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Höflichkeit

Bürgerschreck wollten sie einst sein, alle Normen und Konventionen brechen – die Achtundsechziger. Heute sind viele ihrer Nachfahren längst nicht mehr rot, höchstens noch grün, allemal liberal, vor allem aber pluralistisch, multikulturell und natürlich kosmopolitisch – und interessieren sich – erstaunlicherweise - für Höflichkeit. Der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho gibt dazu einen umfänglichen Sammelband heraus:

Hans-Martin Schönherr-Mann | 18.06.2003
    Höflichkeit ist ja ein auf den ersten Blick erstaunlich aktueller Begriff, was zunächst überrascht, weil man bei der Höflichkeit an Höfe denkt und die gehören ja nun weitgehend der Vergangenheit an. Nun läßt sich aber in historischer Perspektive auch sehr rasch zeigen, dass Höflichkeit keineswegs etwas zu tun hat mit der Etikette am Hof allein, sondern früh schon mit dem Aufbrechen dieser Etiketten, mit den Erfahrungen, die Autoren wie Michel de Montaigne, der Bürgermeister von Bordeaux von 1581 oder Giovanni della Casa machen, wenn sie auf Reisen gehen, dass nämlich andere Völker andere Sitten haben und dass es für einen Kosmopoliten mit einem gewissen Anspruch daher notwendig ist, sich in Höflichkeiten auszukennen.

    Im ersten von vier Teilen beschäftigt sich der Sammelband mit der Geschichte der Höflichkeit. Horst Wenzel analysiert die literarische Inszenierung von Herrschaftshandeln. Höflichkeit dient dabei vor allem, Tugenden vorzutäuschen: Versagte im Nibelungenlied der Burgunderfürst Gunther in der Hochzeitsnacht, ließ ihn seine Gattin Brunhild auch die ganze Nacht lang gefesselt an der Wand hängen, am Morgen gehen sie gemeinsam als Eheleute öffentlich zur Kirche. Es geht den Herausgebern aber nicht bloß um die Geschichte, sondern um Höflichkeit als Chance für die Gegenwart:

    Vor einem Jahr etwa ist ein hübscher Auslandsknigge erschienen, wo (. .) zusammen gefasst wird, was man in welchen Ländern tun dürfe und was man besser nicht tut, so dass man gleich die Chance hat von vornherein als ein höflicher, als ein zivilisierter Mensch aufzutreten. Höflichkeit ist in diesem Sinn so etwas wie ein Grundwort, ein Topos zivilisatorischer Kreativität, der uns ermöglicht auch in immer unübersichtlicheren Lagen, in denen wir mit viel Unerwartetem konfrontiert werden, Linien zu bewahren, Kontur zu bewahren, ohne sich deshalb allen Anforderungen, Konventionen und Traditionen bedingungslos unterwerfen zu müssen.

    Thomas Macho betitelt seine Einleitung mit "Höflichkeit als Sprache einer Weltgesellschaft". In der Linguistik wie in der Kulturgeschichte vermuten manche heute, dass die eigentliche Universalie der Menschen, also das, was alle Menschen verbindet, die Höflichkeit sei. Alle Menschen versuchen in ihren eigenen Gesellschaften auf ihre Art einem besonderen Ideal von Höflichkeit zu genügen. Diese universelle Perspektive könnte der Höflichkeit gerade im drohenden Konflikt der Kulturen kosmopolitische Bedeutung verleihen.

    Höflichkeit als Sprache einer Weltgesellschaft meint, es könnte der kleinste gemeinsame Nenner sein, der uns schließlich erlaubt, uns über die ökonomischen und politischen Implikationen des Globalisierungsprozesses hinaus auch so quasi in die menschlichen Umgangsformen ins 21. Jahrhundert zu retten. Höflichkeit ist in diesem Sinne auch ein Konzept, die ganzen Konfliktfelder, die seit Huntingtons Theorie vom Clash of Civilisations seit den großen neuen Kriegen in aller Munde sind, mit einem Gegenkonzept zu beantworten und zu sagen: es kommt jetzt nicht darauf an, sich die Kulturen vorzustellen wie Eisblöcke, die notgedrungen irgendwann aneinander schrammen oder gar kollidieren, sondern es käme eher darauf an, Künste des Ausweichens, des Manövrierens und des im rechten Moment aufeinander Zugehens zu üben, die in den Kulturen jeweils schon bewährt und entwickelt wurden und nun sich im globalen Maßstab bewähren.

    Neben der Sektion der historischen Beiträge bringt der Band deshalb die Kulturgeschichte auch mit der Soziolinguistik ins Gespräch. Welche unterschiedlichen Höflichkeitsstile gibt es in asiatischen, israelischen oder amerikanischen Familien? Wie unterscheidet sich Sprachliche Höflichkeit im Chinesischen, Japanischen und Englischen? Wie höflich verhalten sich Politiker bei Fernsehduellen?

    Trotzdem scheint Höflichkeit als Tugend zunächst viel unbedeutender als die christlichen Kardinaltugenden - Glaube, Liebe, Hoffnung – oder die antiken – Gerechtigkeit, Weisheit, Mut und Besonnenheit.

    Höflichkeit ist daher auch etwas, was mit der Ästhetik verwandt ist. Man kann von Höflichkeitsstilen tatsächlich sprechen und das ist ja eher ein ästhetischer Begriff. Und diese Höflichkeitsstile die schließen dann auf der anderen Seite auf sehr unterschiedliche Vorstellungen und Ideale von Persönlichkeiten.

    So entzieht sich Höflichkeit der großen Ethik mit ihren scharfen Gut-Böse-Unterscheidungen, ihren rigiden Imperativen, ihrer permanenten Forderung, dass sich das Individuum der Allgemeinheit unterzuordnen habe. Es geht Höflichkeit um die Frage nach der Gestaltung des Lebens und der Persönlichkeit. Inwieweit sich Höflichkeit gerade als ästhetische Erziehung erweist, dem geht beispielsweise Hans-Dieter Bahr im philosophischen Teil des Bandes nach. Höflichkeit soll denn auch nicht mit dem von Hans Küng propagierten Weltethos konkurrieren. Trotzdem avanciert Höflichkeit bei der Begegnung der Kulturen zu einer wichtigen Tugend:

    Höflichkeit (. .) ist die Sprache der Weltgesellschaft vielleicht höchstens insofern, als sie rechtzeitig lehrt, diese ganz unterschiedlichen Zugänge, Darstellungsformen, Inszenierungsformen mit zu berücksichtigen und in das eigene Verhalten auch mit zu integrieren, also nicht gleich ein globales Ethos auf christlicher Grundlage, sondern etwas bescheidener eine Haltung, die immer schon entwickelt wurde beim Verlassen der eigenen Kultur und bei der Begegnung mit fremden Kulturen.

    So begegnet Höflichkeit dem Weltethos denn weniger dort, wo es um allgemeine ethische Normen geht, als vielmehr dort, wo Höflichkeit unterschiedliche Haltungen und Konventionen miteinander vermitteln und derart Gespräche ermöglichen könnte. Kosmopolitische Höflichkeit verlangt, den diversen Höflichkeitsstilen nachzugehen und sie zu beachten.

    Aber verstellt sich nicht jener, der sich höflich gibt? Wie kommt man heute noch auf die Idee – lange nachdem die Achtundsechziger die Manipulation, Adorno und Horkheimer die Ideologie gebrandmarkt haben – soziale oder kulturelle Konflikte mit dem schönen Schein lösen zu wollen?

    Rousseau war eigentlich der erste der gesagt hat, Höflichkeit taugt nichts, wahre Herzensgüte macht es; wer die wahre Herzensgüte besitzt, braucht sich nicht um Höflichkeit zu bemühen - und dass Höflichkeit eine Verstellung eine Heuchelei, eine Maske ist, ist ja eine Vermutung, die bei den unterschiedlichsten Autoren immer wieder auftaucht und wo natürlich ein ethisches Gebot dazwischenfunkt, nämlich dieses Gebot der Aufrichtigkeit, der Wahrheitsliebe, der Unverstelltheit, der Authentizität, wie man das dann im 20. Jahrhundert nennen würde.

    Doch wenn man unter postmodernen Verhältnissen nicht mehr so genau unterscheiden kann, was Wahrheit und was Lüge ist, dann rückt Höflichkeit nicht mehr notorisch in die Nähe der Verfälschung. Höflichkeit entwickelt statt dessen einen ästhetischen Schein, der mich oder meine Position für andere akzeptabler macht, den sie dann leichter tolerieren, mit dem sie vielleicht leichter kooperieren könnten. Nicht allein, wie es sich Rousseau vorstellte, die Wahrhaftigkeit, auch die Höflichkeit - dafür plädiert das Buch - gehört als ästhetische Repräsentation in den Horizont der Ethik.