Freitag, 17. Mai 2024

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Hölderlin am dicken Turm

"Hölderlin isch ed verruggt gwä" stand jahrelang aufgesprüht auf dem gelb verputzten Mauerwerk des Tübinger Hölderlin-Turms, was soviel hieß wie: ganz so im klinischen Sinne psychotisch sei er wohl doch nicht gewesen. So kam die These des französischen Germanisten Pierre Bertaux, der Hölderlins Krankheit nur für Verstellung hielt, in die handliche Form einer Parole.

Von Christian Gampert | 03.07.2004
    In Heidelberg gibt es nun auch einen Hölderlin-Turm, es ist der sogenannte "Dicke Turm" des Heidelberger Schlosses; das Heidelberger Theater hat ihn mit einem Bühnenboden versehen und in schönem Halbrund ein Gerüst für die Zuschauer in die offene Ruine hineingebaut, man kann hinunterschauen auf die Altstadt und den Neckar und die Heiliggeistkirche, hinten im Dunst brütet die Rheinebene, in der ganz am Horizont, bei Mannheim, wo sie die "Räuber" uraufführten, jetzt eine Müllverbrennungsanlage die Szene beherrscht, und dann sitzt man also und sieht die Sonne untergehen und schaut einem gutmütigen älteren Herrn zu, Hölderlin in späten Jahren, der sich von Lotte Zimmer Wein bringen lässt und ins Erzählen gerät.

    Verrückt ist der keine Spur; er hat zwar ein Krankenbett aus dem Heidelberger Klinikum in seinem Turmzimmer stehen, aber er scheint ganz wach zu sein, er rezitiert scheinnaive Vierzeiler

    "Die Berge stehn bedecket mit den Bäumen,
    Und herrlich ist die Luft in offnen Räumen,
    Das weite Tal ist in der Welt gedehnet
    Und Turm und Haus an Hügeln angelehnet."

    und träumt sich dann zurück in seine Jugend, zu seinem Hyperion. Und Matthias Brenner, der Regisseur, setzt auf die Kraft der Poesie, er will auch theatralisch hinaus ins Offene, ins Freie, in die Natur, die für Hölderlin immer ein Glücksversprechen war:

    Ich bin hier oben auf dem Schloss gestanden und hab gesehen, was die hier vorhaben – und habe mich sozusagen sinnlich korrumpieren lassen und dachte, man muss das probieren, ob man gegen diese Kulisse bestehen kann, oder vielmehr mit dieser Kulisse, das ist ja die Frage.

    Die Inszenierung besteht dann hauptsächlich mit dem Panorama, wenngleich recht bald deutlich wird, worin das Problem des Ganzen besteht: der Text, den der Dramaturg und Autor Jürgen von Stenglin vorgelegt hat, ist ein Literatur-Spiel, ein Spiel der Literatur mit sich selbst. Und das heißt, der Autor berauscht sich am Hölderlinschen Sprachduktus, aber er schafft keine originär theatralischen Situationen. Er verteilt den Hyperion-Text, den Briefroman auf mehrere Erzähler, aber er schreibt keine Dialoge. Er bewältigt diese Verschränkung von Turm-Situation und Hyperions Griechenland, von hellenischer Weite, nur philologisch – dieses zwar virtuos, das sei voller Bewunderung und im Bewusstsein der Schwierigkeit des Stoffes gern zugegeben, aber Theater muss noch mal einen Kick mehr haben, Figuren, die sich aus sich selbst heraus erklären.

    Jürgen von Stenglin zitiert die Traumgestalten herbei: Lotte Zimmer, die patente, frische Wirtstochter, wird zu Diotima, natürlich im weißen Kleid; der alte Hölder schlüpft in die Erzähler-Rolle des Hyperion, und dann tauchen ein junger Hyperion und mit ihm, chorisch, zwei weitere Doppelgänger auf, von denen einer dann zum Sozialrevolutionär Alabanda mutiert und der andere die Scheltrede an die Deutschen rezitieren darf, freilich weniger klagend als vielmehr mit mildem Spott.

    Es gibt diese politische Dimension: jenen Hölderlin, der in der Nachfolge der französischen Revolution über die Gesellschaftsveränderung reflektierte und dann doch bei der Liebe Unterschlupf finden wollte, die er freilich nie erreichte. Und in der Natur, der herrlichen – ironischerweise ist das Heidelberger Schloss, das uns den Neckarblick ermöglicht, ja ausgerechnet von den Franzosen in Schutt und Asche gelegt worden, von den Truppen jenes Ancien Régime, das Hölderlin ein Jahrhundert später so verachten lernte.

    Matthias Brenner hat das alles mit dezentem Trommelwirbel, vorsichtigem Schwertgeklirr und flackernden Fackeln in Szene gesetzt – und kann doch nicht verhindern, dass die Figuren beständig im Kreis laufen. Wer sich auf den Hölderlinschen Sprachfluss einlässt, wer das einfach als rhapsodisches Spiel mit mehreren Sprechern begreift, der wird entrückt werden wie auf einem guten Trip. Wer auf der dramatischen Funktion des Theaters besteht, der wird enttäuscht. Hinter uns die Mauern des Schlosses, sprachlos und kalt. Vor uns Hyperion, ein Sinnsucher nicht ohne Pathos, und das am Ende nachtdunkle Neckartal.