: Nämlich jemand, der in jedem Augenblick die Laufrichtung ändern kann und sich entscheidet ein anderer zu werden oder wenigstens etwas anders zu tun, als er sein Leben lang getan hat. Meistens werden wir zu Beginn in eine Situation geführt, in der das Leben wie ein vertrautes Wohnzimmer erscheint. Ostereier im Frühling, Dinner mir Freunden, Sommerferien am Meer, Konzerte in der Stadt, der Hund tollt im Regen, die Töchter spielen am Fluss - das Traben der Jahre im Galopp der Jahreszeiten: Bilder eines Familienalbums. Und so stellt er uns in der Erzählung "Letzte Nacht", die dem Band den Titel gegeben hat, den Helden vor:
"Walter Such war Übersetzer. Er schrieb gerne mit einem grünen Füllfederhalter, und er hatte die Gewohnheit, ihn nach jedem Satz leicht in die Luft zu erheben, fast als wäre seine Hand eine mechanische Vorrichtung. Er konnte Zeilen von Blok auf Russisch zitieren und dann Rilkes Übersetzung auf Deutsch wiedergeben, wobei er auf ihre Schönheit hinwies. Er war ein geselliger, aber manchmal auch empfindlicher Mann, der am Anfang ein wenig stotterte und der mit seiner Frau ein Leben führte, wie sie es mochten. Aber Marit, sein Frau, war krank. "
van Rossum: Unauffällig führt Salter uns im Laufe des Textes hinter das Photo, von dem er ausgeht. In dieser Geschichte kommt vielleicht die literarische Askese, die sich Salter mit diesen Erzählungen zur Aufgabe gemacht hat, am besten zum Ausdruck. Denn an jenem Abend, da wir dem Übersetzer Walter Such begegnen, will Marit ihrem Leben ein Ende setzen, um nicht weiter von der Krankheit zerfressen zu werden. Eine Freundin ist zugegen. Man geht noch einmal essen und genießt in einem Restaurant einen sündhaft teuren Rotwein.
"Sie war müde, als sie am Haus ankamen. Sie saßen zusammen im Wohnzimmer, als wären sie von einer großen Party zurückgekommen, und noch nicht ganz so weit schlafen zu gehen. Walter dachte an das, was vor ihnen lag, an das Licht, das im Kühlschrank angehen würde, wenn er die Tür öffnete. Die Nadel der Spitze war scharf, die Stahlspitze schräg angeschnitten und wie eine Rasierklinge. Er würde eine Vene damit treffen müssen. Er versuchte, nicht weiter daran zu denken. Er würde das irgendwie schaffen. Er wurde immer nervöser. "
van Rossum: Er wird es schaffen und doch - wie sollte es bei Salter anders sein? - kommt alles ganz anders als gedacht. Und es ist verblüffend, wie dieser Autor es schafft, den vermuteten Höhepunkt der Geschichte, in diesem Falle die 'Tötung auf Verlangen', bloß zur Episode zu machen, weit darüber hinauszugehen und am Ende erscheint das Leben abgründiger als der Tod. Und wenn am Ende der Geschichte nichts mehr so ist, wie es noch zehn Seiten zuvor erschien, dann bleiben nicht Geschlagene zurück, sondern Menschen, die nicht wirklich überrascht sind zu scheitern. Die Aufführung ihres Lebens hat sich erschöpft. Das Stück hat ihnen nichts mehr zubieten. Tausende Tage haben sie die Komödie des Menschen gespielt, und sind darüber Komödianten geworden. Sie verschwinden leicht und eilig. Als wäre James Salter ein genialer Photograph, dem das Kunststück gelingt auf ein und demselben Familienphoto die Idylle zu zeigen und zugleich die Schatten der Gespenster, die kaum wahrnehmbar von Anfang an durchs Bild liefen, sichtbar zu machen.
"Die Jahre ihrer Ehe waren im Rückblick gute Jahre gewesen. Myron Hirsch hatte ihr mehr als genug hinterlassen, um ihr Auskommen zu haben, und ihr eigener Erfolg kam noch dazu. Für eine Frau mit wenigen Talenten - stimmte das?, vielleicht verkaufte sie sich unter Wert - hatte sie es ziemlich weit gebracht. Sie erinnerte sich daran, wie es angefangen hatte. Sie erinnerte sich an die Bierflaschen, die hinten im Wagen herumrollten, als sie fünfzehn war und er sie jeden Morgen liebte und sie nicht wusste, ob ihr Leben begann oder ob sie dabei war, es wegzuwerfen, aber sie liebte ihn und würde es nie vergessen. "
van Rossum: Es gibt einen Satz des österreichischen Autors Hugo von Hofmannsthal, an den ich immer denken muss, wenn ich Texte von James Salter lese. Von Hofmannsthal hat gesagt: "Man muss die Tiefe verstecken. Wo? An der Oberfläche." Würden Sie das auch über Ihre Texte sagen.
Salter: Die Schriftsteller, die man liebt, das sind die Schriftsteller, die einem zuzuflüstern scheinen: 'Sie verstehen das, nicht wahr?' [O-Ton hoch an der Stelle]. Und wenn Sie gerade lesen und sich dabei sagen: 'Oh mein Gott, ist das nicht wunderbar, wie er oder sie eine bestimmte Sache ausgedrückt hat', dann sind Sie natürlich als Schriftsteller auch versucht, es so zu machen. Ich denke, es liegt ein großes Vergnügen darin, dass man versucht zu ahnen oder zu verstehen, was jenseits der Oberfläche liegt. - Sie haben Recht: einige der Erzählungen sind dieser Haltung verpflichtet. Sie sehen auf das, was die Oberfläche zu sein scheint, aber darunter kommen eine Menge Sachen zum Vorschein, die die glatte Oberfläche beunruhigen oder die jedenfalls Emotionen in Ihnen hervorrufen.
van Rossum: Man darf James Salter einen genialen Archäologen der Oberflächen nennen. Eine Teetasse ist eine Teetasse, und ein Sonnenuntergang ist auch nur ein Sonnenuntergang. Doch Salter versteht es, um drei Requisiten ein paar Personen zu gruppieren, so dass wir nach der Lektüre eines Absatzes bereits alte Bekannte zu treffen meinen, die sich dann allerdings rasch als Fremde entpuppen. Und nichts scheint uns plausibler als das. Man ahnt, dass jede dieser Erzählungen einen aufwändigen handwerklichen Prozess durchlaufen hat.
Salter: Ja, Sie müssen sich dauernd Notizen machen. Notizbücher sind im Grunde die Skizzenblöcke der Maler, in denen sie Studien machen, bevor sie an die Leinwand gehen. Und man sollte so bald wie möglich eine Wahrnehmung, die einen beschäftigt hat, zu Papier bringen. Sonst vergisst man die entscheidenden Details.
van Rossum: An Salters Prosa ließe sich ganz hervorragend das Leistungsvermögen der Literatur darstellen: die Welt sehen. Dieser Schriftsteller führt uns in eine beliebige Standardsituation des Realen - und in kurzer Zeit erleben wir, wie unter der dünnen Firniss des Gewöhnlichen eine komplexe Schattenwelt die Regie übernimmt. Und unvermeidlicherweise erkennen wir uns selbst wieder, denn die Lebenslügen sind keine Spezialität des amerikanischen Mittelstandes. Das könnte jetzt so klingen, als wäre Salter ein Moralist, der die bösen Spiele des Scheins entlarvt. Ach was! Das wir nicht "stimmen", das ist keine Frage, die man moralisch lösen kann. Es sieht vielmehr so aus, als entdeckte Salter in unseren Doppeldeutigkeiten einen Reichtum, auf dessen Höhe wir bloß noch nicht gelernt haben zu leben. Man könnte sogar in den von Salter freigelegten Abgründen eine Art verborgene Utopie vermuten, an die wir erst noch lernen müssen anzuschließen.
"Ich empfand die Ungerechtigkeit noch eine lange Zeit. Er hatte uns nur Freude gebracht, und wenn er sie besonders mir gebracht hatte, so verminderte das nicht, was er uns allen geschenkt hatte. Ich besaß ein par Fotos, die ich an einer bestimmten Stelle versteckte, und ich hatte natürlich die Gedichte. Ich verfolgte sein Leben aus der Ferne, so wie eine Frau es bei einem Mann tut, den sie nie heiraten konnte. Das schimmernde blaue Wasser glitt vorbei, als er seinen Weg zwischen den Inseln machte. Da war Ios, weiß im Dunst, wo, wie sie sagten, der Staub Homers lag."
van Rossum: Was werden Sie dieses Jahr am 10. Juni machen?
Salter: Dieses Jahr? Sie meinen da würde ich etwas Ausgefallenes machen? Ich weiß, das ist mein 80. Geburtstag. Letztes Jahr am 10. Juni war ich Chamonix mit einem deutschen Filmteam, die einen Film drehten - 'In der Wand' heißt er - nach einer Erzählung über das Klettern. Und wie es der Teufel wollte, habe ich ausgerechnet am 10 Juni einen Flug mit dem Paraglider gemacht. Aber so etwas mache in diesem Jahr nicht. Das ist schon eine wichtiger Meilenstein. Ich werde den Tag wohl mit meinen Kindern und ein paar Freunden verbringen. Wir machen eine kleine Party. Das ist es dann aber auch.
van Rossum: Und wir entbieten von hier aus unsere herzlichsten Wünsche für den großartigen Schriftsteller.
Salter: Nein, nicht wirklich. Sehen Sie unter dem Namen James Salter lebe und schreibe ich jetzt schon seit langem. Er steht sozusagen für mein zweites Leben. Ich vermute, bloß mit archäologischen Mitteln wäre da was zu machen.
van Rossum: Warum haben Sie Ihren Namen geändert?
Salter: Nun, ich habe damals ein völlig neues Leben begonnen. Das war das eine. Und dann gab es noch einen ganz praktischen Grund: Ich war Pilot bei der Luftwaffe, ein Offizier. Und ich wollte sozusagen diese Karriere nicht mit rüberziehen, nicht anstecken mit der anderen, neuen Existenz eines Schriftstellers, der ich dann wurde.
van Rossum: Wenn man den Namen wechselt, wechselt man dann auch seine Identität.
Salter: Nein, es ist ein wenig so wie umziehen oder neue Kleider. Doch andererseits ist es natürlich auch eine Art Maske. Es gibt ja eine ganze Reihe von Schriftstellern, die sich einen neuen Namen gegeben haben - meistens aus dem selben Grund: nämlich um sich zu befreien, um das Gepäck ihres Lebens hinter sich zulassen und um frei die Bühne zu betreten, wie ein Schauspieler. Ich glaube, daran ist nichts Künstliches. Es befreit einen bis zu einem bestimmten Grad.
van Rossum: Nun waren Sie ja zwölf Jahre als Kampfpilot im Einsatz für die Army. Wenn Sie heute noch mal die Gelegenheit hätten, mit so einem Flugzeug selbst zu fliegen, wären Sie an Bord?
Salter: Ja, ich habe es kürzlich gemacht. Vor vielleicht anderthalb Jahren rief mich ein General an, den ich gar nicht kannte, der sich aber als großer Bewunderer meines Romans über die Fliegerei vorstellte. Und dieser General sagte: 'Sir, hätten Sie nicht Lust noch mal zu fliegen?' Klar, ich sagte 'ja'. Und dann haben wir ein Datum ausgemacht, und ich bin nach Fort Worth unten in Texas gefahren. Die Maschine war eine F 16 und sie hatte für Ausbildungszwecke einen zweiten Platz. Es war fabelhaft. Der Pilot war sehr nett. Und als wir in der Luft waren, fragte er, ob ich mal selbst fliegen wollte. Und ich habe natürlich 'ja' gesagt. Und er sagte: Na dann los! Übernehmen Sie den Knüppel. Zuerst habe ich nur eine paar Runden geflogen, und schließlich habe ich auch noch einen Loop gemacht. Ich habe das so oft in meinem Leben gemacht. Das verlernt man nicht. Das ist wie schwimmen. Und es war herrlich. Aber das Schönste für mich war, als der Pilot sagte: Das war großartig, großartig. Und da fühlte ich mich ein kleiner Junge, der in der Schule gelobt wurde.
van Rossum: Wer die jüngst erschienen Erzählungen von James Salter liest, wird auch mit archäologischen Mitteln keine Spur von einem tollkühnen Piloten finden, kein Spurenelement des Militärischen. Von James Horowitz scheint tatsächlich wenig geblieben. Stattdessen: reiner Salter. Und das heißt: hochfeine Prosa voller Spannung und Poesie. Das heißt aber auch: nichts ist wie es scheint. Und insofern wäre es dann für diesen Schriftsteller ganz normal, wenn auf einmal ein gediegener Vertreter des amerikanischen Mittelstandes sich als Zeitgenosse voller überraschender Abgründe und Seitenpfade herausstellt.
Etwa so, wie es in der Erzählung "Gabe" geschieht. Auf nur zehn Seiten enthüllt sich uns, dass ein glücklich verheirateter Mann ein leidenschaftliches und inniges homoerotisches Verhältnis zu einem so neurotischen wie hinreißenden Dichter unterhält. Doch vielleicht ist gar nicht so sehr die Enthüllung das Aufregende dabei, sondern vielmehr rauben die Umstände der Enthüllung einem den Atem. Es ist nämlich seine Frau, die an ihrem 31. Geburtstag von ihm verlangt, dass sexuelle Verhältnis mit dem anderen Mann aufzugeben. Als ob sie schon lange davon gewusst hätte. Das Erstaunliche an dieser wie aber auch an anderen Geschichten von Salter ist, dass wir nach zehn Seiten, die aus einer losen Folge von Szenen bestehen, meinen, man sei in die ganze Komplexität eines Lebensgefüges, in die Tiefenschichten eingedrungen.
Doch wenn man versucht, den "Plot" der Geschichte zusammenzufassen, dann hat man stets das Gefühl, man hätte das Entscheidende vergessen. Steht die Enthüllung im Vordergrund? Oder dass der Mann, die Tatsache bestreitet? Handelt die Geschichte vom gefälschten Einvernehmen des Ehepaares? Oder von der erzwungenen Trennung? Ganz nebenbei beschreibt Salter noch die Intimität der homoerotischen Beziehung. Etwa wenn er beschreibt wie sich der Ehemann in ein Gedicht des zukünftigen Geliebten verliebt - noch bevor er ihn kennengelernt hat.
"Ich habe das Gedicht gelesen, zumindest ein Drittel davon, in einem Buchladen im Village, im Stehen. Ich erinnere mich an diesen Nachmittag, bedeckt und still, und ich erinnere mich auch daran, dass ich fast aus mir heraustrat, aus der Person, die ich war, aus meiner üblichen Art, die Dinge zu sehen, aus meiner Betrachtung der - es gibt kein anderes Wort dafür - Tiefe des Lebens, und über alldem die Erregung der aufeinander folgenden Zeilen. Das Gedicht war eine Arie, zerrissen und ohne Abschluss. Sein Ton machte es zu etwas Besonderem - als wäre es aus dem Schattenreich heraus geschrieben. Da lag das Delta, da die brennenden Arme... , so begann es, und ich hatte sofort das Gefühl, dass es nicht um mündende Flüsse, sondern um Sehnsucht ging. Es enthüllte sich nur langsam, wie in einer Art Traum, Das Licht auf den Palmwedeln zitternd, mit Namen und Hauptwörtern, Neapel, abgenutzten Bänken, Luxor und den Königen, Saloniki, kleinen Wellen, die auf Stein schlugen. Es gab Wiederholungen, sogar einen Refrain. Zeilen, die unzusammenhängend erscheinen, werden allmählich Teil einer Beichte, in deren Zentrum Räume in der brennenden Augusthitze stehen, Räume, in denen etwas geschehen ist, offensichtlich etwas Sexuelles, aber das sind auch die leeren Strassen von Texas, Chausseen, vergessene Freunde, das Schlagen der Hände auf Gewehrriemen und gegabelte Banner, sonnengebleichte Autos, schmutzige Speisekarten mit Schreibfehlern, eine Art Scheiterhaufen, auf den er sein Leben gelegt hatte. Deshalb erschien er so rein - er hatte alles gegeben. Jeder lügt, was das eigene Leben betrifft, aber er hatte nicht gelogen. Er hatte ein großes Klagelied daraus gemacht, durch das sich die Erkenntnis zieht, dass du etwas gehabt hast, dass du es immer haben wirst, es aber nie haben kannst. "
van Rossum: Und fast möchte man glauben, jener Dichter stehe der Poetologie von James Salter ziemlich nahe. Auch wenn der keine Arien schreibt, aber "sein Ton macht es zu etwas Besonderem":
Salter: Wenn ich das Buch eines Schriftstellers lese, dann vernehme ich zuerst die Stimme. Da ist eine Stimme auf dem Papier, man kann sie erkennen, man kann sie hören. Und wenn es eine markante Stimme ist, etwa wie die Stimme von Saul Bellows, dann brauchen Sie nicht zu wissen, was auf dem Umschlag steht, dann wissen Sie nach einem Absatz, wer es geschrieben hat. Die Stimme kommt zuerst, und dann entscheidet sich, ob sie einem gefällt oder nicht, ob sie sich angezogen fühlen oder ob man gleichgültig bleibt. Allerdings muss ich leider sagen, nicht alle bedeutenden Schriftsteller haben eine Stimme, die mich anzieht. Nehmen Sie Milton. Das ist ein großer Dichter, aber man ist heilfroh, dass seine Gedichte nicht länger sind als sie sind.
van Rossum: Salters Geschichten handeln nicht davon, dass die Idylle der Anständigen eher ziemlich unanständig ist. Bei ihm erscheinen die Idylle, die Lebensrituale, die Routine der Lebensanordnung eher als der Rahmen für die Wonne, die Ekstase, die Pein der Unordnung, des Seitensprungs von sich selbst, der Alterität mitten im eigenen Herzen. Doch niemals wirkt seine Prosa deshalb selbst zerrissen oder außer Atem. Ganz im Gegenteil, und nicht zu Unrecht steht er deshalb im Rufe eines Poeten, als hielte die Schönheit seiner Sprache die Zerrissenheit des Realen zusammen.
Salter: Das sind alles ziemlich neue Geschichten. Vielleicht ist die älteste sieben Jahre alt, aber die meisten sind jüngeren Datums. Und diesmal habe ich mich darum bemüht, das Gewicht der Sprache, die Schönheit der Sprache auf ein Minimum zu reduzieren. Schönheit ist vielleicht nicht das richtige Wort, das klingt nach Kosmetik und Ähnlichem. Ich liebe einfach den Klang der Sprache, die Anmutung der Wörter. Das ist etwas, das mich von jeher angezogen hat und mich immer noch anzieht. Doch bei diesen Erzählungen habe ich einmal versucht, etwas anders vorzugehen. Es gibt einfach Sachen, da weiß man, das man das kann, und dann reizt es einen, etwas Neues auszuprobieren. Und so habe ich diesmal die Sprache etwas reduziert, um mich auf das Wesentliche, die Tiefe der Dinge, zu konzentrieren und mich ganz einfach kurz zu fassen. - Viele der jungen Autoren heute sind so unglaublich begabt im Umgang mit der Sprache, das es mir manchmal so vorkommt, Ihr Schreiben selbst sei die Story, Ihnen ginge es nur um das Schreiben selbst. Und das wollte ich nicht.
van Rossum: Und so finden zehn Erzählungen auf etwa 150 Buchseiten Platz, allerdings enthält jede dieser Erzählungen Stoff für einen umfangreichen Roman, ohne jemals überladen zu wirken. Jede dieser Geschichten ist auf ihre Art ungeheuer spannend. Wer einmal einen Text des amerikanischen Schriftstellers gelesen hat, weiß, dass jeden Moment etwas vollkommen Überraschendes passieren kann und dass deshalb alles bislang erfahrene seinen Sinn verändert. Als wollte Salter uns daran erinnern, was es heißt ein Mensch zu sein: Nämlich jemand, der in jedem Augenblick die Laufrichtung ändern kann und sich entscheidet ein anderer zu werden oder wenigstens etwas anders zu tun, als er sein Leben lang getan hat. Meistens werden wir zu Beginn in eine Situation geführt, in der das Leben wie ein vertrautes Wohnzimmer erscheint. Ostereier im Frühling, Dinner mir Freunden, Sommerferien am Meer, Konzerte in der Stadt, der Hund tollt im Regen, die Töchter spielen am Fluss - das Traben der Jahre im Galopp der Jahreszeiten: Bilder eines Familienalbums. Und so stellt er uns in der Erzählung "Letzte Nacht", die dem Band den Titel gegeben hat, den Helden vor:
"Walter Such war Übersetzer. Er schrieb gerne mit einem grünen Füllfederhalter, und er hatte die Gewohnheit, ihn nach jedem Satz leicht in die Luft zu erheben, fast als wäre seine Hand eine mechanische Vorrichtung. Er konnte Zeilen von Blok auf Russisch zitieren und dann Rilkes Übersetzung auf Deutsch wiedergeben, wobei er auf ihre Schönheit hinwies. Er war ein geselliger, aber manchmal auch empfindlicher Mann, der am Anfang ein wenig stotterte und der mit seiner Frau ein Leben führte, wie sie es mochten. Aber Marit, sein Frau, war krank. "
van Rossum: Unauffällig führt Salter uns im Laufe des Textes hinter das Photo, von dem er ausgeht. In dieser Geschichte kommt vielleicht die literarische Askese, die sich Salter mit diesen Erzählungen zur Aufgabe gemacht hat, am besten zum Ausdruck. Denn an jenem Abend, da wir dem Übersetzer Walter Such begegnen, will Marit ihrem Leben ein Ende setzen, um nicht weiter von der Krankheit zerfressen zu werden. Eine Freundin ist zugegen. Man geht noch einmal essen und genießt in einem Restaurant einen sündhaft teuren Rotwein.
"Sie war müde, als sie am Haus ankamen. Sie saßen zusammen im Wohnzimmer, als wären sie von einer großen Party zurückgekommen, und noch nicht ganz so weit schlafen zu gehen. Walter dachte an das, was vor ihnen lag, an das Licht, das im Kühlschrank angehen würde, wenn er die Tür öffnete. Die Nadel der Spitze war scharf, die Stahlspitze schräg angeschnitten und wie eine Rasierklinge. Er würde eine Vene damit treffen müssen. Er versuchte, nicht weiter daran zu denken. Er würde das irgendwie schaffen. Er wurde immer nervöser. "
van Rossum: Er wird es schaffen und doch - wie sollte es bei Salter anders sein? - kommt alles ganz anders als gedacht. Und es ist verblüffend, wie dieser Autor es schafft, den vermuteten Höhepunkt der Geschichte, in diesem Falle die 'Tötung auf Verlangen', bloß zur Episode zu machen, weit darüber hinauszugehen und am Ende erscheint das Leben abgründiger als der Tod. Und wenn am Ende der Geschichte nichts mehr so ist, wie es noch zehn Seiten zuvor erschien, dann bleiben nicht Geschlagene zurück, sondern Menschen, die nicht wirklich überrascht sind zu scheitern. Die Aufführung ihres Lebens hat sich erschöpft. Das Stück hat ihnen nichts mehr zubieten. Tausende Tage haben sie die Komödie des Menschen gespielt, und sind darüber Komödianten geworden. Sie verschwinden leicht und eilig. Als wäre James Salter ein genialer Photograph, dem das Kunststück gelingt auf ein und demselben Familienphoto die Idylle zu zeigen und zugleich die Schatten der Gespenster, die kaum wahrnehmbar von Anfang an durchs Bild liefen, sichtbar zu machen.
"Die Jahre ihrer Ehe waren im Rückblick gute Jahre gewesen. Myron Hirsch hatte ihr mehr als genug hinterlassen, um ihr Auskommen zu haben, und ihr eigener Erfolg kam noch dazu. Für eine Frau mit wenigen Talenten - stimmte das?, vielleicht verkaufte sie sich unter Wert - hatte sie es ziemlich weit gebracht. Sie erinnerte sich daran, wie es angefangen hatte. Sie erinnerte sich an die Bierflaschen, die hinten im Wagen herumrollten, als sie fünfzehn war und er sie jeden Morgen liebte und sie nicht wusste, ob ihr Leben begann oder ob sie dabei war, es wegzuwerfen, aber sie liebte ihn und würde es nie vergessen. "
van Rossum: Es gibt einen Satz des österreichischen Autors Hugo von Hofmannsthal, an den ich immer denken muss, wenn ich Texte von James Salter lese. Von Hofmannsthal hat gesagt: "Man muss die Tiefe verstecken. Wo? An der Oberfläche." Würden Sie das auch über Ihre Texte sagen.
Salter: Die Schriftsteller, die man liebt, das sind die Schriftsteller, die einem zuzuflüstern scheinen: 'Sie verstehen das, nicht wahr?' [O-Ton hoch an der Stelle]. Und wenn Sie gerade lesen und sich dabei sagen: 'Oh mein Gott, ist das nicht wunderbar, wie er oder sie eine bestimmte Sache ausgedrückt hat', dann sind Sie natürlich als Schriftsteller auch versucht, es so zu machen. Ich denke, es liegt ein großes Vergnügen darin, dass man versucht zu ahnen oder zu verstehen, was jenseits der Oberfläche liegt. - Sie haben Recht: einige der Erzählungen sind dieser Haltung verpflichtet. Sie sehen auf das, was die Oberfläche zu sein scheint, aber darunter kommen eine Menge Sachen zum Vorschein, die die glatte Oberfläche beunruhigen oder die jedenfalls Emotionen in Ihnen hervorrufen.
van Rossum: Man darf James Salter einen genialen Archäologen der Oberflächen nennen. Eine Teetasse ist eine Teetasse, und ein Sonnenuntergang ist auch nur ein Sonnenuntergang. Doch Salter versteht es, um drei Requisiten ein paar Personen zu gruppieren, so dass wir nach der Lektüre eines Absatzes bereits alte Bekannte zu treffen meinen, die sich dann allerdings rasch als Fremde entpuppen. Und nichts scheint uns plausibler als das. Man ahnt, dass jede dieser Erzählungen einen aufwändigen handwerklichen Prozess durchlaufen hat.
Salter: Ja, Sie müssen sich dauernd Notizen machen. Notizbücher sind im Grunde die Skizzenblöcke der Maler, in denen sie Studien machen, bevor sie an die Leinwand gehen. Und man sollte so bald wie möglich eine Wahrnehmung, die einen beschäftigt hat, zu Papier bringen. Sonst vergisst man die entscheidenden Details.
van Rossum: An Salters Prosa ließe sich ganz hervorragend das Leistungsvermögen der Literatur darstellen: die Welt sehen. Dieser Schriftsteller führt uns in eine beliebige Standardsituation des Realen - und in kurzer Zeit erleben wir, wie unter der dünnen Firniss des Gewöhnlichen eine komplexe Schattenwelt die Regie übernimmt. Und unvermeidlicherweise erkennen wir uns selbst wieder, denn die Lebenslügen sind keine Spezialität des amerikanischen Mittelstandes. Das könnte jetzt so klingen, als wäre Salter ein Moralist, der die bösen Spiele des Scheins entlarvt. Ach was! Das wir nicht "stimmen", das ist keine Frage, die man moralisch lösen kann. Es sieht vielmehr so aus, als entdeckte Salter in unseren Doppeldeutigkeiten einen Reichtum, auf dessen Höhe wir bloß noch nicht gelernt haben zu leben. Man könnte sogar in den von Salter freigelegten Abgründen eine Art verborgene Utopie vermuten, an die wir erst noch lernen müssen anzuschließen.
"Ich empfand die Ungerechtigkeit noch eine lange Zeit. Er hatte uns nur Freude gebracht, und wenn er sie besonders mir gebracht hatte, so verminderte das nicht, was er uns allen geschenkt hatte. Ich besaß ein par Fotos, die ich an einer bestimmten Stelle versteckte, und ich hatte natürlich die Gedichte. Ich verfolgte sein Leben aus der Ferne, so wie eine Frau es bei einem Mann tut, den sie nie heiraten konnte. Das schimmernde blaue Wasser glitt vorbei, als er seinen Weg zwischen den Inseln machte. Da war Ios, weiß im Dunst, wo, wie sie sagten, der Staub Homers lag."
van Rossum: Was werden Sie dieses Jahr am 10. Juni machen?
Salter: Dieses Jahr? Sie meinen da würde ich etwas Ausgefallenes machen? Ich weiß, das ist mein 80. Geburtstag. Letztes Jahr am 10. Juni war ich Chamonix mit einem deutschen Filmteam, die einen Film drehten - 'In der Wand' heißt er - nach einer Erzählung über das Klettern. Und wie es der Teufel wollte, habe ich ausgerechnet am 10 Juni einen Flug mit dem Paraglider gemacht. Aber so etwas mache in diesem Jahr nicht. Das ist schon eine wichtiger Meilenstein. Ich werde den Tag wohl mit meinen Kindern und ein paar Freunden verbringen. Wir machen eine kleine Party. Das ist es dann aber auch.
van Rossum: Und wir entbieten von hier aus unsere herzlichsten Wünsche für den großartigen Schriftsteller.