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Hochzeit der Gegensätze

Virginia Woolf hat ein Prosawerk geschaffen, in dem sich anarchische Maskerade und Satire mit einem Höchstmaß an sinnlicher Genauigkeit verbanden. Sie revolutionierte das literarische Erzählen und führte die Erzählende selbst an die Grenzen.

Von Dorothea Dieckmann | 25.01.2007
    Ihren Essay über Virginia Woolf nannte die Wiener Autorin Hilde Spiel "Bildnis einer genialen Frau". Die Ambivalenz, die in dieser Kennzeichnung verborgen ist, prägte die große englische Schriftstellerin, die mit Männern wie Proust, Joyce und Musil zu den Lichtgestalten der ästhetischen Moderne gehört. Ihr Leben spannte einen Bogen zwischen dem viktorianischen Zeitalter und dem zweiten Weltkrieg, der eine ihrer Todesursachen wurde.

    Die erste Etappe, in der Virginia Stephen am 25. Januar 1882 in die große Patchworkfamilie zweier verwitweter Eltern hineingeboren wurde, hatte die Londoner Adresse Hyde Park Gate 22. Das Haus wurde nach dem frühen Tod der Mutter zum Trauerhaus, regiert von einem wehleidigen Tyrannen, der seinerseits sterben musste, damit die Zwanzigjährige ihre erste Befreiung erleben konnte.

    Die Stephen-Geschwister zogen in den Bohèmestadtteil Bloomsbury, wo die Schwestern Vanessa und Virginia, die weder Schule noch Universität besuchen durften, über ihre studierenden Brüder Thoby und Adrian zum Zentrum einer Elite junger Nonkonformisten wurden. Diese legendäre zweite Etappe und in Virginias späteren Worten "der schönste, der reizvollste, der romantischste Platz der Welt", wurde zum intellektuellen, erotischen und künstlerischen Experiment. 1910 etwa besichtigte ein Teil der Bloomsbury Group, schwarz geschminkt und kostümiert als Kaiser von Abessinien und Gefolge, ein Kriegschiff im Marinehafen und informierte später die Presse über den fatalen Irrtum. Woolfs Biographin Hermione Lee kommentiert:

    "Der Streich kombinierte alle möglichen Formen der Subversion: Verspottung des Empire, Infiltration der nationalen Verteidigung, Verhöhnung der Bürokratie, Transvestitismus und sexuelle Vieldeutigkeit - Adrian und Duncan wurden etwa um diese Zeit ein Liebespaar ... Die Quelle der größten Empörung war die Tatsache, dass einer der Abessinier eine Frau gewesen war."

    Eben jene Frau begann zu dieser Zeit mit der Schöpfung eines Prosawerks, in dem sich anarchische Maskerade und Satire mit einem Höchstmaß an sinnlicher Genauigkeit zu einer Verwandlungskunst verbanden, die das literarische Erzählen revolutionierte und die Erzählende selbst an die Grenzen des Mitteilbaren führte - und damit an die Grenzen des Lebbaren. Knapp dreißig war Virginia Stephen, als sie Leonard Woolf heiratete, knapp dreißig Jahre später ertränkte sie sich in einem Fluss bei dem Landhaus in Südengland, wo sich das Paar während der deutschen Bombenangriffe aufhielt.

    In dieser dritten Etappe war es vor allem die Ehe, der Halt in Liebe und Konvention, Respekt und Zusammenarbeit, der die stets an der "borderline" arbeitende Schriftstellerin am Leben erhielt. Mit vierzig schrieb sie an einen jungen Kollegen:

    "Ich meine, dass die Schönheit, die ich, wie Du sagst, manchmal erreiche, nur erreicht wird durch das Versagen, sie zu erreichen; indem man alle Feuersteine aneinander reibt; indem man sich dem stellt, was Demütigung sein muss - den Dingen, die man nicht tun kann ... Ich stimme Dir zu, dass man (wir, in unserer Generation) letztendlich auf die Erreichung der größeren Schönheit verzichten muss: die Schönheit, die aus der Vollkommenheit entsteht. ... Aber man muss verzichten, wenn das Buch fertig ist; nicht bevor es begonnen wurde. ... Ich frage mich nur, woher es kommt, dass ich, obwohl ich manchmal versuche, mich auf die Dinge zu beschränken, die ich gut tue, immer weiter und weiter gezogen werde ..., heraus aus diesem kleinen Kreis der Sicherheit, und weiter und weiter, zu den Strudeln, wo ich untergehe."

    Strudel, Wellen, Fließen, Tauchen, Ertrinken - Bilder des Wassers durchziehen Woolfs Schreiben in allen seinen Ausprägungen. Sie war Romancière, Kritikerin, politische Schriftstellerin, Essayistin, und sie war Lektorin und Verlegerin der von den Woolfs gegründeten Hogarth Press, die 1917 mit einer Handpresse im Wohnzimmer ihren Anfang nahm: Virginia setzte, Leonard druckte - Publikationen von Katherine Mansfield bis T.S.Eliot, Übersetzungen von Tschechow bis Rilke, und natürlich Virginias eigene Schriften. Die Unabhängigkeit gab ihr das Selbstbewusstsein, die einzige Frau in England zu sein, die schreiben konnte, was sie wollte. Nach den ersten beiden Romanen, die bei Duckworth erschienen, wurden "Jacobs Raum" und "Mrs. Dalloway" in der Hogarth Press zu Erfolgen, und das trotz ihrer experimentellen Kühnheit. Immer wieder hat Virginia Woolf reflektiert, worin das Neue dieser Literatur bestand:

    "Obwohl das alles noch kaum sichtbar am Rand des Horizonts erscheint, kann man sich vorstellen, dass der künftige Autor den Umfang seines Interesses ... ausdehnen wird: die Macht der Musik, die Wirkung der Silhouette eines Baums oder des Farbenspiels, die Gefühle, die Massen in uns erregen, den dunklen Schrecken oder den Hass, der uns ... so irrational überfällt, das Vergnügen an der Bewegung, den Wein und den Rausch. Jeder Augenblick ist der Treffpunkt einer außerordentlichen Zahl von Wahrnehmungen, die bisher noch nicht zur Sprache gebracht worden sind. Das Leben jedenfalls ist immer viel reicher als wir, die wir versuchen, ihm Ausdruck zu geben."

    In ihren späten autobiographischen Aufzeichnungen und Vorträgen trifft die persönliche Introspektion auf die grundlegenden Begriffe der Moderne - die Gegenwart der Erinnerung, die Erfahrung des Schocks und die szenische Verdichtung als Schreibimpuls, den sie in den Eindruck fasste, ...

    "... dass wir versiegelte Schiffe sind, die auf etwas dahin treiben, was man der Einfachheit halber Realität nennt; und in gewissen Momenten springt diese Siegelmasse, und herein strömt die Realität, diese Szenen - und wieso überleben sie Jahr für Jahr, ohne Schaden zu nehmen, wenn sie nicht aus etwas verhältnismäßig Dauerhaftem beständen?"

    Damit ist eine Literatur entworfen, die sich sowohl von den gesellschaftlichen Schranken als auch von denen des einzelnen Ich befreit. Folgt man Virginia Woolfs theoretischen und literarischen Versuchen, die Wirklichkeit auf der Höhe ihrer Zeit zu definieren und daraus die Zukunft des Romans zu entwickeln - jener Kannibale, wie sie schrieb, der schon so viele Kunstformen verschlungen hat -, so nimmt sich die Entwicklung der Erzählkunst nach dem zweiten Weltkrieg insgesamt wie ein Rückschritt ins 19. Jahrhundert aus. Zugleich wird verständlich, warum die Erweiterung der Wahrnehmung ins Unbewusste und die daraus folgende, kontrollierte Entgrenzung der Sprache die Autorin in jene Strudel führte, in denen sie mit jedem Buch erneut unterzugehen drohte.

    Aus ihren Romanen - vom ersten, "Die Fahrt hinaus", bis zum letzten, "Zwischen den Akten" - spricht nicht Tiefsinn und Pathos, sondern eine unnachahmliche erzählerische Leichtigkeit; doch diese Anstrengung führte nach jedem Abschluss in den Zusammenbruch. Man hat die Nähe dieser poetischen Empfindlichkeit zum Wahn pathologisch als Schizophrenie interpretiert und diese später als Resultat des frühen Missbrauchs durch ihren älteren Stiefbruder George, über den Woolf selbst Auskunft gab. Die Streitereien, die daraus entstanden, sagen weniger über die große Autorin als über plumpe Vereinnahmung und gehässige Abwehr, wenn es um Woolfs unübertroffen klugen, weitreichenden und hellsichtigen Feminismus geht. Die Grabenkämpfe werden andauern, solange ein Buch wie "Ein eigenes Zimmer" akut bleibt - ein Essay, der die Macht der Männer mit radikalem, ironischem Verstand analysiert und dann zu dem Schluss kommt:

    "Trotzdem, der allererste Satz, den ich hier hinschreiben würde, sagte ich, ... den Bogen mit der Überschrift 'Frauen und Literatur' zur Hand nehmend, ist, dass es für alle, die schreiben, tödlich ist, an ihr Geschlecht zu denken. Es ist tödlich, ein Mann oder eine Frau und nichts als das zu sein ... Und tödlich ist nicht metaphorisch gemeint; denn alles mit dieser bewussten Voreingenommenheit Geschriebene ist zum Tode verurteilt. Es hört auf, fruchtbar zu sein ... es kann in dem Geist anderer nicht wachsen. Eine Art Zusammenarbeit muss zwischen der Frau und dem Mann im Geist stattfinden, ehe die Kunst der Schöpfung vollbracht werden kann. Eine Art Hochzeit der Gegensätze muss vollzogen werden."

    In Virginia Woolfs Prosa wird diese Hochzeit der Gegensätze gefeiert - man kann es hören. Etwa im Klang der Schlusspassagen des vielstimmigen Romangesangs "Die Wellen", den Virginia Woolf fast zeitgleich mit der hyperbiographischen Travestie "Orlando" und dem sonatenförmigen Roman "Zum Leuchtturm" schrieb - dem utopischen Abgesang eines Schriftstellers auf die Sprache:

    "Mein Buch, vollgestopft mit Sätzen, ist auf den Boden gefallen. Es liegt unterm Tisch und wird von der Putzfrau weggefegt werden, wenn sie müde bei Tagesanbruch kommt und nach Papierfetzen Auschau hält. ... Wenn der Sturm über das Marschland fegt und ich unbeachtet im Graben liege, brauche ich keine Wörter. Nichts Säuberliches. Nichts, das mit allen Füßen auf dem Boden landet. Keine dieser Widerklänge und lieblichen Echos, die sich brechen und Nerv um Nerv in unserer Brust zum Klingen bringen, wilde Musik machen, falsche Sätze. Ich bin fertig mit den Sätzen."