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Höchster Gipfel der Karibik

Tropische Hitze, zirpende Grillen und leuchtend grüne Papageien begleiten die Bergsteiger. Der Aufstieg auf den 3098 Meter hohen Pico Duarte führt zwar in europäische Hochgebirgsstufen, ähnelt aber nur selten einer alpinen Bergtour. Er führt durch alle Klimazonen - von glühender Hitze bis in Eiseskälte.

Von Dagmar Gehm |
    Der lange Aufstieg beginnt im Gewächshaus. Tropische Schwüle legt sich wie ein Film auf die Haut, verwandelt Hemd und Hose in feuchte Lappen und lässt die hochalpine Bergausrüstung höchst lächerlich aussehen.

    Die ungewöhnliche Besteigung auf den 3098 Meter hohen Pico Duarte in der Dominikanischen Republik, majestätischer Mittelpunkt der 250 Kilometer langen Gebirgskette der Zentral-Kordilleren, führt zwar in europäische Hochgebirgsstufen, ähnelt jedoch nur selten einem alpinen Aufstieg.
    Am Vorabend hatte uns Tourplaner und Begleiter Rudi Baumann schon darauf eingestimmt:

    "Ich bin für die nächsten drei Tage euer Tourguide am Pico Duarte, dem höchsten Berg der Karibik. Wir werden dann morgen bei der ersten Hütte sein: La Compartición, das ist auf 2450 Meter. Erster Tag: Nachtlagern. Der zweite Tag wäre dann vorgesehen: Aufstieg zum Pico Duarte, das ist ungefähr 650 Höhenmeter Aufstieg und sechs Kilometer, eigentlich nur Gipfel hoch und Gipfel wieder herunter zur Hütte. Der dritte Tag wäre dann so, dass wir um acht Uhr morgens wieder von La Compartición von 2450 Metern auf nunmehr 2650 Meter hochsteigen und runtergehen bis zum Talort La Cienega."

    Der Österreicher lebt schon seit über zehn Jahren in der Dominikanischen Republik, die sich die Insel Hispaniola zu zwei Dritteln mit Haiti teilt, und organisiert Outdoor-Erlebnisse wie diese ausgefallene Bergtour. Am meisten begeistert ihn:

    "Die Vielfältigkeit des Landes: Ich mach seit 25 Jahren Mountainbiken, Wandern, Trekking, Canyoning, Kanufahren. Also ich habe eigentlich mein Hobby zum Beruf gemacht."

    Die Besteigung des Pico Duarte gilt als Höhepunkt und gleichzeitig auch als größte Herausforderung aller Outdoor-Erlebnisse. Konditionsstärke wird vorausgesetzt. Am nächsten Morgen bringt uns der Jeep zum Eingang des Nationalparks La Cienega, wo die Bergtour beginnt. Rudi macht uns nochmal Mut.
    "Bis jetzt hatte ich das Glück, immer alle meine Tourmitglieder hochzubringen auf den Pico Duarte, zum Gipfel. Am Pico Duarte scheiden sich auch manchmal die Geister. Ich habe auch schon junge Leute gehabt, die sportlich erscheinen, dann Probleme mit dem Anstieg haben, und andererseits hat es dann wieder Leute mit 60 Jahren, die gehen ihr langsames, bequemes Tempo und kommen hoch ohne Probleme."

    "Warum scheiden sich ausgerechnet am Pico Duarte die Geister?"

    "Das weiß ich nicht, das ist erstmal bedingt durch den langen Anstieg - es sind doch mindestens 1600 Meter Höhenunterschied, die man gehen muss, dann kommt die Luftfeuchtigkeit dazu, die Hitze hier, die tropische. Also wir haben jetzt hier auf 1100 Metern um die 25 Grad, und das ist man natürlich auch von Europa nicht unbedingt gewöhnt von den Bergen."

    Maulesel begleiten die Gruppe beim Aufstieg. Sie tragen Luftmatratzen, Schlafsäcke, Kühltaschen, Gaskocher, Proviant und manchmal auch ermattete Bergsteiger. Immerhin müssen wir einen gewaltigen Höhenunterschied von 2800 Meter mit Auf- und Abstieg bewältigen und insgesamt eine Strecke von 48 Kilometern zurücklegen.

    "Wir führen zusätzlich Reitmulis mit - wer konditionsschwach ist. Es gibt zwei Aufstiege, die relativ steil sind. Besser, die eine Steilstufe mit einem Reittier überwinden. Nachher macht es da wieder viel mehr Spaß, oben geht es da wieder eher eben dahin. Wir gehen jetzt durch Bambuswälder und Canawälder bis auf 1200 Meter, und nachher geht dann der Anstieg hoch bis auf 2650 Meter nach Aguita Fría. Das ist der höchste Punkt, den wir heute erreichen. Wir hören jetzt Grillen zirpen, und teilweise, wenn wir in den Wald gehen, hören wir auch Frösche, die Laubfrösche."

    "Durch die Regenfälle der letzten Tage haben wir jetzt natürlich das Problem, dass im unteren Abschnitt die Wege sehr schlammig sind. Weiter oben dann wird es steiniger, dann wird der Weg auch steiler, und das Wasser kann abrinnen."

    "Was wir da jetzt ab und zu hören, dieses Gekreische, das sind Papageien, Codores heißen die hier. Wer Angst hat in der Dom Rep, irgendwelche giftigen Tiere zu erleben, braucht sich keine Sorgen zu machen: Wir haben einige Schlangenarten, die in der Regel alle ungiftig sind. Wir haben drei verschiedene Boa-Arten und eine grüne Baumschlange, die auch ungiftig ist. Hier, auf dieser Wanderung, werden wir keinen Kontakt mit irgendwelchen giftigen Tieren bekommen."

    Wie aus einer anderen Zeit ragen Riesenfarne in den schmalen Pfad hinein, Kolibris flattern zwischen Bambus ähnlichen Rohren aus wildem Zuckerrohr. Lautes Kreischen ganzer Schwärme leuchtend grüner Papageien und das Pfeifen scheuer Todys - kleiner, grüner Vögel mit roten Schnäbeln - begleiten uns auf dem ersten Drittel des Weges. Dort sind Fauna und Flora am vielfältigsten, die Wärme am größten und auch das Staunen.

    Auf klapprigen Hängebrücken überqueren wir kleine Gebirgsbäche.

    "Wir sind jetzt am Quellfluss des Rio Yaque del Norte bei der Hütte Los tablones, ungefähr auf 1200 Metern Seehöhe. Das Wasser ist allerdings relativ frisch, wie man hier sieht, hat Trinkqualität, hat ungefähr 16 Grad."

    Dankbar legen wir eine Badepause ein, um in den kristallklaren Natur-Whirlpool zu tauchen. Doch haben wir noch einen weiten Weg vor uns und setzen bald den Aufstieg fort. Durch alle Vegetationsstufen und Klimazonen führt der Aufstieg - von glühender Hitze in Eiseskälte. Selbst erfahrene Alpinisten - wie Eberhard aus München - haben zu kämpfen. Auch für ihn ist die Besteigung des Pico Duarte im Vergleich zu den Bergtouren in den Alpen etwas ganz Besonderes:

    "Es ist anstrengender, zweifellos anstrengender. Ich denke, das macht erstmal die Hitze und zweitens vielleicht auch die erhöhte Luftfeuchtigkeit, die dann doch etwas mehr auf den Kreislauf geht als in den Alpen, wo es gewöhnlich doch kühler ist und wo ein frisches Lüfterl geht."

    "Da oben der Berg, das ist Aguita Fría, das ist die höchste Quelle der Karibik. Der Berg selber ist die Wetterscheide. Alles, was nach links weggeht, geht in die karibische See rein, alles, was rechts weggeht, wie zum Beispiel der Yaque del Norte, geht in den Atlantischen Ozean."

    Längst sind die Tropengewächse einem dichten Kiefernwald gewichen. Wie Mahnmale strecken sich verkohlte Stämme in den Himmel. Ein Blitz hat vor zwei Jahren eingeschlagen und ein riesiges Areal entzündet. Doch rasch nachwachsendes Jungholz wird die immense Zerstörung in ein paar Jahren gnädig verhüllen.

    In endlosen Serpentinen windet sich der enge, hochwandige Hohlweg - eine Jahrhunderte alte Verbindung, um Menschen und Güter auf Maultieren von West nach Ost zu befördern.

    Doch die Hoffnung, dass es sich auf dem Rücken eines Maultieres viel bequemer bergauf begeben lässt, erweist sich als trügerisch. Schmalbeinig bahnt es sich den Weg über Felsbrocken und Wurzeln durch die tiefe Lehmrinne des rutschigen Canyons. Doch die Mulis kennen den Weg aus dem Effeff und überhören geflissentlich die bangen Zurufe ihrer Reiter.

    Nach einer Weile wird selbst das Balancieren auf dem schwankenden Maulesel so mühsam, dass der Kampf um jeden Meter Höhe aus eigener Kraft dem unbequemen Ritt vorzuziehen ist. Zumindest war die Angst vor der Höhenangst unbegründet, da der schmale Weg zwar steil nach oben, aber nie an schroffem Abgrund entlang führt.

    Um sich die Zeit zu vertreiben und weil sie stolz auf ihr Land sind, singen die Guides für uns ihre Nationalhymne. Der Trekk bietet auch ein gutes Forum, um von Francisco, Marcelino, Julio Cesár und Rafael mehr aus ihrem Leben zu erfahren. Denn wenn sie nicht gerade für die Pico-Duarte-Tour gebraucht werden, arbeiten die stets gut gelaunten Begleiter als Bauern und pflanzen Yucca und Kürbisse auf diesem fruchtbaren, wohl hundert Millionen Jahre alten Vulkanboden an.
    Die Mulis Josefina, Paloma, Estefanio oder Ludovino gehören ihnen nicht. 15.000 Pesos für ein Maultier, das können sie sich nicht leisten, sagt Francisco, der fünf Kinder hat und sonst nur wenig. Mit der Bergtour können die Bauern ihre kargen Einkünfte gelegentlich ein bisschen aufbessern.

    Nach neun Stunden schweißtreibenden Aufstiegs haben wir es dann endlich geschafft. Wir genießen den schönsten Blick des Tages: Die grüne Berghütte "La Compartición". Mit Wellblechdach und einem einzigen großen Schlafraum ohne jegliches Mobiliar bietet sie zwar Schutz, doch wenig Gemütlichkeit. Riesige Schilder des Umweltministeriums mahnen, weder Müll zu hinterlassen noch laute Musik zu spielen.

    Zwei absurde Telefonzellen simulieren den Kontakt zur Außenwelt, doch sind sie schon lange außer Betrieb - genau wie der ausgetrocknete Ziehbrunnen. Noch einmal rappeln wir uns auf, um in der kalten Quelle tief unterhalb der Hütte zu baden. Währenddessen zaubern Francisco, Marcelino, Julio Cesár und Rafael aus den mitgeschleppten Lebensmitteln eine üppige Mahlzeit auf einem archaischen Feuerplatz.

    "Jetzt sind wir auf 2450 Metern, und die Hütte heißt La Compartición. Von hier sind es jetzt noch sechs Kilometer zum Pico Duarte und 656 Höhenmeter Aufstieg. Das machen wir dann morgen in der Früh."

    Es ist Abend in der Dominikanischen Republik. Schweigend vor Erschöpfung hocken wir auf Baumstämmen am Lagerfeuer und rösten Yuccawurzeln. Zwischen 100 und 150 Kilometer, doch gefühlte Lichtjahre entfernt, liegen die Strände am Atlantik und an der Karibischen See mit ihrem hohen Spaßfaktor. In der erhabenen Stille dieses kaum entdeckten Naturparadieses hier oben fühlen wir uns denen da unten haushoch überlegen. Zugegeben.

    Schnell bricht die Nacht herein und mit ihr die Kälte. Bis auf minus zwei Grad kühlt es bis zum Morgen ab. Nichts deutet mehr darauf hin, dass wir uns mitten in der Karibik befinden, auf der zweitgrößten Insel der Großen Antillen. Nur die angepflockten Maulesel scheint der Temperatursturz von 37 Grad binnen weniger Stunden im wahrsten Sinne des Wortes kalt zu lassen.
    Der nächste Morgen begrüßt ziemlich verfrorene Gestalten, denn durch die Fugen der Holzbretter an Wänden und Fußboden drang eisiger Wind in die Hütte. So wie Eberhard und Uta ist es auch den übrigen Bergsteigern ergangen:

    "Ich hab heute Nacht in erster Linie die Kälte gespürt, die Höhe war für mich sicher kein Problem."

    "Meine Nacht war kühl. Es war gegen null Grad mit Sicherheit. Das Wasser, das ich morgens zum Zähneputzen verwendet habe, das am Fußende meines Bettes stand, war kurz über dem Gefrierpunkt, hatte Eiskristalle drin."

    Der zweite Tag bringt das verdiente Gipfelglück. Knapp unter der Bergspitze werden die Kordilleren ihrem Beinamen "Karibische Alpen" endlich gerecht. Denn die Baumgrenze verläuft erst über 3000 Metern. Uta zieht einen Vergleich zu heimischen Bergtouren:

    "Die Alpen sind wesentlich einfacher zu gehen, man muss hier achtsamer sein bei auf jeden Schritt. Weil es einfach steiniger ist, weil immer zwischendurch ein kleines Hindernis wie ein Ast über den Weg kommt oder eine Pflanze mitten auf dem Weg. Wurzeln, also ja, man muss jeden Schritt abwägen. Es ist nicht so, dass es einfach Wege sind, wo man auch mal fünf Minuten nur in die Luft und die Umgebung gucken kann. In den Alpen kommt man wesentlich schneller voran. Das Tempo kann man hier nicht vorlegen."

    Endlich haben wir den Gipfel erreicht. Der Ausblick von 3098 Metern Höhe entschädigt für alle Strapazen. Selbst der erfahrene Bergsteiger Eberhard ist überwältigt.

    "Super, klasse, jetzt endlich - ah! Es war doch jetzt eine anstrengende Tour und kein Spaziergang, sondern das hat schon was in sich gehabt, doch. Ein tolles Gefühl! Dass es Berge dieser Art gibt, hätte ich ehrlich gesagt, nicht erwartet, auch die durchaus sehr anstrengend sind. Ich glaube, das wäre in den Alpen ein 4000er, was man von der Leistung her, was man hier mit 3000 hat machen müssen."

    Als Christoph Kolumbus 1492 die 76.000 qkm große Insel Hispaniola zum ersten Mal erblickte, urteilte der große Entdecker:

    "Das Schönste, was das menschliche Auge je gesehen hat."

    Neben einem Holzkreuz auf großen Granitblöcken steht die bronzene Büste von Juan Pablo Duarte. Eine Messingtafel ermahnt die Bergsteiger, das Gedächtnis des berühmten Dominikaners zu wahren und das Denkmal nicht zu zerkratzen. Der Mitbegründer der Republik hatte 1844 die Dominikanische Republik von der 22 Jahre langen Herrschaft der Haitianer befreit und wird heute als wichtigster Nationalheld verehrt.

    Sein Wahlspruch lautete: "Dios, Patria y Libertad" - Gott, Vaterland und Freiheit. Zumindest für die überwältigten Gipfelstürmer hat der Padre de Patria - der Vater des Vaterlands - die Dominikanische Republik ein zweites Mal befreit: von einem Image, das sie weiß Gott nicht verdient.
    Juan Pablo Duarte blickt den Bergbezwingern entgegen. Das grandiose Panorama der blauen Silhouetten umliegender Bergketten mit dem Zwillingsberg Loma La Pelona sieht er nicht. Wir können uns dagegen nicht satt sehen an dieser fantastischen Aussicht bis zum Atlantischen Ozean und weit über den Grenzkamm der Zentralkordilleren bis nach Haiti. Hier oben, vom Pico Duarte, dem höchsten Berg der Karibik.