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Hörbuch: Richard Chaim Schneider: "Wir sind da - Juden in Deutschland nach 1945"

Die Geschichte der Juden im Nachkriegsdeutschland war lange Jahre kein Thema für den Buchmarkt. Erst im vergangenen Jahr legte der 1957 als Kind ungarischer Juden in München geborene Journalist Richard Chaim Schneider den ersten Versuch einer Gesamtdarstellung vor, die genau an dem Punkt beginnt, an dem das Wissen über die Geschichte der Juden in Deutschland im allgemeinen aufhört: am 8. Mai 1945. Schneider zeigt, wie es weiterging für die Überlebenden, wie sich Juden, einige freiwillig, viele unfreiwillig, wieder in Deutschland niederließen und wie sie sich am Aufbau beider deutscher Staaten beteiligten. Viele unterschiedliche Stimmen kommen in Schneiders Buch zu Wort - und so lag es nahe, das dem Buch zugrunde liegende Material für eine Hörbuchfassung zu verwenden, die jetzt im Münchener Hörverlag auf 5 CDs erschienen.

Helga Guthmann |
    Wenn es überhaupt eine Botschaft gibt, dann die, dass zunächst einmal die Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 ein Teil der deutschen Geschichte ist; das heißt, dass hier auch versucht wurde, deutsche Geschichte aus einem jüdischen Blickwinkel zu erzählen und damit natürlich auch eine völlig andere Perspektive auf die Geschichte nach 45 zu geben.

    Das Hörbuch von Richard Chaim Schneider ist keine Holocaust-Dokumentation. Es beginnt exakt am 8. Mai 1945. Erzählt wird von Lagern für "Displaced Persons" und vom Wirtschaftswunder, von Entnazifizierung und Wiedergutmachung, von Waffenlieferungen an Israel und linkem Antizionismus, von der DDR und der Wiedervereinigung, von alten und neuen Nazis. In chronologischer Reihenfolge entfaltet Richard Chaim Schneider die Facetten jüdischen Lebens und Überlebens in Deutschland von 1945 bis heute.

    Ich bin ein Kind jüdischer Überlebender, ich gehöre zur sog. zweiten Generation. Meine Generation wurde in Deutschland geboren oder wuchs zumindest hier auf. Unser Leben ist bestimmt von einem Ereignis, das vor unserer Geburt liegt, dem Holocaust.

    Ganz bewusst hat Richard Chaim Schneider hier die subjektive, die Ich-Form, gewählt. Und übrigens auch selber gesprochen. Diese Passagen, in der Ich- oder Wir-Form, die sich durch das gesamte Hörbuch ziehen, verleihen ihm Leben und führen uns die jüdische Perspektive immer wieder drastisch vor Augen.

    Ich war zehn Jahre alt, als der 6-Tage-Krieg ausbrach. Von der Schule nach Hause gekommen, hatte ich meinen Schulranzen noch nicht abgelegt, als meine Eltern mir sagten, dass es Krieg in Israel gäbe. Sie waren so still, so ernst, dass mir natürlich sofort klar war, was das bedeutete, wenn Israel verlöre, dann kämen wir alle wieder ins KZ.

    Neben subjektiven Passagen wie dieser lebt das Hörbuch außerdem von den vielen Interviews und Originalbeiträgen. Unter anderem von Ignatz Bubis, Ralph Giordano, Shimon Peres und Daniel Cohn-Bendit. Den wohl beeindruckendsten Beitrag hat allerdings kein großer Name geliefert, sondern Janina Libermann, die Mutter des Produzenten Janusch Kozminski.

    In München eröffnete sie einen Schnellimbiss und kochte für Deutsche. Die aber sahen die eintätowierte Nummer auf ihrem Unterarm und fragten: "Was ist das für eine Nummer? Da hab ich gesagt, das ist eure Schuld. Dann fragts nicht." Zu Kindern hab ich das nicht gesagt. Wenn mich ein Kind gefragt hat, was für eine Nummer das ist, hab ich gesagt: Ach weißt du, ich bin so vergesslich, das ist meine Telefonnummer." "Und wenn Sie den Erwachsenen gesagt haben, das ist eure Schuld, wie haben die dann reagiert?" - "Ich hab damit nichts zu tun." - "Wie war das dann für Sie?" - "Alle hatten ja damit zu tun, wenn ein Volk was nicht will, dann passierts nicht. - Meistens sind sie abgehauen."

    Das Hörbuch "Wir sind da - Juden in Deutschland nach 1945" basiert auf der Rundfunkfassung einer gleichnamigen dreistündigen Fernsehdokumentation. Die wurde in Hörfunkformat gebracht und ergänzt um noch einmal zwei Stunden. Das war für den Autor Richard Chaim Schneider kein Problem, hatte er doch für die Fernsehserie sechs Jahre lang Interviews gemacht und insgesamt 450 Stunden Material gesammelt.

    Für mich war natürlich der spannendste Teil die Geschichte der Juden in der DDR, da ich selber ja ein Kind der Bundesrepublik bin, war dieser Blick hinüber über den Eisernen Vorhang, die Mauer, für mich eigentlich das Interessanteste, weil ich über diesen Teil der Geschichte der Juden nach dem Krieg selber relativ wenig wusste, weil wir auch wenig Kontakt hatten mit Juden drüben, wie man das früher nannte. Und das war für mich doch das faszinierendste und interessanteste Kapitel der jüdischen Geschichte nach dem Krieg, weil ich selber dadurch auch ganz viele neue Dinge erfahren habe, eine andere Form von Judentum auch kennengelernt habe, also Menschen, die mal überzeugte Kommunisten gewesen sind, etwas, das mir völlig fremd war aus meiner eigenen Biographie und auch aus den Biographien von meinen jüdischen Freunden um mich herum. Und das war für mich eigentlich der spannendste Teil der Arbeit.

    Bereits 1986 wurde in Ostberlin mit dem Wohlwollen der SED der jüdische Kulturverein gegründet. Ein Verein, der von Irene Runge geleitet wurde, einer STASI-Mitarbeiterin. Der Kulturverein kam dem Bedürfnis junger DDR-Juden entgegen, sich zunehmend mit ihrer Identität auseinanderzusetzen. Sie nannten ihre Gruppe 'Wir für uns'. Auch Eva Neumann, geborene Grünstein, war dabei. Ihr Vater, Herbert Grünstein, war stellvertretender Innenminister in der DDR gewesen und hatte seine Kinder in völligem Unwissen über ihre jüdische Herkunft erzogen. Erst mit 17 erfuhr Eva, dass sie Jüdin war. Als sie dann aber in den 80er Jahren Mitglied der jüdischen Gemeinde werden wollte, machte sie eine überraschende Entdeckung, nämlich: "Dass meine Eltern bereits Mitglied der jüdischen Gemeinde waren seit 1949 und wir 49 als Dreijährige auch eingeschrieben wurden, und es gibt keine Austrittsbescheinigung. Also wir waren praktisch immer Mitglied der jüdischen Gemeinde." - Wie erklärte sich die Tochter diese Schizophrenie der Eltern? "Das weiß ich nicht. Das war, ich glaube, das war auch eine Ideologie. Es war sehr konkret, glaube ich, Angst vor den Deutschen oder zumindestens ein Widerwillen gegen das deutsche Volk. Weil mein Vater hat sozusagen selber erlebt, wie er normal aufgewachsen ist, und plötzlich war er der Erzfeind als Jude. Dann kam seine politische Ideologie dazu als Kommunist. Dann kam die Erfahrung mit Spanien dazu, also die Verfolgung durch Stalin. Und dann war ein Stück Idee da, und das gehört sicherlich zu den Paradigmen dieser Zeit - das sind nicht Rassen, es gibt nicht Rassen, alle sind dieselben Menschen. Und da ist die Betonung darauf, Jude zu sein, was Gfährliches. Und das, würde ich schon sagen, grenzt auch an Antisemitismus.

    Nachdenkliche Töne aus dem Hörbuchkapitel 'Juden in der DDR'. Insgesamt könnte man sich allerdings fragen, ob dieses nicht doch zu sehr vom Westblick des Autors geprägt wurde. Andererseits lebt die Dokumentation ja gerade von der subjektiven Perspektive. Nicht umsonst hat sie in der Fernsehfassung gleich zwei Preise bekommen: Den Bayerischen Fernsehpreis 2000 und den Sonderpreis Civismedien 2000. Dieser Erfolg scheint inspirierend gewesen zu sein, denn Richard Chaim Schneider arbeitet bereits an einem nächsten Projekt:

    Ich mache gerade eine Nachfolgeserie, die ist gerade in Planung, die also ähnlich wieder konzipiert sein wird wie 'Wir sind da', also zunächst einmal als Fernsehserie, parallel aber auch als Hörfunkfassung und einem Buch, der Arbeitstitel ist: 'Das Salz in der Suppe', und diesmal geht es um Juden im deutschen Kultur- und Geistesleben nach 45.

    Helga Guthmann über das Hörbuch von Richard Chaim Schneider: "Wir sind da - Juden in Deutschland nach 1945", Der Hörverlag München. 5 CDs zum Preis von ca. DM 99,90.