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Hoffnungen und Enttäuschungen

Ob in Jugoslawien, Ruanda, Irak, Iran oder jetzt im Nahen Osten - kein politischer Konflikt, in den die Vereinten Nationen nicht in irgendeiner Weise involviert sind. Dabei wird die Weltorganisation gerne in Grund und Boden kritisiert. Die UNO hat versagt, heißt ein beliebter Kommentar, wenn es irgendwo auf diesem Globus brennt und die organisierte Weltgemeinschaft nicht sofort für Abhilfe sorgt. Mit Idee und Wirklichkeit dieser so gefragten wie geschmähten Vereinten Nationen befasst sich eine Studie von Gerd Hankel.

Von Horst Meier |
    Es gibt zwei Arten, eine Institution wie die Vereinten Nationen in Verruf zu bringen. Die einen träumen von Völkergemeinschaft und Weltfrieden und sehen mit dem Fortschreiten der Menschheit so etwas wie einen Weltstaat heraufdämmern. Die anderen halten den feierlichen Proklamationen die ernüchternde Realität entgegen, rechnen die bescheidenen Erfolge der UNO gegen ihre desaströsen Fehlschläge auf und folgern aus dieser vereinten Hilflosigkeit, dass, sollte es darauf ankommen, einzig und allein die Macht von souveränen Staaten zähle.

    Globale Schwärmerei oder nationalstaatlicher Pessimismus - es ist gar nicht leicht auszumachen, welche Haltung für die UNO schädlicher ist. Klar ist nur, dass weder das Pathos der Völkergemeinschaft noch ein Zynismus, der UN als "United Nothing" buchstabiert, weiterhelfen. Es ist daher ein großer Vorzug des Buches von Gerd Hankel, dass er "Idee und Wirklichkeit" der UNO durchgehend nüchtern bilanziert:

    Ganz gleich, welcher Sichtweise man zuneigt, fest steht, dass die UNO existiert und auf absehbare Zeit weiterhin existieren wird. Dass sie oft ein widersprüchliches Bild bietet und für beinahe jede Projektion taugt, liegt zweifelsohne an ihrem Tun oder Unterlassen, das jedoch allzu oft nur das Tun oder Unterlassen von Staaten verdeckt. (...) Gegen den Willen von Staaten kann die UNO nur wenig oder gar nichts bewirken.
    Dass die "Organisation der Vereinten Nationen" aus derzeit 192 Staaten besteht, macht die Sache nicht leichter. Was sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gegenläufiger Interessen bringen lässt, ist oft genug erbärmlich wenig. Hinzu kommt, dass die Mitgliedstaaten nur formal gleich und souverän sind. Die USA zum Beispiel, erinnert Hankel, zahlen 22 Prozent des UN-Haushaltes. Drohungen mit Geldentzug bringen die UNO, die keine Schulden aufnehmen darf, an den Rand der Zahlungsunfähigkeit.

    Der Band skizziert in sechs kurzen Kapiteln die Geschichte und Entwicklung des Völkerrechts und der Vereinten Nationen. Es werden zwar auch Probleme der Weltwirtschaft angeschnitten, aber der eigentliche Schwerpunkt gilt den Menschenrechten und ihrer Durchsetzung. Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von 1948, aber auch die "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords" und die Konvention gegen Folter sind Meilensteine. Sie markieren völkerrechtliche Mindestgarantien. Hinzu kommt seit 2003 der Internationale Strafgerichtshof. All das darf man mit dem Autor einen Fortschritt nennen, auch wenn die Jahresberichte von amnesty international jeden Optimismus dämpfen.

    Während "das Erreichte" auf sicherem Grund zu bilanzieren ist, bleiben Mutmaßungen über das "derzeit Erreichbare" - wie Hankel formuliert - naturgemäß Spekulation. Die Handlungsfähigkeit der UNO ist nach wie vor nur schwach entwickelt. Weil der Einfluss der Großmächte auf den Sicherheitsrat in der UN-Charta von 1945 als Vetorecht festgeschrieben wurde, kommt es bekanntlich immer wieder zu Blockaden. Bislang sind Reformversuche gescheitert, zuletzt beim Weltgipfel im September 2005. Hankel resümiert:

    (Beim Vetorecht) reichen die Vorschläge von der Abschaffung oder Einschränkung des Vetos über die Einführung einer Begründungspflicht bis hin zum Erfordernis eines doppelten Vetos (das heißt, dass mindestens zwei Staaten gleichzeitig Veto einlegen müssen).
    Mit der Frage der bewaffneten Intervention spricht der Autor das brisanteste Problem des gegenwärtigen Völkerrechts an. Die Souveränität aller Staaten - einerlei ob Demokratie oder Diktatur - und das Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen sind Grundpfeiler der UN-Charta. Doch kann die vorbehaltlose Anerkennung der Souveränität haarsträubende Verbrechen decken. Hankel stellt für die Entwicklung der Menschenrechte treffend fest:

    Der markanteste Fortschritt der letzten fünfzig Jahre (ist) wohl darin zu sehen, dass die staatliche Souveränität nicht länger als Schutzschild für die gewalttätige Willkür von Staatsorganen missbraucht werden kann.
    Zugleich warnt Hankel aber davor, umstandslos militärische Gewalt zu rechtfertigen. Das kann man nur unterstreichen. Denn gut gemeinte Forderungen, die Menschenrechte durch Interventionen zu schützen, laden zum Bruch des Völkerrechts ein. Wie zuletzt der Kosovokrieg und die Invasion des Irak zeigten, sind von den USA angeführte Koalitionen mächtig genug, auch ohne Mandat des Sicherheitsrats gewaltsam zu intervenieren.

    Eine UN-Kommission, referiert Hankel, hat vier Kriterien vorgeschlagen, die eine humanitäre Intervention rechtfertigen können:

    Das erste Kriterium ist die rechte Absicht (sie muss sich auf ein humanitäres Ziel beziehen). Die Intervention muss, zweitens, das letzte Mittel sein (ist also erst dann gerechtfertigt, wenn) andere, nichtmilitärische Maßnahmen keine Aussicht auf Erfolg haben. Dabei dürfen, drittens, die militärischen Aktionen nicht das Maß überschreiten, das für die Wiederherstellung menschenrechtlicher Sicherheit notwendig ist; sie müssen also verhältnismäßig sein. Außerdem müssen sie, viertens, hinreichende Aussicht bieten, dass die Folgen der Intervention nicht schlimmer sind als die der Nichtintervention.

    Dass solche Kriterien im Einzelfall überaus interpretationsfähig sind, ist offenkundig. Zudem werden nicht nur humanitäre Interventionen, sondern auch solche diskutiert, die auf einen Regimewechsel oder die Nichtverbreitung von Massenvernichtungswaffen abzielen. Mit dem Atomprogramm des iranischen Mullahregimes kommt ein neuer gefährlicher Konflikt auf den Sicherheitsrat zu.

    Ein schmaler Band mit etwas mehr als hundert Seiten kann nicht ausführlich sein wie eine Monographie, nicht systematisch wie ein Handbuch. Er hat aber die Freiheiten des Essays, zu denen die "kleine reihe" des Verlags einlädt. Schade, dass Gerd Hankel davon so wenig Gebrauch macht, die Zuspitzung und die Freude am Widerspruch blitzen nur selten auf. Trotzdem: Seine Bilanz der UNO ist eine gute Einführung für alle, die sich auf die Hoffnungen und Enttäuschungen einlassen wollen, die das Völkerrecht bietet.

    Gerd Hankel: Die UNO. Idee und Wirklichkeit
    Hamburger Edition 2006, 127 Seiten, Euro 12