Die beiden tunesischen Autoren Sihem Bensedrine und Omar Mestiri ziehen nun, nach zehn Jahren, eine ernüchternde Bilanz. Der Barcelona-Prozess, so ihre Analyse, hat totalitäre Strukturen nicht aufgeweicht, sondern die Macht der Diktatoren gefestigt.
Die Folgen werden Europa wie ein Bumerang treffen.(...) Je länger Autokraten an der Macht sind, die ihr Volk zutiefst verachten, wächst in Algerien, Marokko und Libyen die Frustration. Während Europa die Zuwanderung eindämmen möchte, hat die Jugend im Maghreb mehrheitlich nur ein Ziel, nämlich auszuwandern.
Als Beispiel für die ihrer Meinung nach höchst kontraproduktive Außenpolitik der EU nehmen die beiden Tunesier sich einen der beliebtesten Glaubenssätze des "alten Europa" vor. Der lautet: Die Wirtschaft in den Maghrebländern muss privatisiert werden, dann öffnet und liberalisiert sich die Gesellschaft quasi automatisch. Die Autoren halten diese These für falsch. Wenn in den Maghrebstaaten Staatsbesitz verkauft werde, dann wandere er in der Regel nicht in die Hände der privater Unternehmer, sondern in diejenigen der Machthaber und ihrer Freunde.
Sihem Bensedrine:
"Die privaten Unternehmer sehen sich in den Maghrebländern oft mit den Oppositionellen und den Dissidenten in einen Topf geworfen, denn der Staat will sein Monopol nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft aufrechterhalten. Wenn beispielsweise ein Geschäftsmann eine Firma gründen möchte, in Tunesien, Algerien oder Marokko, dann ist er gezwungen, sich zuerst einem der regierenden Clans zu unterwerfen. Andernfalls hat er keine Chance auf dem Markt, sonst werden die Clans seinen Betrieb vernichten, mit steuerlichen Sanktionen etwa: Die werden in diesen Ländern nicht zur Regulierung benutzt, sondern zur Repression: Entweder machst du, was wir wollen oder wir schalten dich aus."
Wie das geschieht, schildern die Autoren anhand diverser Fälle, die zunächst trocken erscheinen, sich beim Lesen aber spannend entwickeln. Etwa, wenn es um die tunesische Verpackungsfirma Cofisac geht. Cofisac wollte konkurrenzfähig bleiben und tauschte ihren langjährigen Grundstoff Jute gegen Polypropylen. Dabei profitierte die Firma von Fördergeldern der EU. Mit dem neuen Grundstoff bestens für den Markt gerüstet, bot Cofisac seine Säcke in Tunesien zur Abfüllung von Zement an. Das Auftragsbuch füllte sich schnell, die Säcke waren nämlich gut und billig. Doch unerwartet schaltete sich jetzt die staatliche Normbehörde ein und weigerte sich, das Material freizugeben – "aus Umweltgründen", wie es hieß. Tatsächlich hatte die Cofisac nicht gegen Umweltauflagen verstoßen, sondern das Monopol eines Geschäftsmannes aus dem Umfeld der Familie von Staatspräsident Ben Ali verletzt. Ihre Produkte wurden für den tunesischen Markt gesperrt. Eines von vielen Beispielen.
Als größten Fehlschlag der europäischen Mittelmeerpolitik beschreiben die Autoren den Fall Algerien, ein Land das sich in den 90er Jahren für viele Europäer zum Inbegriff der islamistischen Bedrohung entwickelte. Durch Untersuchungen verschiedener Nichtregierungsorganisationen und Zeugenaussagen aus den Reihen des algerischen Militärs lässt sich inzwischen nachweisen, dass der Großteil der angeblich islamistischen Gewalt der 90er Jahre vom algerischen Militärgeheimdienst selbst inszeniert wurde. Mit anderen Worten: Die langjährige korrupte Generalsclique, die das Land in 30 Jahren ausgebeutet und ruiniert hat, war seit 1989 am Ende. Hilfe aus dem Ostblock war nicht mehr zu erwarten. In dieser Lage wollten sich die Generäle dem Westen gegenüber als wichtige Partner darstellen. Und dazu brauchten sie die Bedrohung durch den Extremismus.
Sihem Bensedrine:
"Die verschiedenen europäischen Gremien haben alle nötigen Berichte darüber erhalten, verfasst von glaubwürdigen internationalen Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, der internationalen Menschenrechtsvereinigung und lokaler Menschenrechtsorganisationen. Darüber hinaus haben regierungsgestützte europäische Institutionen ihre eigenen Berichte veröffentlicht. Die EU hat Untersuchungskommissionen nach Algerien entsandt. Sie hat alle nötigen Informationen. Alles liegt auf dem Tisch. Dennoch wird der algerische Präsident Bouteflika heute hofiert. Man unterstützt alle seine Vorhaben, und niemand fragt sich, was das für die Zukunft Algeriens bedeutet."
Nicht immer, so meinen die Autoren, seien Geschäftsinteressen oder eine falsch definierte Stabilität die Motoren der verfehlten EU-Außenpolitik. Oft mangele es den Entscheidungsträgern an Kenntnis. Das gelte insbesondere für Deutschland. Die Autoren stellen einen eindrucksvollen Vergleich an. Während der deutsche Wetterdienst 2400 Mitarbeite beschäftigt, hat das dem Auswärtigen Amt unterstellte Deutsche Orient Institut gerade mal über vier fest angestellte Forscher. Und das in einer Zeit, da die islamische Welt, wie kaum zuvor im Focus ist.
Sihem Bensedrine:
"Die Werkzeuge, über die die deutsche Außenpolitik verfügt, stehen in keinem Verhältnis zu Deutschlands außenpolitischen Ambitionen. Wenn man Anspruch auf einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat erhebt – und Deutschland ist eine Macht, der dieser Anspruch zusteht – dann wird man sich erst bewusst, wie schlecht das Land dafür gerüstet ist. Um eine kluge Außenpolitik zu führen, muss man zuallererst die Faktenlage kennen, muss die betreffenden Dossiers verinnerlicht haben. Aber in den Think Tanks, mit denen das Auswärtige Amt zusammenarbeitet, sitzen zum Teil Leute, die in den Ländern, über die sie informieren sollen, persönliche Interessen verfolgen. Infolgedessen informieren sie nicht unparteiisch, sie modifizieren die Informationen im Sinne einer bestimmten Regierung oder Gruppe. Das verstellt den unvoreingenommenen Blick auf einen Staat."
Das deutsche Orient-Institut etwa hat jahrelang Berichte über das Saddam-Regime herausgegeben, die sich schönfärberisch erwiesen haben, die zu Investitionen anreizten, Informationen über Terror und Folterungen hingegen aussparten. Das Vakuum, das das Auswärtige Amt durch das Outsourcing von Fachkompetenz herstellt, wird bereitwillig durch Interessengruppen gefüllt: etwa vom "Afrikaverein", oder dem "Nah- und Mittelostverein" – Lobbys, die, um Menschenrechte unbekümmert, Beziehungen zwischen den Potentaten und der deutschen Wirtschaft anbahnen. Sihem Bensedrine und Omar Mestiri warnen vor dieser Entwicklung. Wenn das so weitergehe, dies das Fazit ihres Buches, dann werde genau das eintreten, was die Europäer verhindern wollen: Noch mehr Jugendliche würden aus Verzweiflung in den Extremismus abwandern - oder auf die andere Seite des Mittelmeeres.
Sihem Bensedrine und Omar Mestiri: "Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt"
Erschienen im Verlag Antje Kunstmann
199 Seiten, 16,90 Euro
Die Folgen werden Europa wie ein Bumerang treffen.(...) Je länger Autokraten an der Macht sind, die ihr Volk zutiefst verachten, wächst in Algerien, Marokko und Libyen die Frustration. Während Europa die Zuwanderung eindämmen möchte, hat die Jugend im Maghreb mehrheitlich nur ein Ziel, nämlich auszuwandern.
Als Beispiel für die ihrer Meinung nach höchst kontraproduktive Außenpolitik der EU nehmen die beiden Tunesier sich einen der beliebtesten Glaubenssätze des "alten Europa" vor. Der lautet: Die Wirtschaft in den Maghrebländern muss privatisiert werden, dann öffnet und liberalisiert sich die Gesellschaft quasi automatisch. Die Autoren halten diese These für falsch. Wenn in den Maghrebstaaten Staatsbesitz verkauft werde, dann wandere er in der Regel nicht in die Hände der privater Unternehmer, sondern in diejenigen der Machthaber und ihrer Freunde.
Sihem Bensedrine:
"Die privaten Unternehmer sehen sich in den Maghrebländern oft mit den Oppositionellen und den Dissidenten in einen Topf geworfen, denn der Staat will sein Monopol nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft aufrechterhalten. Wenn beispielsweise ein Geschäftsmann eine Firma gründen möchte, in Tunesien, Algerien oder Marokko, dann ist er gezwungen, sich zuerst einem der regierenden Clans zu unterwerfen. Andernfalls hat er keine Chance auf dem Markt, sonst werden die Clans seinen Betrieb vernichten, mit steuerlichen Sanktionen etwa: Die werden in diesen Ländern nicht zur Regulierung benutzt, sondern zur Repression: Entweder machst du, was wir wollen oder wir schalten dich aus."
Wie das geschieht, schildern die Autoren anhand diverser Fälle, die zunächst trocken erscheinen, sich beim Lesen aber spannend entwickeln. Etwa, wenn es um die tunesische Verpackungsfirma Cofisac geht. Cofisac wollte konkurrenzfähig bleiben und tauschte ihren langjährigen Grundstoff Jute gegen Polypropylen. Dabei profitierte die Firma von Fördergeldern der EU. Mit dem neuen Grundstoff bestens für den Markt gerüstet, bot Cofisac seine Säcke in Tunesien zur Abfüllung von Zement an. Das Auftragsbuch füllte sich schnell, die Säcke waren nämlich gut und billig. Doch unerwartet schaltete sich jetzt die staatliche Normbehörde ein und weigerte sich, das Material freizugeben – "aus Umweltgründen", wie es hieß. Tatsächlich hatte die Cofisac nicht gegen Umweltauflagen verstoßen, sondern das Monopol eines Geschäftsmannes aus dem Umfeld der Familie von Staatspräsident Ben Ali verletzt. Ihre Produkte wurden für den tunesischen Markt gesperrt. Eines von vielen Beispielen.
Als größten Fehlschlag der europäischen Mittelmeerpolitik beschreiben die Autoren den Fall Algerien, ein Land das sich in den 90er Jahren für viele Europäer zum Inbegriff der islamistischen Bedrohung entwickelte. Durch Untersuchungen verschiedener Nichtregierungsorganisationen und Zeugenaussagen aus den Reihen des algerischen Militärs lässt sich inzwischen nachweisen, dass der Großteil der angeblich islamistischen Gewalt der 90er Jahre vom algerischen Militärgeheimdienst selbst inszeniert wurde. Mit anderen Worten: Die langjährige korrupte Generalsclique, die das Land in 30 Jahren ausgebeutet und ruiniert hat, war seit 1989 am Ende. Hilfe aus dem Ostblock war nicht mehr zu erwarten. In dieser Lage wollten sich die Generäle dem Westen gegenüber als wichtige Partner darstellen. Und dazu brauchten sie die Bedrohung durch den Extremismus.
Sihem Bensedrine:
"Die verschiedenen europäischen Gremien haben alle nötigen Berichte darüber erhalten, verfasst von glaubwürdigen internationalen Organisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch, der internationalen Menschenrechtsvereinigung und lokaler Menschenrechtsorganisationen. Darüber hinaus haben regierungsgestützte europäische Institutionen ihre eigenen Berichte veröffentlicht. Die EU hat Untersuchungskommissionen nach Algerien entsandt. Sie hat alle nötigen Informationen. Alles liegt auf dem Tisch. Dennoch wird der algerische Präsident Bouteflika heute hofiert. Man unterstützt alle seine Vorhaben, und niemand fragt sich, was das für die Zukunft Algeriens bedeutet."
Nicht immer, so meinen die Autoren, seien Geschäftsinteressen oder eine falsch definierte Stabilität die Motoren der verfehlten EU-Außenpolitik. Oft mangele es den Entscheidungsträgern an Kenntnis. Das gelte insbesondere für Deutschland. Die Autoren stellen einen eindrucksvollen Vergleich an. Während der deutsche Wetterdienst 2400 Mitarbeite beschäftigt, hat das dem Auswärtigen Amt unterstellte Deutsche Orient Institut gerade mal über vier fest angestellte Forscher. Und das in einer Zeit, da die islamische Welt, wie kaum zuvor im Focus ist.
Sihem Bensedrine:
"Die Werkzeuge, über die die deutsche Außenpolitik verfügt, stehen in keinem Verhältnis zu Deutschlands außenpolitischen Ambitionen. Wenn man Anspruch auf einen Sitz im UNO-Sicherheitsrat erhebt – und Deutschland ist eine Macht, der dieser Anspruch zusteht – dann wird man sich erst bewusst, wie schlecht das Land dafür gerüstet ist. Um eine kluge Außenpolitik zu führen, muss man zuallererst die Faktenlage kennen, muss die betreffenden Dossiers verinnerlicht haben. Aber in den Think Tanks, mit denen das Auswärtige Amt zusammenarbeitet, sitzen zum Teil Leute, die in den Ländern, über die sie informieren sollen, persönliche Interessen verfolgen. Infolgedessen informieren sie nicht unparteiisch, sie modifizieren die Informationen im Sinne einer bestimmten Regierung oder Gruppe. Das verstellt den unvoreingenommenen Blick auf einen Staat."
Das deutsche Orient-Institut etwa hat jahrelang Berichte über das Saddam-Regime herausgegeben, die sich schönfärberisch erwiesen haben, die zu Investitionen anreizten, Informationen über Terror und Folterungen hingegen aussparten. Das Vakuum, das das Auswärtige Amt durch das Outsourcing von Fachkompetenz herstellt, wird bereitwillig durch Interessengruppen gefüllt: etwa vom "Afrikaverein", oder dem "Nah- und Mittelostverein" – Lobbys, die, um Menschenrechte unbekümmert, Beziehungen zwischen den Potentaten und der deutschen Wirtschaft anbahnen. Sihem Bensedrine und Omar Mestiri warnen vor dieser Entwicklung. Wenn das so weitergehe, dies das Fazit ihres Buches, dann werde genau das eintreten, was die Europäer verhindern wollen: Noch mehr Jugendliche würden aus Verzweiflung in den Extremismus abwandern - oder auf die andere Seite des Mittelmeeres.
Sihem Bensedrine und Omar Mestiri: "Despoten vor Europas Haustür. Warum der Sicherheitswahn den Extremismus schürt"
Erschienen im Verlag Antje Kunstmann
199 Seiten, 16,90 Euro