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Hohe Dunkelziffer bei Korruptionsfällen

Hans-Joachim Wiese: Der christdemokratische deutsche Europaabgeordnete Elmar Brok hat gestern Verständnis dafür gezeigt, dass in den EU-Beitrittsländern Korruption herrscht, und zwar wegen den besonderen Verhältnissen dort. So gäbe es zum Beispiel Mängel bei der Verwaltung und bei den Gerichten. Außerdem förderten die niedrigen Gehälter die Korruption. Hätte Herr Brok seinen Blick mal lieber nicht so weit schweifen lassen, sondern sich in heimatlichen Gefilden umgeschaut, denn auch in Deutschland blühen Korruption und Bestechung, wie der Fall des Präsidenten von 1860 München Karl-Heinz Wildmoser gerade anschaulich zeigt. Am Telefon begrüße ich Christian Bommarius. Er ist Redakteur bei der Berliner Zeitung und hat ein Buch mit dem schönen und aufschlussreichen Titel "Wir kriminellen Deutschen" geschrieben. Herr Bommarius, ist der Fall Wildmoser nur die Spitze eines Eisbergs?

Moderation: Hans-Joachim Wiese |
    Christian Bommarius: Das ist wohl sicher. Also solche Fälle gibt es häufig, sie gibt es täglich, nur eben hören wir davon relativ selten, also circa 3.000 Mal jährlich von größeren oder auch etwas kleineren Fällen. Der Fall Wildmoser ist so ein Fall in der mittleren Liga, nichts Großartiges. Was ihn von anderen Fällen unterscheidet, ist nur, dass man Herrn Wildmoser kennt.

    Wiese: Wenn die Korruption in Deutschland derartig verbreitet ist, wie Sie sagen, welchen volkswirtschaftlichen Schaden richtet sie dann an?

    Bommarius: Das weiß man nicht sicher. Was Sie gerade sagten, Korruption blühe, ist wohl war. Vor allem blüht sie auch im Dunkelfeld, das heißt, eigentlich wissen wir nichts. Weder wissen wir von der Tatenanzahl pro Jahr – man geht davon aus, dass das nicht etwa nur diese 3.000 sind, von denen wir hören, sondern circa 60.000 – noch wissen wir Genaueres über die Schadenshöhe. Man geht mittlerweile sicher davon aus, dass es sich um eine zweistellige Milliardensumme handelt.

    Wiese: Das ist ja auffällig, dass relativ wenig Aufhebens von dieser Unmenge an Korruptionsfällen gemacht wird. Deutschland gilt ja sogar im Gegenteil als weithin sauberes Land, verglichen etwa mit Italien. Woran liegt das denn?

    Bommarius: Also dass Deutschland als ein weithin sauberes Land gilt, das ist schon lange nicht mehr so. Transparency International weist eigentlich darauf hin, dass wir in dieser internationalen Korruptionsskala immer weiter vorrücken, das heißt einen vorderen Platz haben oder einen, wenn man so will, unteren Platz in Sachen Ehrlichkeit. Ich nehme mal an, da nun Fachleute seit Jahren darauf hinweisen, dass Korruption in Deutschland zunimmt, und zwar flächendeckend, aber Maßnahmen dagegen weitgehend ausbleiben, dass es durchaus Interessen gibt, dem nicht weiter nachzusteigen. Es ist auch sehr viel interessanter und sorgt auch für sehr viel größeres Aufsehen, wenn man wieder einmal Jagd macht auf Ladendiebe, Graffiti-Sprayer und dergleichen. Das fällt auf, sorgt für öffentliche Wirkung. Korruption ist schlecht fassbar und macht auch meistens wenige Schlagzeilen.

    Wiese: Welche Interessen meinen Sie? Gibt es so etwas wie organisierte Korruption hierzulande?

    Bommarius: Organisiert, das ist sie natürlich immer. Korruption funktioniert nur, wenn sie gut organisiert ist. Was es hier vor allem gibt, ist einfach Filz. Filz ist noch nicht Korruption, aber doch deren Grundlage, und Filz, das kennen wir überall. In München hatten wir das schon häufiger. Herr Beckstein sagte zwar gestern, Korruption habe für ihn immer noch südamerikanische Exotik, aber da liest er doch eigentlich wenig Zeitung. Denken Sie an Köln, denken Sie an den Frankfurter Flughafenbau. Das sind ja nun alles Fälle, von denen wir auch täglich oder wöchentlich lesen. Interessant ist eigentlich nur, dass wir relativ wenig davon lesen, denn gerade in der deutschen Baubranche gibt es in der Regel Korruption und als Ausnahme die Ehrlichkeit.

    Wiese: Wir lesen wenig davon und offensichtlich wird auch wenig von den Strafverfolgungsbehörden dazu getan, diese Korruption effektiv zu bekämpfen. Was für Gründe hat das denn?

    Bommarius: Die Gründe dürften doch etwas tiefer liegen. Ich sagte gerade, Filz, und der Filz ist die Ursache dafür, dass die Maßnahmen bisher relativ zahm sind. Das heißt also, personell gibt es da eine relativ schlechte Ausstattung in der deutschen Strafjustiz zur Aufklärung dieser Fälle. Aber auch sonst fehlt es an Maßnahmen. Denken Sie beispielsweise daran, dass es nur in vier Bundesländern Schwerpunktstaatsanwaltschaften gibt, in allen übrigen, also in zwölfen gibt es so etwas nicht, und das zeugt schon davon, dass es doch eine Dämpfung gibt, dass die öffentliche Hand oder, sagen wir, die gerade auf der kommunalen Ebene führenden Leute wenig Interesse daran haben, dass auch ihre Verfilzung aufdeckt wird.

    Wiese: Gibt es so etwas wie politische Korruption?

    Bommarius: Also gerade wenn es um öffentliche Bauaufträge geht, funktioniert es ja nur, wenn Politik ein Wörtchen mitzureden hat, überhaupt ein bisschen mit kassiert. Also Köln war nun der klassische Fall, also der Fall Trienekens, die Müllverbrennungsanlage, das war ja nun ein Musterbeispiel für die Kooperation von Müllwirtschaft und Politik.

    Wiese: Korruption und Betrügereien sind – das sagten Sie ja auch – nicht nur Großkriminellen vorbehalten. Es gibt da Hunderttausende Fälle von zum Beispiel Versicherungsbetrügereien. Der Deutsche als solcher hält sich aber für einen Saubermann.

    Bommarius: Ja, das geht eigentlich nur – es machen ja nicht nur Deutsche, ich denke, Briten und Italiener werden es nicht anders sehen -, wenn man stets auf den anderen schielt. Also die Angst vor Kriminalität hat ihre Ursache darin, dass man sie an sich selbst nicht wahrnimmt. Es gibt praktisch keinen Deutschen, der sich nicht schon mal in irgendeiner Weise strafbar gemacht hätte. In Deutschland ist ja selbst schon Schwarzfahren strafbar. Jeder, der schwarzfährt, ist also strafbar. Dass die Strafe meistens ausbleibt, ist eine andere Frage. Nur weil sie ausbleibt, ist man noch längst nicht ein redlicher Mensch. Das Gleiche gilt für den Ladendiebstahl. Die Polizei hört davon circa 500.000 Mal jährlich, und das BKA schätzt, dass wir fünf oder sechs Millionen Ladendiebe pro Jahr haben, und zwar wechselnd und durch alle Schichten hindurch. Also man kann schon davon ausgehen, dass die Treue und Redlichkeit, die die Deutschen üben, doch eher eine Übung ist, aber es fällt dann doch an der Praxis.