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Hör-Tipps
3 Podcasts gegen graue Herbsttage

Leider viel zu oft das Standard-Format für Podcasts: Zwei Menschen unterhalten sich vor einem Mikrofon. Unser Podcast-Kritiker stellt deswegen Projekte vor, die aus dem langweiligen Mainstream ausbrechen und die Grenzen des Mediums Podcast verschieben: „Love + Radio“, „u+1f60c“ und „constellations“.

Von Sandro Schroeder | 24.09.2019
Die Seite des Podcasts "loveandradio.org" zeigt ein comicartiges Bild für die Folge "Mr. Jones Goes to Washington"
Die Seite des Podcasts "loveandradio.org" (Screenshot/loveandradio.org)
Egal, auf welche Podcast-Plattform ich gerade schaue: Zwei Menschen unterhalten sich, das ist immer noch das dominierende, das verbreiteste Podcast-Format. Das ist für sich genommen nicht schlimm. Gähn! Aber es ist auf Dauer eben doch ein bisschen langweilig und eintönig. Und im Herbst ist ja eh schon alles so grau in grau.
"Love + Radio": ein Podcast, der Grenzen verschiebt
"Love + Radio" ist für mich deswegen seit Jahren eine wohltuende Klang-Oase in der Podcast-Landschaft. Merkwürdig, mutig, so ganz anders im Klang und Konzept als der Rest der Podcast-Welt. Der Podcast ist wahnsinnig aufwendig produziert, fordert mit seinen Klanglandschaften die Ohren heraus. Und der eigentliche Podcaster, der Host, tritt nur für wenige Sekunden auf.
Im Mittelpunkt jeder Episode von "Love + Radio" stehen dann Menschen, die anders sind. Das sind Exzentriker, manchmal Freaks. Oder Menschen mit einzigartigen Erlebnissen, Nahtod-Erfahrungen zum Beispiel. Und diese Menschen erzählen ihre Geschichte, in Ich-Form, als Collage von Zitaten - jedes Mal auf eine wirklich atemberaubende, unverwechselbare Art und Weise produziert.
So geht’s beispielsweise in der Episode "Another Planet" um Clyde Casey, Straßenkünstler-Schrägstrich-Sicherheitsmann in Los Angeles. Der eine Messerstecherei einfach mit buntem Dadaismus stoppt.
Dieser Podcast fordert mit jeder Episode die Ohren neu heraus – und die eigenen Vorurteile gleich mit. Wer also nach anspruchsvoll produzierten, knallbunte Geschichten für den verregneten Herbstsonntag sucht, der wird bei sieben Staffeln "Love + Radio" definitiv fündig.
"u+1f60c": ein Podcast aus Song-Skizzen
Weitaus weniger fordernd, aber mindestens genauso innovativ finde ich diesen Podcast: "u+1f60c". Ja, das ist wirklich der Name – das ist die Tastenkombination für den Smiley mit dem entspannten, erleichterten Gesicht.
Gesprochen wird bei "u+1f60c" selten. Denn es ist ein Podcast, der aus kleinen Songs besteht – jede Episode ist eine Skizze, Musik gemischt mit Zitaten, Audioschnippseln. Ein kleines Nebenbei-Projekt des Produzenten und Künstlers James T. Green, der hauptberuflich eigentlich für das große Podcast-Label "Gimlet Media" arbeitet.
Es ist ein Podcast zum Loslassen, zum Überraschenlassen, zum Abtauchen in kleine Songuniversen. Denn in Zeiten der automatisierten Playlists ist es ja fast schon ein kleines Abenteuer, sich dem Musikgeschmack eines wildfremden Menschen zu ergeben. Das entwickelt eine ganz eigene Intimität - diesen unfertigen, rohen Skizzen eines Künstlers zuzuhören. Und es zeigt, dass im Medium Podcast gerade viele kreative Ideen umgesetzt werden, die wirklich ganz fernab liegen vom Muster: Zwei Menschen unterhalten sich vor einem Mikrofon.
"constellations": ein Klangkunst-Magazin
Wer es noch experimenteller mag, findet dann im Podcast "constellations" ein auditives Zuhause. Das ist im Prinzip ein Klangkunst-Magazin, das in seinem Podcast-Feed experimentelle Audios kuratiert. Die Bandbreite reicht von künstlich gebauten, aber natürlichen klingenden Landschaften bis zu Computerstimmen-gelesener Prosa.
Fasziniert und letztendlich gefesselt hat mich bei "constellations" am Ende aber gar nicht die Klangkunst allein, sondern die dazugehörigen persönlichen Essays. Wenn die Künstlerinnen und Künstler bei "constellations" dann nach ihrem Stück erzählen, was sie zu ihrem Stück bewogen hat, dann hat das wieder schon fast das Persönlich-Intime eines Gespräches unter Freunden.
Die Collagen bei "Love + Radio", die Musik-Skizzen bei "u+1f60c", die Klangkunst von "constellations"- am Ende zeigen alle drei Produktionen, dass Podcasts viel mehr und ganz anders als Gesprächsformate sein können, ohne dabei Intimität zu verlieren.