Wenn Evelyn Hofer die Metropolen dieser Welt fotografiert, dann porträtiert sie in erster Linie die Menschen, die dort leben: einen Straßenkehrer in Florenz, Spaziergänger in London, zwei Polizisten in New York, einen Geschäftsmann in Paris oder Totengräber in Dublin. Meist in Schwarz-Weiß, manchmal in Farbe. Immer klassisch in Szene gesetzt. Die Bilder sind sorgfältig recherchiert, bis zum kleinsten Ausschnitt geplant und arrangiert, sie funktionieren als eine Art Milieu-Studie. Kuratorin Sabine Schmid:
"Ein Satz von ihr war immer: ‚Der Teufel steckt im Detail'. Wichtig war es ihr, die vielen Details zu erfassen, die ja auch sehr viel erzählen. Beispielsweise ein Porträt von zwei Dienstmädchen, ‚Anna und Emma' - wenn man sich die Details in der Schürze, die Falten, die Schuhe, die Spitzenkrägen anschaut, erzählt das unglaublich viel über das ältere und das jüngere Dienstmädchen und wo sie stehen."
Hauptsächlich Auftragsarbeiten
Es ist ein zutiefst humanes, durchaus abwechslungsreiches, mitunter idealistisches Gesamtwerk, das die Fotografin in mehr als einem halben Jahrhundert erschaffen hat. Fast alle Aufnahmen entstanden als Auftragsarbeit für Verlage und Zeitschriften, entsprechend hat sich Hofer selbst nie als Künstlerin gesehen. Ihre ersten großen Projekte sind eben jene Stadtporträts, bei denen sie die Stadtbewohner ins Zentrum rückt.
"Und das waren Aufträge, die gibt es heute in der Fotolandschaft in dieser Form nicht mehr: Evelyn Hofer ist dann für längere Zeit zum Beispiel nach London gezogen, hat sich eine Wohnung gemietet, eine Dunkelkammer eingerichtet; ist durch die Stadt spaziert, hat sich überlegt, was ist eigentlich London, hat recherchiert, erste Motive entdeckt; und hat dann erst relativ spät zu ihrer Kamera gegriffen, um zu fotografieren."
Hofer fotografierte mit einer Vier-mal-fünf-Inch-Plattenkamera, einem großen Gerät, das nur mit Stativ zu bedienen ist - und dementsprechend keine Schnappschüsse erlaubt.
"Sie hat sich viel Zeit genommen und wenn sie Menschen auf der Straße porträtiert hat, ist sie auf die Menschen zugegangen, hat gefragt, ob sie sie porträtieren darf, hat ihre Kamera aufgebaut, und dann ist im Dialog mit dem Porträtierten die Fotografie überhaupt erst entstanden."
Im Laufe der 70er-Jahre beginnt Hofer, Personen des öffentlichen Lebens zu porträtieren: Saul Steinberg, Andy Warhol, Ted Kennedy oder Sir Alec Guinness. Sie hat jetzt einen Namen, fotografiert für Lifestyle-Magazine wie "Vogue" oder "Vanity Fair" genauso wie für das nachrichtliche "New York Times Magazine".
Fotoessays mit respektvollem Blick
So entstehen auch Fotoessays, unter anderem zur Watergate-Affäre, dem Alltag in britischen Gefängnissen oder Paaren am New Yorker Standesamt. Hofers Blick ist dabei nicht voyeuristisch, bleibt respektvoll und damit immer auch ein wenig distanziert. Eine politische Fotografin ist sie nicht. Während sich die amerikanische Fotografie in den 80er-Jahren mehr und mehr sozialkritischen Themen zuwendet und den Motiven dabei oft unerträglich nahe kommt, bleibt Hofer ihrem Stil treu. Sie fotografiert nun Interieurs, ist auch in München in der Villa Stuck zu Gast oder rekonstruiert die längst vergangene Bildungsreise des amerikanischen Schriftstellers Ralph Waldo Emerson in Italien, wobei sie alle Zeichen der Zeit und plötzlich auch die Menschen aus den Fotos verbannt.
In einer achtteiligen Stillebenserie vollendet Hofer schließlich dieses Prinzip der absoluten Ruhe - auch ästhetisch:
"Wenn man die Fotos sieht, denkt man im ersten Moment, dass es ein fotorealistisches Gemälde ist; im zweiten Moment erschließt sich dann, dass wir vor einer Fotografie stehen. Also hier wird tatsächlich die Grenze zwischen Fotografie und Malerei durchbrochen."
Spätestens das Spätwerk rechtfertigt also die Präsentation im musealen Kontext. Die Retrospektive in der Villa Stuck- die erste überhaupt zu Hofers Werk: Sie ist gut strukturiert, sie ist aufschlussreich, und sie zeigt eben nicht nur eine handwerklich perfekt arbeitende Fotografin, sondern, mehr noch, deren Reifung zur autonomen Künstlerin.